Leitsatz (amtlich)
Einer Rechtssache kommt jedenfalls dann keine grundsätzliche Bedeutung zu (SGG § 150 Nr 1), wenn der Versorgungsanspruch wegen offenbarer Fristversäumnis abgelehnt worden ist (BVG §§ 56, 57). Bei einem Übergangsfall nach SGG § 215 Abs 3 kann daher eine nach SGG § 148 Nr 1 unstatthafte Berufung nicht durch entsprechende Anwendung des SGG § 150 Nr 1 zulässig werden.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 215 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; BVG § 56 Fassung: 1950-12-20, § 57 Fassung: 1955-01-19
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 1. Dezember 1954 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der 1880 geborene Kläger war Teilnehmer des ersten Weltkriegs. Er beantragte am 9. März 1950 die Gewährung einer Rente nach dem KB-Leistungsgesetz für ... mit der Begründung, daß er 1915 bei einer Felddienstübung überfahren worden sei und dabei eine Verletzung der Brust- und Atmungsorgane erlitten habe. Nach einer Lazarettbehandlung von mehreren Monaten sei er wegen Untauglichkeit für den Felddienst zur Grenzpolizei nach ... versetzt und im Jahre 1918 entlassen worden. Seither habe er bei den geringsten Erkältungen den Arzt aufsuchen müssen. Trotz verschiedener Eingaben nach dem ersten Weltkrieg habe er keine Rente erhalten. Bis 1920 sei er auf privaten Arbeitsplätzen tätig gewesen. Nach einigen Jahren der Arbeitslosigkeit habe er dann im Februar 1934 auf Gesuch an den ... einen Arbeitsplatz unter Anrechnung auf einen halben Pflichtplatz erhalten.
II Die Landesversicherungsanstalt ... als seinerzeit für die Versorgung der Kriegsopfer zuständige Behörde lehnte den Antrag des Klägers auf KB-Rente mit Bescheid vom 20. Oktober 1950 ab, weil er die nach § 8 des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KB-Leistungsgesetz) vom 21. Januar 1947 maßgebliche Anmeldefrist versäumt habe. Für Ansprüche, die auf eine vor dem 1. September 1939 beendete Dienstleistung oder auf einen vor diesem Zeitpunkt eingetretenen schädigenden Vorgang gestützt würden, sei die letzte Anmeldefrist am 21. Januar 1949 abgelaufen.
Hiergegen legte der Kläger bei dem ... (Schriftsatz vom 12. November 1950) Berufung ein, die mit Vorentscheidung des Vorsitzenden der 6. Spruchkammer dieses Oberversicherungsamts vom 6. Oktober 1953 als unbegründet zurückgewiesen wurde.
III Gegen diese Vorentscheidung legte der Kläger weiterhin mit der Begründung, daß er noch immer an den Folgen der durch seinen Unfall im militärischen Dienst erlittenen Bronchialerkrankung leide, Rekurs ein (Schriftsatz vom 15. Oktober 1953) und beantragte,
das Urteil des ... vom 6. Oktober 1953 aufzuheben, seinen Bronchialkatarrh als Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer MdE. von 30 v. H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragte,
das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen.
Der zunächst beim Landesversicherungsamt ... rechtshängig gewesene Rekurs ging mit dem Inkrafttreten (1.1. 1954) des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gemäß § 215 Abs. 3 SGG auf das Landessozialgericht ... über. Dieses verwarf durch Urteil vom 1. Dezember 1954 das Rechtsmittel des Klägers als unzulässig. In der Entscheidung war ausgeführt, daß der Rekurs des Klägers zu einer Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz geworden und zufolge § 148 Nr. 1 dieses Gesetzes unzulässig sei, weil der Versorgungsantrag wegen Fristversäumnis abgelehnt worden sei. Das Landessozialgericht hat aber in seinem Urteil die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG ausdrücklich zugelassen, "weil es sich bei der Anwendung des neuen Verfahrensrechts um eine Entscheidung über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele".
IV Der Kläger hat gegen das ihm gemäß § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes am 29. Januar 1955 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 5. Februar 1955, beim Bundessozialgericht eingegangen am 7. Februar 1955, Revision eingelegt und mit Schriftsatz vom 14. Februar 1955, eingegangen am 16. Februar 1955, beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 1. Dezember 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Landessozialgericht zurückzuverweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung der Entscheidung des ... vom 6. Oktober 1953 den Bronchialkatarrh des Klägers als Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer MdE. von 30 v. H. zu gewähren.
Mit Schriftsatz vom 26. Februar 1955, eingegangen am 1. März 1955, begründete der Kläger die Revision dahingehend, daß nach den zur Zeit der Rekurseinlegung geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) sein Rechtsmittel zulässig gewesen sei. Ein einmal zulässig eingelegter Rekurs könne nicht beim Übergang in die Sozialgerichtsbarkeit als Berufung unzulässig werden, da die Zulässigkeit in einem solchen Fall nicht nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes zu beurteilen sei. Daher stehe § 148 Nr. 1 SGG seinem Anspruch nicht entgegen. Im übrigen sei aber die Berufung auch bei Anwendung des Sozialgerichtsgesetzes auf Grund von § 150 Nr. 3 SGG zulässig, weil der ursächliche Zusammenhang seiner Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu prüfen sei.
Der Beklagte hält die Auffassung des Vorderrichters über die Anwendung der Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes, insbesondere des § 148 Nr. 1, auf den als Berufung auf das Landessozialgericht übergegangenen Rekurs für zutreffend und macht geltend, durch Versäumnis der Anmeldefristen für den Versorgungsanspruch, die gemäß § 8 KBLG und § 56 BVG Ausschlußfristen seien, habe der Kläger seinen Rechtsverlust selbst verschuldet.
Der Beklagte hat daher beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
V Im übrigen wird zur Darstellung des Tatbestands auf den Bescheid der Landesversicherungsanstalt ... vom 20. Oktober 1950, die Vorentscheidung des Vorsitzenden der 6. Spruchkammer des ... vom 6. Oktober 1953 und das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 1. Dezember 1954, für das Vorbringen der Parteien im einzelnen auf die Schriftsätze des Klägers vom 3., 14. und 26. Februar 1955 sowie 24. August 1955 und auf den Schriftsatz des Beklagten vom 28. März 1955 Bezug genommen.
Dem Antrag des Klägers auf Bewilligung des Armenrechts vom 14. Februar 1955 wurde durch Beschluß des erkennenden Senats vom 24. Juni 1955 mangels Erfolgsaussicht nicht stattgegeben.
VI Die Revision des Klägers ist frist- und formgerecht eingelegt sowie begründet worden. Sie ist auch statthaft, weil das Landessozialgericht die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat.
Die Revision ist aber nicht begründet.
Zuzustimmen ist dem angefochtenen Urteil zunächst insoweit, als ausgeführt wurde, daß der vom Kläger gegen die Entscheidung des ... vom 6. Oktober 1953 beim Landesversicherungsamt eingelegte Rekurs nach den bis zum Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes geltenden Bestimmungen zulässig war (§§ 1699 ff. RVO i. V. mit § 33 Württ. - Bad. KB-Leistungsgesetz und § 84 Abs. 3 BVG).
Die beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes bei den Landesversicherungsämtern der Länder ... rechtshängigen Sachen gehen nach § 215 Abs. 3 SGG auf das zuständige Landessozialgericht über. Die Fragen, in welcher Rechtsmittelform dieser Übergang erfolgt und welche Vorschriften fortan maßgebend sind, hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. 8. Senat, Urteile vom 16.6.1955 - 8 RV 461/54 und vom 22.9.1955 - 8 RV 157/55; 9. Senat, Urteil vom 20.9.1955 - 9 RV 78/54 und 10. Senat, Urteil vom 20.10.1955 - 10 RV 15/54) dahin entschieden, daß der Rechtsstreit, mit dem das Landessozialgericht befaßt ist, grundsätzlich nur eine Berufung sein kann und daß für die als Berufungen übergegangenen Rechtsmittel danach ausschließlich die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes anwendbar sind (s. BSG 1 S. 64 ff. und die dortigen Zitate aus Rechtsprechung und Schrifttum). Der allgemeine Rechtsgrundsatz, daß bei einem Wechsel der Gesetzgebung im Laufe schwebender Verfahren anders als beim materiellen Recht ein neues Verfahrensrecht regelmäßig sofort nach seinem Inkrafttreten sowie für alle noch schwebenden Fälle wirksam und verbindlich wird, den bereits die grundsätzliche Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts vom 17.2.1921 (RVGer. 1 S. 266) anführt, war für diese Rechtsprechung entscheidend. Zu beachten ist außerdem aber, daß die Vorschriften der §§ 1699 ff. RVO mit Wirkung ab 1.1.1954 durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausdrücklich aufgehoben worden sind.
VII Zutreffend hat deshalb das Landessozialgericht auf den von Gesetzes wegen zu einer Berufung gewandelten Rekurs des Klägers die Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG angewendet.
Die Feststellungen, die das Berufungsgericht hinsichtlich der Versäumnis der Anmeldefristen nach § 8 Abs. 1 KBLG (§ 56 BVG) sowie darüber getroffen hat, daß zu Gunsten des Klägers die Fristerweiterungen nach § 9 KBLG (§ 57 BVG) nicht einschlagen, sind ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Lebenserfahrungen zustande gekommen; sie sind daher aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden und für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindend. Demzufolge ist auch der Entscheidung des Landessozialgerichts zuzustimmen, daß die Berufung des Klägers nach § 148 Nr. 1 SGG ausgeschlossen war, weil die Vorinstanz seinen Antrag allein wegen Fristversäumnis abgelehnt hatte.
Nachdem der Vorderrichter bezüglich des Versorgungsanspruchs des Klägers die wesentliche Anspruchsvoraussetzung der rechtzeitigen Anmeldung (§ 8 KBLG) verneint hatte, war er nicht mehr veranlaßt, in eine Prüfung über den kausalen Zusammenhang der behaupteten Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes einzutreten. Deswegen war die Berufung auch nicht nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig.
Schließlich war noch zu prüfen, ob das Landessozialgericht die Berufung des Klägers wie eine kraft Ausspruchs zugelassene Berufung hätte behandeln müssen. Das Bundessozialgericht hat nämlich in ständiger Rechtsprechung (zu vgl. 8. Senat, Urteil vom 16.6.1955 - 8 RV 461/54; 10. Senat, Urteil vom 20.10.1955 - 10 RV 15/54) entschieden, daß auch in den sogenannten "Übergangsfällen" des § 215 Abs. 3 SGG zu erwägen ist, ob die Berufung in entsprechender Anwendung des § 150 Nr. 1 SGG hätte zugelassen werden müssen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist nicht erkennbar, inwieweit das Landessozialgericht diese Prüfung durchgeführt hat. Jedoch hätte im vorliegenden Falle der Vorderrichter allein schon deshalb nicht dazu gelangen können, der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beizumessen, weil der Versorgungsanspruch wegen offenbarer Fristversäumnis (§§ 56, 57 BVG) abgelehnt worden ist. Anderweit sind Tatsachen oder Umstände, die für diese Streitsache grundsätzliche Bedeutung zu begründen vermöchten, nicht ersichtlich. Infolgedessen konnte die nach § 148 Nr. 1 SGG unstatthafte Berufung des Klägers auch nicht über § 150 Nr. 1 SGG zulässig werden. Sie ist zu Recht verworfen worden.
VII Nach alledem war die Revision des Klägers unbegründet; sie mußte daher gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückgewiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen