Leitsatz (amtlich)
Ein vertriebener Verfolgter iS von WGSVG § 20 braucht dem deutschen Sprach und Kulturkreis beim Verlassen des Vertreibungsgebiets nicht mehr anzugehören, wenn er sich wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgewandt hatte.
Normenkette
FRG § 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25, § 15 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25; WGSVG § 20 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.01.1976; Aktenzeichen L 5 A 1/75) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 16.10.1974; Aktenzeichen S 6 A 81/73) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 16. Oktober 1974 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 1973 geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, bei der Witwenrente der Klägerin die Zeiten von Januar 1931 bis August 1939 und von Oktober 1945 bis April 1948 als Beitragszeiten und die Zeit von September 1939 bis April 1945 als Ersatzzeit anzurechnen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin bezieht als Witwe des Versicherten Leopold I (L.) Hinterbliebenenrente aus den ab April 1954 zur deutschen Angestelltenversicherung entrichteten Beiträgen (Bescheid vom 6. Februar 1973). Sie erstrebt die Anrechnung weiterer Zeiten.
L. hatte - als tschechoslowakischer Staatsangehöriger - von Januar 1931 bis August 1939 sowie von Oktober 1945 bis April 1948 Beiträge zur tschechoslowakischen Versicherung (Pensionsanstalt in Prag) entrichtet; von September 1939 bis April 1945 war er in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Nach der Befreiung hatte er zunächst in Wiesbaden gewohnt; dann war er in die Tschechoslowakei zurückgekehrt, im August 1948 wieder nach Deutschland gekommen, 1949 nach Frankreich übergesiedelt und ab 1954 erneut in der Bundesrepublik Deutschland. Hier wurden er und die Klägerin, die 1949 die Ehe geschlossen hatten, als ausländische Flüchtlinge anerkannt. L. war Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG); er hatte eine Entschädigung für Freiheitsentziehung sowie wegen Schadens an Körper und Gesundheit bezogen.
Das Begehren, auch die tschechoslowakischen Beitragszeiten und die Haftzeit für die Hinterbliebenenrente anzurechnen, blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Koblenz vom 16. Oktober 1974 und des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1976). Das LSG hat ausgeführt: Da weder L. noch die Klägerin zu den Gruppen des § 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) gehörten, könne Rechtsgrundlage für den Anspruch nur § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) i.V.m. § 4 Abs. 4 BEG sein. Danach stünden den anerkannten Vertriebenen vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deshalb nicht als Vertriebene anerkannt seien oder werden könnten, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt hätten, wenn sich ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk darauf gründe, daß sie dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hätten. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür sei das Verlassen des Vertreibungsgebietes. L. habe dem deutschen Sprach- und Kulturkreis beim Verlassen der CSSR im Jahre 1948 nicht mehr angehört. Er habe sich 1939 wegen der gegen ihn ergriffenen Gewaltmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgewandt und nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft betont, tschechoslowakischer Staatsangehöriger tschechischen Volkstums zu sein. Daß er vor der Verfolgung dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugehört habe und seine Verfolgung Ursache der Abwendung gewesen sei, rechtfertige es nicht, ausnahmsweise vom Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets abzuweichen; denn zu dieser Zeit habe es für L. keine nationalsozialistische Verfolgung mehr gegeben. Hiernach könnten weder die tschechoslowakischen Beitragszeiten noch - mangels Vor- oder Anschlußversicherung im Sinne von § 28 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - die KZ-Haft als Ersatzzeit angerechnet werden.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides zu verurteilen, die tschechoslowakischen Beitragszeiten und die Zeit der KZ-Haft rentensteigernd zu berücksichtigen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügt fehlerhafte Anwendung des § 20 WGSVG i.V.m. § 4 Abs. 4 BEG. Bei vertriebenen Verfolgten sei für die Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum maßgeblich der Beginn der Verfolgung; dies sei ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet; die streitigen Zeiten sind bei ihrer Witwenrente rentensteigernd zu berücksichtigen.
Zwar hat weder der Versicherte L. zu einer der in § 1 Buchst. a - d FRG genannten Gruppen gehört noch ergibt der vom LSG festgestellte Sachverhalt einen Anhalt für eine Zugehörigkeit der Klägerin zu einer dieser Gruppen. Nach § 20 WGSVG war L. jedoch einem anerkannten Vertriebenen im Sinne des § 1 Buchst. a FRG gleichgestellt. Infolgedessen sind seine tschechoslowakischen Beitragszeiten (§ 15 Abs. 1 FRG) und demzufolge auch die Zeit der KZ-Haft als Ersatzzeit (§ 28 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 AVG) anzurechnen.
Nach § 20 WGSVG (in der hier anzuwendenden, bis Juli 1977 geltenden Fassung, s. Art. 3 § 6 des 20. Rentenanpassungsgesetzes vom 27. Juni 1977 - BGBl I 1040 -) stehen bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen i.S. des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben, falls sie hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 BEG erfüllen, d.h. dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. Diese Versicherten müssen mithin sowohl Verfolgte als auch vertrieben sein; ersetzbar durch die - minderen - Anforderungen des § 4 Abs. 4 BEG sind nur die Anforderungen, die § 6 BVFG an den Begriff des "deutschen Volkszugehörigen" stellt. Während § 6 BVFG ein - durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigtes - Bekenntnis zum deutschen Volkstum fordert, genügt für die Anwendung des § 20 WGSVG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis; dabei wird nicht zusätzlich ein "Bekenntnis" zu diesem Sprach- und Kulturkreis verlangt.
In der Person von L. waren diese von § 20 WGSVG für die Anwendung des FRG vorgeschriebenen Merkmale vorhanden. Er war (anerkannter) Verfolgter und aus der Tschechoslowakei i.S. des BVFG "vertrieben"; er hätte, worüber der Senat in eigener Zuständigkeit entscheiden kann (vgl. SozR 5070 § 20 Nr. 1), bei Erfüllung der - engeren - Voraussetzungen des § 6 BVFG als Vertriebener anerkannt werden müssen.
Da L. die Tschechoslowakei 1948 endgültig verlassen hat, ist der Vertreibungstatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVG (i.d.F. des Gesetzes vom 3. September 1971 - BGBl I 1566 -) gegeben; L. ist nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen aus einem "Kollektivvertreibungsgebiet" ausgesiedelt. Die Ausnahme in dem 2. Halbsatz der Nr. 3 greift nicht ein. Sie betrifft Personen, die, "ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet haben". Hiernach ist es unschädlich, daß L. sich nach dem 8. Mai 1945 wieder in die Tschechoslowakei begeben hatte. Abgesehen davon, daß nicht festgestellt ist, er habe seinen ursprünglichen tschechoslowakischen Wohnsitz bis zur 1945 erfolgten Heimkehr aufgegeben gehabt, war er jedenfalls ohne vorherige Vertreibung noch vor dem hier genannten Stichtag des 31. März 1952 in die Tschechoslowakei zurückgegangen.
L. war auch deutscher Volkszugehöriger i.S. von § 20 WGSVG i.V.m. § 4 Abs. 4 BEG. Die Feststellungen des LSG reichen für die Annahme aus, daß er zumindest dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hatte; mehr ist nach dem Gesetz nicht erforderlich. Dabei kommt es für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis in erster Linie auf den Gebrauch der deutschen Sprache an (BGH in RzW 1970, 503, 504); ihrer hatte sich L. im Elternhaus, in den Schulen und auch danach im Beruf bedient.
Zwar hatte er sich später, nach den weiteren Feststellungen des LSG "jedenfalls im Zeitpunkt der Beendigung der KZ-Haft und danach bis zu seinem Tod", vom deutschen Sprach- und Kulturkreis bewußt abgewandt. Dieser Umstand macht den Anspruch der Klägerin jedoch nicht zunichte. Ist im Recht der Vertriebenen (und so auch der vertriebenen Verfolgten) maßgeblicher Zeitpunkt für die Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum auch der Zeitpunkt des endgültigen Verlassens des Vertreibungsgebiets - dies folgt aus § 1 Abs. 1 und 2 BVFG ("wer als deutscher ... Volkszugehöriger seinen Wohnsitz ... verlassen hat") und davon abgeleitet aus § 1 Buchst. a FRG sowie aus § 19 WGSVG in der bis Juli 1977 geltenden Fassung -, so ist damit nichts über die Zulässigkeit von Ausnahmen gesagt. Die Rechtsprechung hat solche bereits bejaht. Sowohl der BGH (RzW 1970, 503) als auch das BVerwG (BVerwGE 26, 344, 349; RzW 1969, 235; 1972, 158; 1975, 284) lasten für das Entschädigungsrecht sowie für das Vertriebenenrecht das Nichtvorliegen der deutschen Volkszugehörigkeit im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets nicht an, wenn der Verfolgte (Vertriebene) wegen der Verfolgungs- bzw. Vertreibungsmaßnahmen sich vom deutschen Volkstum abgekehrt hatte; sie lassen es in solchen Fällen jedenfalls genügen, wenn die Zugehörigkeit zum deutschen Volk bis zum Beginn der (individuellen oder allgemeinen) Verfolgung bzw. Vertreibung bestanden hatte. Der Senat sieht keinen Grund, diesen überzeugenden Gedankengängen im Rahmen des § 20 WGSVG nicht zu folgen. Die von dieser Vorschrift Betroffenen wären gleichermaßen überfordert gewesen, wenn sie trotz Verfolgungsmaßnahmen am deutschen Volkstum hätten festhalten müssen.
Von ihnen kann auch nicht verlangt werden, daß sie nach dem Ende der Verfolgung sich - hier: im Vertreibungsgebiet - dem deutschen Volkstum wieder zuwandten (BVerwG in RzW 1972, 158, 159). Das hat der BGH in dem am 25. März 1970 entschiedenen Fall (RzW 1970, 503, 504) entgegen der Meinung des LSG nicht verlangt. Soweit er (in RzW 1974, 39, 41) bei einem 1962 nach Deutschland gekommenen Spätaussiedler entschieden hat, dessen Entschädigungsberechtigung setze das Verlassen des Vertreibungsgebiets im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis voraus, lag der vorliegend nicht berührte § 150 BEG idF des BEG-Schlußgesetzes zugrunde, der (ab 1. Oktober 1953) die Entschädigungsberechtigung von der Vertriebeneneigenschaft gelöst hat. Wenn der Berechtigte, wie im vorliegenden Fall L., das Vertreibungsgebiet vor dem 1. Oktober 1953 endgültig verlassen hat, dann kommt es auch nach der Auffassung des BGH auf die für den Weggang tatsächlich maßgeblich gewesenen Gründe nicht an. Ob etwas anderes - allgemein oder wenigstens für die Zeit nach dem 1. Oktober 1953 - dann gilt, wenn "eindeutige Anhaltspunkte" dafür bestehen, daß das Vertreibungsgebiet "aus politischen Gründen oder wegen krimineller Delikte" verlassen worden ist (BVerwG, Buchholz, 412.3 § 1 BVFG Nr. 20), kann dahinstehen; denn in dem vom LSG festgestellten Sachverhalt finden sich jedenfalls keine Hinweise darauf, daß eindeutig solche Motive L. im Jahre 1948 zum Verlassen der Tschechoslowakei veranlaßt hätten.
Steht nach alledem die auf der Verfolgung beruhende endgültige Abkehr L.'s vom deutschen Sprach- und Kulturkreis der Vertriebeneneigenschaft im Sinne von § 20 WGSVG in der anzuwendenden Fassung nicht entgegen, so kann hieran auch die Neufassung dieser Vorschrift durch das 20. RAG vom 27. Juni 1977 nichts ändern. Zwar ist statt auf § 4 Abs. 4 BEG jetzt (entsprechend) auf § 19 Abs. 2 Buchst. a, 2. Halbsatz WGSVG abgehoben; dort genügt es für die deutsche Volkszugehörigkeit, wenn Vertriebene "im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets" dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. Damit sollte jedoch gleichfalls nicht gesagt werden, daß es nur auf diesen Zeitpunkt und auf keinen früheren ankommt; die Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergibt eine solche Schlußfolge nicht.
Die Kostenentscheidung, die auch für die Kosten des Beschwerdeverfahrens gilt, beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen