Entscheidungsstichwort (Thema)
Neufeststellung nach Inkrafttreten des SGB 10. Arbeitserlaubnis. betriebliche Anordnung. Betriebsweg
Orientierungssatz
1. Bei einem noch fortdauernden gerichtlichen Verfahren über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, ist seit dem Inkrafttreten des SGB 10 nicht mehr § 627 RVO aF, vielmehr § 44 SGB 10 anzuwenden (vgl BSG 1982-12-15 GS 2/80 = SozR 1300 § 44 Nr 3).
2. Nach § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 kommt es nicht mehr darauf an, ob der Sozialleistungsträger von der Unrichtigkeit seiner früheren, bindend gewordenen Entscheidung überzeugt ist oder als überzeugt gelten muß; es genügt vielmehr die "einfache Rechtswidrigkeit" des aufzuhebenden Bescheides (vgl BSG 1983-06-21 4 RJ 69/82 = SozR 2200 § 1251 Nr 102).
3. Ein ausländischer Arbeitnehmer steht auf dem auf betriebliche Anordnung unternommenen Weg zum Arbeitsamt, um die Verlängerung der Arbeitserlaubnis zu beantragen unter Unfallversicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 627 Fassung: 1963-04-30; SGB 10 § 44 Abs 1 S 1; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der im Jahre 1935 geborene Kläger ist jordanischer Staatsangehöriger, lebt seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland und besitzt seit 1977 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seit Februar 1974 war er bei der Firma K in H Verkäufer und Leiter der Elektroabteilung. Für diese Beschäftigung war ihm von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) eine bis zum 14. Februar 1978 befristete Arbeitserlaubnis erteilt worden. Nachdem der Ablauf der Arbeitserlaubnis im Betrieb festgestellt worden war, suchte der Kläger auf Weisung der im Auftrag der Arbeitgeberin handelnden Personalsachbearbeiterin H. am 21. Februar 1978 vormittags während der Arbeitszeit das Arbeitsamt H zur Abgabe des von H. ausgefüllten - auf den 10. Februar 1978 rückdatierten - Antrags auf (Verlängerung der) Arbeitserlaubnis auf. Bei einem Verkehrsunfall auf dem Rückweg zum Betrieb erlitt der Kläger Verletzungen, die zum Verlust seines rechten Auges führten.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da die Verlängerung der Arbeitserlaubnis grundsätzlich im Interesse des ausländischen Arbeitnehmers liege und daher dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnen sei (Bescheid vom 27. Juli 1978 und Widerspruchsbescheid vom 27. September 1978). Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Hamburg (SG) wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig ab (Urteil vom 8. April 1980). Einem im Berufungsverfahren geschlossenen Prozeßvergleich entsprechend erteilte die Beklagte am 4. Dezember 1980 unter Hinweis auf § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF einen weiteren Bescheid, in dem sie einen Entschädigungsanspruch wiederum ablehnte, da sie nach erneuter Prüfung von der Richtigkeit ihrer Entscheidung nur bestärkt worden sei. Im Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1981, zu dessen Erlaß sich die Beklagte durch einen weiteren, auf die vom Kläger erhobene Klage abgeschlossenen Vergleich vor dem SG am 19. Juni 1981 verpflichtet hatte, bekräftigte die Beklagte ihre Auffassung zusätzlich mit dem Hinweis darauf, daß das Bundessozialgericht (BSG) zu der streitigen Rechtsfrage auch inzwischen keine andere Auffassung vertreten habe (Hinweis auf § 48 Sozialgesetzbuch -SGB X-).
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das SG dem Antrag des Klägers entsprechend die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Dezember 1980 idF des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1981 verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 21. Februar 1978 dem Grunde nach Leistungen zu gewähren (Urteil vom 6. Januar 1982). Nach der Auffassung des SG hätte die Beklagte nach § 44 SGB X dem Kläger durch Neufeststellung Entschädigung gewähren müssen, weil sie bei der ursprünglichen Ablehnung der Leistung zu Unrecht davon ausgegangen sei, der Kläger habe keinen Arbeitsunfall (§ 548 RVO) erlitten. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG dahin geändert, daß die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen habe. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11. August 1982). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Das Begehren des Klägers auf Überprüfung des bindend gewordenen Bescheides vom 27. Juli 1978 sei noch nach § 627 RVO aF zu beurteilen (BSGE 51, 209). Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien gegeben, da die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides so offensichtlich sei, daß die Beklagte dies bei ihrer erneuten Prüfung hätte erkennen müssen und ihre gegenteilige Auffassung unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zu halten sei. Der Kläger habe sich zum Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg befunden, da er auf Weisung seiner Arbeitgeberin, die an der alsbaldigen Verlängerung der Arbeitserlaubnis ein betriebliches Interesse gehabt habe, zum Arbeitsamt gefahren sei. Dem stehe das eigene Interesse des Klägers an der Erlangung der Erlaubnis nicht entgegen. Zumindest habe es sich um eine gemischte Tätigkeit gehandelt, die wesentlich auch dem Betrieb gedient habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe zu Unrecht angenommen, sie hätte von der Unrichtigkeit ihres Bescheides überzeugt sein müssen (§ 627 RVO aF). Eine Entschädigung habe sie nach der Sach- und Rechtslage zutreffend abgelehnt. Wie die Beschaffung einer Aufenthaltserlaubnis sei auch die Erlangung und Verlängerung einer Arbeitserlaubnis eine dem persönlichen Lebensbereich des Ausländers zuzurechnende Verrichtung. Durch die Aufforderung des Unternehmers, dieser persönlichen Verpflichtung nachzukommen, werde ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht begründet, selbst wenn ein "gewisses" betriebliches Interesse an der Verlängerung der Arbeitserlaubnis bestehe und das zuständige Arbeitsamt während der Arbeitszeit unter Fortzahlung des Entgelts aufgesucht werde. Darüber hinaus sei der Kläger nicht einer Anordnung seiner Arbeitgeberin gefolgt, er habe vielmehr nur dem Hinweis entsprochen, seine persönliche Angelegenheit unverzüglich zu erledigen.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-)
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist das Begehren des Klägers, ihm die nach seiner Auffassung durch den Bescheid vom 27. Juli 1978 zu Unrecht versagte Entschädigung wegen der Folgen des am 21. Februar 1978 erlittenen Arbeitsunfalls zu gewähren.
Bei der rechtlichen Beurteilung ist das LSG anders als das SG von der mit Wirkung vom 1. Januar 1981 außer Kraft getretenen Vorschrift des § 627 RVO ausgegangen (s Art II §§ 4 Nr 1, 40 Abs 1 SGB X). Nach § 627 RVO aF hatte der Träger der Unfallversicherung eine Neufeststellung vorzunehmen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugte, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden war. Diese Vorschrift ist aber auf den vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden. Wie nach Erlaß des Urteils des LSG der Große Senat (GS) des BSG entschieden hat (Beschluß vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80 -), ist in den Fällen vorliegender Art wegen des noch fortdauernden gerichtlichen Verfahrens über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, seit dem Inkrafttreten des SGB X (1. Januar 1981, s Art II § 40 Abs 1 SGB X) vielmehr § 44 SGB X anzuwenden. Die Entscheidung des GS betraf zwar einen Streit um eine Witwenrente aus der Rentenversicherung der Angestellten, von § 44 SGB X werden aber alle Sozialleistungen (s §§ 11, 12 und 18 bis 29 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -SGB I-), mithin auc die hier streitigen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 22 SGB I) erfaßt. So hat auch der 5. Senat des BSG an seiner zur Unfallversicherung ergangenen Entscheidung vom 25. Februar 1981 (BSGE 51, 209), auf die sich das LSG gestützt hat, nicht mehr festgehalten, soweit seine dort vertretene Rechtsauffassung mit dem Beschluß des GS nicht vereinbar ist (Urteil vom 20. April 1983 - 5a RKnU 2/81 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit (s hierzu § 44 Abs 4 SGB X) ua zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Es kommt somit nicht mehr darauf an, ob der Sozialleistungsträger von der Unrichtigkeit seiner früheren, bindend gewordenen Entscheidung überzeugt ist oder als überzeugt gelten muß (§§ 627, 1300 RVO aF, § 79 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-, § 93 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-), wie der 4. Senat des BSG im Urteil vom 21. Juni 1983 (4 RJ 69/82, zur Veröffentlichung vorgesehen) näher dargelegt hat; es genügt vielmehr die "einfache Rechtswidrigkeit" (BSG aa0) des aufzuhebenden Bescheides. Die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil reichen aus, um eine Entscheidung unter den hier maßgebenden Voraussetzungen des § 44 Abs 1 SGB X zu treffen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht wirksam angegriffen (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG) und deshalb für das BSG bindend sind (§ 163 SGG), ist der als Verkäufer und Abteilungsleiter beschäftigt gewesene Kläger auf dem Rückweg zum Betrieb verunglückt, nachdem er auf Weisung der für seine Arbeitgeberin handelnden Personalsachbearbeiterin während der Arbeitszeit das Arbeitsamt zur Abgabe eines Antrages auf Verlängerung der Arbeitserlaubnis aufgesucht hatte.
Die Revision bewertet den Sachverhalt zwar teilweise anders als das LSG und bezweifelt, daß der Kläger aufgrund einer auch im betrieblichen Interesse an ihn ergangenen Aufforderung tätig geworden ist. Sie legt aber nicht dar, daß das LSG bei der Feststellung der Tatsachen die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG) überschritten hätte (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG). Bei der rechtlichen Beurteilung ist deshalb davon auszugehen, daß der Kläger mit dem Aufsuchen des Arbeitsamtes einer betrieblichen Weisung durch die Beauftragte seiner Arbeitgeberin entsprochen hat. Unter diesen Umständen haben das SG und das LSG zu Recht angenommen, daß sich der Kläger im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg - einem in Ausübung der versicherten Tätigkeit unternommenen und damit einen Teil der versicherten Tätigkeit bildenden Weg (s BSG Urteile vom 26. April 1973 - 2 RU 12/71 -, 11. Februar 1981 - 2 RU 87/79 - und 31. August 1983 - 2 RU 31/82 -, letzteres zur Veröffentlichung vorgesehen) - befunden und nach §§ 539 Abs 1 Nr 1, 548 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger als ausländischer Arbeitnehmer an der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis ähnlich wie an der Besorgung einer Aufenthaltserlaubnis (s BSGE 36, 222) ein erhebliches eigenes Interesse hatte. Daraus läßt sich nach dem festgestellten Sachverhalt nicht folgern, dem Kläger sei durch ein Entgegenkommen seiner Arbeitgeberin lediglich die Gelegenheit oder der Anstoß gegeben worden, während der Arbeitszeit eine wesentlich allein seinem privaten Lebensbereich zuzurechnende Angelegenheit zu regeln (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl S 480 t mN). Dem Kläger war eine betriebliche Anordnung erteilt worden, die er befolgt hat. Bei der Ausführung der Anordnung war der Kläger versichert, da er von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, daß die Tätigkeit geeignet sei, wesentlich - auch - den Interessen des Unternehmens zu dienen (s Brackmann aa0 S 480 q mN aus der Rechtsprechung und dem Schrifttum; s auch BSG Urteil vom 25. März 1964 - 2 RU 106/60 -, teilweise abgedruckt in BG 1965, 73, zum Versicherungsschutz auf dem Weg, den der Beschäftigte von der Arbeitsstätte aus auf betriebliche Anordnung unternommen hatte, um einen Augenarzt zur Besserung seiner Sehfähigkeit aufzusuchen; Podzum, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Auflage Kennzahl 090 S 4).
Die Auffassung des SG und des LSG, die Beklagte habe bei der Versagung einer Entschädigung des Klägers wegen der Folgen des Unfalls vom 21. Februar 1978 das Recht unrichtig angewandt (s § 44 Abs 1 SGB X), ist demnach zutreffend. Unerheblich ist demgegenüber, wie dargelegt, das Vorbringen der Revision, soweit es die nach dem hier nicht mehr anzuwendenden § 627 RVO aF erheblich gewesene Überzeugung des Versicherungsträgers von der Unrechtmäßigkeit der Rentenablehnung betrifft. Die Beklagte ist somit zur Zurücknahme ihres Bescheides vom 27. Juli 1978 verpflichtet (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Ihre Revision gegen das Urteil des LSG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen