Leitsatz (amtlich)
Kriegsgefangenschaft und Internierung - Besondere Verhältnisse bei der Kriegsmarine 1914 für höhere Dienstgrade?
Kriegsgefangenschaft und Internierung sind wesensverschieden. Kriegsgefangenschaft liegt vor, wenn jemand während seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes gerät, während Internierte zuvor keinem kriegführenden Verband angehören.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei der Kriegsmarine im Jahre 1914 für höhere Dienstgrade besondere Verhältnisse vorgelegen haben, die dazu zwingen könnten, einen Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes schon vor dem Zeitpunkt an als einen Angehörigen der aktiven Besatzung eines Kriegsschiffes anzusehen, von dem an er nach der Mobilmachungsorder bestimmte Aufgaben zu übernehmen hatte, ohne daß er diese Funktion bereits tatsächlich ausgeübt hat.
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 4 S. 3 Fassung: 1937-12-21
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 1957 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin ist die Witwe des nach der Revisionseinlegung verstorbenen Kapitäns F G.. Dieser bezog auf Grund des Bescheides der Beklagten vom 7. März 1955 Altersruhegeld; bei der Berechnung des Ruhegeldes berücksichtigte die Beklagte nicht rentensteigernd die Zeit von August 1914 bis Juni 1919, während der der Versicherte im ersten Weltkrieg von den Engländern in Südafrika festgehalten worden war. Gegen diesen Bescheid erhob der Versicherte Klage, mit der er für diese Zeit Steigerungsbeträge zu seiner Rente begehrte. Er trug vor, er sei zu Beginn des ersten Weltkrieges Vizesteuermann der Reserve und auf Grund einer Wehrpaßnotiz verpflichtet gewesen, sich am ersten Mobilmachungstage auf dem neu in Dienst zu stellenden Kreuzer "Y" zu melden; als er im August 1914 auf einer Fahrt mit dem Dampfer "R" von britischen Streitkräften aufgebracht worden sei, sei er wegen der Eintragung in seinem Wehrpaß als Kriegsgefangener festgehalten worden. Das Sozialgericht gab der Klage statt (Urteil vom 25.6.1957). Dagegen wies das Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 20. Dezember 1957 die Klage mit der Begründung ab, es könne dahinstehen, ob F G. von den Engländern als Kriegsgefangener behandelt worden sei, seine Gefangenschaft sei eine Internierung, aber keine Kriegsgefangenschaft gewesen, weil er nicht als Angehöriger eines militärischen Verbandes in die Gewalt des Feindes geraten sei; die Order, am ersten Mobilmachungstage auf dem Kreuzer "Y" Dienst zu leisten, sei kein Einberufungsbefehl gewesen und habe deshalb noch kein rechtliches und tatsächliches Gewaltunterwerfungsverhältnis zur Folge gehabt, wie es der Militärdienst verlange. - Das LSG. ließ die Revision zu.
Gegen das am 29. Januar 1958 zugestellte Urteil legte F G. am 25. Februar 1958 Revision ein und begründete das Rechtsmittel im gleichen Schriftsatz. Nach seinem Tode setzte die Klägerin, seine Witwe, das Verfahren fort (§ 65 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Die Revision rügte, das LSG. habe nicht berücksichtigt, daß der Versicherte auf dem Kreuzer "Y" für bestimmte Aufgaben fest eingeteilt und in der Mobilmachungsrolle aufgeführt worden sei; seine Mobilmachungsorder habe ihn mit Wirkung vom ersten Mobilmachungstag an zu einem Angehörigen der Besatzung dieses Kreuzers gemacht; hierüber hätte ein Marine-Sachverständiger gehört werden müssen.
Die Klägerin beantragte,
das Urteil des LSG. Hamburg vom 20. Dezember 1957 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Hamburg vom 25. Juni 1957 zurückzuweisen,
hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragte
Zurückweisung der Revision:
Die Kriegsgefangenschaft setze zuvor eine tatsächliche Eingliederung in einen militärischen Verband voraus; eine solche habe aber nicht vorgelegen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG. geht ohne Rechtsirrtum davon aus, die Zeit von August 1914 bis Juni 1919 sei nur dann rentensteigernd zu berücksichtigen, wenn F G. damals Kriegsgefangener und nicht Internierter gewesen sei. Wie der Senat in seinem Urteil vom 21. März 1956 (SozR. § 1268 RVO a. F. Bl. Aa 1 Nr. 2) ausgeführt hat, sind Kriegsgefangenschaft und Internierung wesensverschieden. Kriegsgefangenschaft liegt vor, wenn jemand während seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes gerät, während Internierte zuvor keinem kriegsführenden Verband angehören. Diese Unterscheidung stimmt mit den Grundsätzen des Völkerrechts überein. Dieses setzt für die Anerkennung einer Kriegsgefangenschaft die Zugehörigkeit zu einer militärischen Einheit zur Zeit der Gefangennahme voraus. Ob der Versicherte bei seiner Festnahme - wie die Klägerin geltend macht - schon Angehöriger der Kriegsmarine war, ist bisher nicht genügend geklärt. Er gehörte nach § 56 Nr. 1 des Reichsmilitärgesetzes zum Beurlaubtenstand. Nach § 38 B Nr. 1 dieses Gesetzes wird ein dem Beurlaubtenstande Angehörender von dem Tage an, zu welchem er einberufen ist, wieder Angehöriger der aktiven Streitkräfte. Der Senat hat in dem genannten Urteil angenommen, daß ein Wehrpflichtiger des Beurlaubtenstandes erst dann wieder Angehöriger einer militärischen Formation wird, wenn er ihr eingegliedert worden ist. Er hat deshalb auch in dem damals entschiedenen Fall die Gefangenschaft eines Reservisten, der auf dem Weg nach Deutschland war, um sich zur Erfüllung seiner Wehrpflicht zu melden, und der unterwegs von den Feindmächten festgenommen wurde, als eine Internierung und nicht als eine Kriegsgefangenschaft angesehen. Im vorliegenden Rechtsstreit wird jedoch geltend gemacht, der Versicherte sei mit Rücksicht auf seine besonderen Aufgaben als Patentinhaber und als Vizesteuermann der Reserve auf Grund der Eintragung in seinem Wehrpaß schon im Augenblick der Mobilmachung ein Angehöriger der Besatzung des Kreuzers "Y" geworden. Diesem Sachvortrag hätte das LSG. nachgehen müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei der Kriegsmarine im Jahre 1914 für höhere Dienstgrade besondere Verhältnisse vorgelegen haben, die dazu zwingen könnten, einen Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes schon von dem Zeitpunkt an als einen Angehörigen der aktiven Besatzung eines Kriegsschiffes anzusehen, von dem an er nach der Mobilmachungsorder bestimmte Aufgaben zu übernehmen hatte, ohne daß er - wie sonst erforderlich - diese Funktionen bereits tatsächlich ausgeübt hat.
Dies könnte vor allem für solche Wehrpflichtigen gelten, die - wie der Versicherte als Patentinhaber - für höher qualifizierte Aufgaben im Falle der Mobilmachung vorgesehen und eingeteilt und nicht ohne weiteres durch andere Angehörige der betreffenden Einheit zu ersetzen waren. Vor allem wäre dies denkbar, wenn, wie es behauptet wird, das betreffende Kriegsschiff erst bei der Mobilmachung mit einer neu einberufenen Mannschaft in Dienst gestellt werden sollte. Das LSG. hätte daher klären müssen, welchen Inhalt die Eintragung im Wehrpaß des Versicherten hatte und welche Bedeutung ihr bei der Mobilmachung zukam. Dabei hätte es zweckmäßigerweise einen Marine-Sachverständigen zuziehen sollen, der mit den Verhältnissen der Kriegsmarine zur Zeit der Mobilmachung im Jahre 1914 vertraut ist. Weil der Sachverhalt noch nicht vollständig geklärt ist, muß das Urteil aufgehoben und dem LSG. Gelegenheit gegeben werden, die fehlenden Ermittlungen nachzuholen.
Sollten die weiteren Ermittlungen ergeben, daß der Versicherte bei seiner Gefangennahme nicht in einem militärischen Verband eingegliedert und deshalb kein Angehöriger der Kriegsmarine war, so muß sich das LSG. auch mit der Frage auseinandersetzen, ob aus der Behandlung durch den Feind rechtliche Schlüsse gezogen werden können. Hierzu ist vorgetragen, der Versicherte sei wegen der Eintragung in seinem Wehrpaß in Südafrika als Kriegsgefangener behandelt und in ein Kriegsgefangenenlager verbracht worden, er sei auch nach einem Ausbruchsversuch - wie andere Kriegsgefangene und anders als Internierte - nicht bestraft worden. Der Senat vermag hierzu noch nicht Stellung zu nehmen, weil die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlen.
Bei der neuen Erörterung des Streitfalls wird das LSG. auch zu prüfen haben, ob der Versicherte bis August 1914 nur Beiträge zur Invalidenversicherung, wie es bisher angenommen hat, oder auch Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet hat. Beiträge zur Angestelltenversicherung in jener Zeit ergeben sich aus der Beitragsübersicht der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.
Der Rechtsstreit ist somit noch nicht zur Entscheidung reif; er war deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen