Leitsatz (amtlich)
1. AnVNG Art 2 § 17 schafft für die Hinterbliebenen keine günstigeren Ausnahmen zu AnVNG Art 2 § 6, als sie in AnVNG Art 2 § 10 für die Versicherten selbst vorgesehen sind.
2. AnVNG Art 2 § 10 regelt, soweit die Wartezeitfiktionen in Betracht kommen, die Ausnahmen von AnVNG Art 2 § 6 abschließend; die Fiktionen des AVG § 29 Nr 2 und Nr 3 gelten daher nicht für Versicherungsfälle, die vor dem 1957-01-01 eingetreten sind.
Normenkette
RVO § 1252 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23, Nr. 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 29 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23, Nr. 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 5 Fassung: 1957-02-23, § 10 Fassung: 1957-02-23, § 17 Fassung: 1957-02-23, § 6 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. November 1958 und des Sozialgerichts Münster vom 24. Mai 1957 werden aufgehoben; die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1954 wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerinnen begehren die Hinterbliebenenrenten aus der Versicherung ihres Ehemannes und Vaters, W H Dieser ist am 9. August 1945 an den Folgen von Verletzungen verstorben, die er bei einem Bandenüberfall auf dem Bauernhof seines Schwagers erlitten hat. Die Klägerinnen erhalten aus diesem Grunde eine Versorgungsrente.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab, weil für den Verstorbenen nur 24 Beitragsmonate nachgewiesen seien und die Wartezeit deshalb nicht erfüllt sei (Bescheid vom 15.9.1954). Das Sozialgericht Münster verurteilte die Beklagte, den Klägerinnen die Hinterbliebenenrenten vom 1. Januar 1957 an zu gewähren (Urteil vom 24.5.1957). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen wies die Berufung der Beklagten zurück: Die Wartezeit gelte nach Art. 2 § 17 Satz 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in Verbindung mit § 40 Abs. 2 und § 29 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) n. F. als erfüllt. Durch Art. 2 § 10 AnVNG, dessen Einschränkungen auch für die Rentenansprüche von Hinterbliebenen gälten, habe das Gesetz die Rückwirkung der Nrn. 2 und 3 des § 29 AVG auf die vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfälle nicht ausschließen wollen. Abs. 1 dieser Vorschrift führe diejenigen Fälle und Zeiten des § 29 AVG an, die für eine beschränkte rückwirkende Anwendung in Betracht kämen. Die Nrn. 2 und 3 des § 29 AVG seien nur deshalb nicht erwähnt, weil der Gesetzgeber die Rückwirkung dieser Bestimmungen auf frühere Versicherungsfälle aus dem Militärdienst (Nr. 2) und aus der unmittelbaren Kriegseinwirkung (Nr. 3) in den vorangegangenen Kriegen schon nach dem Wortlaut dieser Vorschrift als ausreichend erkennbar angesehen und ausdrückliche Rückwirkungsbestimmungen nicht mehr für erforderlich gehalten habe. Ein wichtiges Argument für diese Auffassung ergebe sich aus Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG. Diese Vorschrift enthalte für § 29 Nr. 5 AVG ebenfalls keine ausdrückliche Rückwirkung auf die vor dem 1. Januar 1957 liegenden Versicherungsfälle, sondern nur eine zeitliche Endbegrenzung der Tatbestandsmerkmale in zwei Alternativen. Würde man hier annehmen, daß das neue Recht nur für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1956 gelte, so würde die erste Alternative praktisch vielfach illusorisch sein und ließe sich kein Anwendungsfall für die zweite Alternative (Tod vor dem 10.8.1955) denken. Hier führten die Tatbestände der Internierung und Verschleppung von sich aus zu einer Abgrenzung der Versicherungsfälle, ebenso wie in den Fällen des § 29 Nrn. 2 und 3 AVG die Tatbestände des Militärdienstes und der Kriegseinwirkung. Durch die Neufassung des § 29 AVG habe der Gesetzgeber die Leistungsvoraussetzungen für alle Versicherungsfälle mit Wirkung vom 1. Januar 1957 an neu regeln wollen. Entgegen der Auffassung des Bundessozialgerichts müßten daher die Wartezeitfiktionen in § 29 Nrn. 2 und 3 AVG in den vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfällen für Ansprüche vom 1. Januar 1957 an angewendet werden. Da der Versicherte infolge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gestorben und zur Zeit seines Todes die Anwartschaft aus seinen AV-Beiträgen erhalten gewesen sei, müsse die Wartezeit als erfüllt gelten (Urteil vom 28.11.1958).
Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 31. März 1959 zugestellte Urteil am 18. April 1959 Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts die Klage abzuweisen.
Sie begründete die Revision - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 30. Juni 1959 - am 11. Juni 1959: Gerügt werde die fehlerhafte Anwendung des § 29 Nr. 3 AVG und des Art. 2 §§ 6 und 10 AnVNG. Die Wartezeitfiktion des § 29 Nr. 3 AVG gelte nicht für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind. In diesem Sinne habe das Bundessozialgericht schon wiederholt entschieden. Die Auslegung des Landessozialgerichts verkenne die Systematik des Übergangsrechts der Neuregelungsgesetze. Die Fälle des § 29 Nrn. 2 und 3 AVG seien nach der Regel des Art. 2 § 6 AnVNG zu behandeln, weil in den folgenden Vorschriften ausdrücklich nichts anderes bestimmt sei. Dieser zwingenden Auslegung stehe Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG nicht entgegen.
Die Klägerinnen waren im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Versicherungsfall (Tod des Versicherten), auf den die Klägerinnen den Anspruch auf die Hinterbliebenenrenten stützen, ist im August 1945 eingetreten. Nach § 40 Abs. 2 AVG, der hier anzuwenden ist (Art. 2 §§ 17 Satz 1 und 43 Satz 1 AnVNG), werden die Hinterbliebenenrenten gewährt, wenn für den Versicherten zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist oder die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt. Die erste Voraussetzung ist nicht gegeben; für den Versicherten sind nur 24 Beitragsmonate nachgewiesen. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt daher davon ab, ob die Wartezeit als erfüllt gilt. Das Landessozialgericht hat zugunsten der Klägerinnen die Vorschrift des § 29 Nr. 3 AVG angewandt. Danach gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte infolge unmittelbarer Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 BVG berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts ist diese Vorschrift aber nicht anzuwenden, wenn der Versicherungsfall - wie hier - vor dem Inkrafttreten des AnVNG eingetreten ist.
Wie der Senat bereits früher entschieden hat, können die Vergünstigungen der fiktiven Wartezeiterfüllung den Hinterbliebenen nicht in weiterem Umfang zugute kommen als den Versicherten selbst; die Vorschrift des § 29 AVG gilt daher auch in den von Art. 2 § 17 AnVNG erfaßten Fällen nur mit den sich aus Art. 2 § 10 AnVNG ergebenden Einschränkungen (Urteil vom 30.10.1958 - 1 RA 101/57 -; ebenso BSG. 7 S. 159). Hiervon ist auch das Landessozialgericht ausgegangen. Es nimmt jedoch an, in Art. 2 § 10 sei, soweit es sich um die Anwendung des § 29 (Nr. 2 und) Nr. 3 AVG handele, keine Einschränkung enthalten. Diese Auffassung trifft nicht zu; sie verkennt, wie die Beklagte mit Recht geltend macht, die Systematik, nach der das Übergangsrecht im AnVNG geordnet ist.
In der Sozialversicherung wird im allgemeinen jeder Sachverhalt nach dem Recht beurteilt, das zur Zeit des Eintritts der rechtserheblichen Tatsachen gilt. Neues Recht gilt daher regelmäßig nur für Ansprüche, die auf einem nach seinem Inkrafttreten eingetretenen Sachverhalt beruhen. Hat hingegen der Sachverhalt - wie hier der für die Rentenansprüche der Klägerinnen maßgebliche Tod des Versicherten (Versicherungsfall) - schon vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vollständig vorgelegen, so ist das neue Recht nur anzuwenden, soweit dies - insbesondere in sogenannten Übergangsvorschriften - besonders bestimmt ist. Von diesem Grundsatz geht auch das AnVNG aus. Es schreibt in seinem Art. 2 § 6 vor, daß für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes die bis dahin geltenden Vorschriften maßgebend sind, soweit in den folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Die Rückwirkung auf Altfälle muß danach in den §§ 7 ff. des Art. 2 ausdrücklich bestimmt sein, damit das neue Recht angewendet werden kann. Soweit dies nicht geschehen ist, sind in diesen Altfällen sämtliche für die Entstehung des Anspruchs rechtserheblichen Umstände nach dem bisherigen Recht zu beurteilen. Dieses System wird im AnVNG folgerichtig durchgeführt.
In Art. 2 § 10 AnVNG sind die Nrn. 2 und 3 des § 29 AVG nicht erwähnt. Dasselbe gilt für Art. 2 § 10 ArVNG hinsichtlich § 1252 Nrn. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Hieraus haben die Senate des Bundessozialgerichts in ständiger Rechtsprechung geschlossen, daß die betreffenden Wartezeitfiktionen nicht für Versicherungsfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten sind (BSG. 7 S. 159; SozR. Aa 1 Nr. 1 und Aa 5 Nr. 5 zu § 1263 a RVO a. F. und die Urteile vom 30.10.1958 - 1 RA 101/57 und 182/57 -). Hieran ist - in Übereinstimmung mit der Auffassung des 4. Senats (BSG. 10 S. 149) - auch nach neuer Prüfung festzuhalten.
Es ist zwar zuzugeben, daß der Gesetzgeber eine Lösung, wie sie dem Landessozialgericht vorschwebt - Anwendung der Nrn. 2 und 3 des § 29 AVG vom 1. Januar 1957 an auch in den sogenannten Altfällen - bei der Schaffung des AnVNG hätte verwirklichen können und daß für diese Lösung - gerade auch in Anbetracht des vorliegenden Streitfalls - Gründe angeführt werden können. Eine solche Lösung läßt sich aber aus dem Gesetz nicht entnehmen. Man kann nicht - wie es das Landessozialgericht tut - den in Art. 2 § 6 AnVNG aufgestellten Grundsatz einfach außer acht lassen und Art. 2 § 10 AnVNG nicht als Ausnahme zu dieser Vorschrift, sondern als Ausnahme zu § 29 AVG ansehen und den § 10 dahin auslegen, daß er in seinem Abs. 1 bestimme, in welchen Fällen dem § 29 AVG ausnahmsweise nur eine beschränkte Rückwirkung zukomme. Ebensowenig läßt sich mit dem Landessozialgericht aus "dem gesetzgeberischen Zweck" des § 29 AVG schließen, daß seine Vorschriften unter Nrn. 2, 3 auch für alte Versicherungsfälle gelten müßten und sich ihrem Wortlaut nach nur auf solche Versicherungsfälle bezögen, die mit den beiden Weltkriegen zusammenhingen. Da § 29 AVG nach Art. 2 § 6 AnVNG nur für neue Versicherungsfälle gilt, soweit in den darauf folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist, hätten auch die Vorschriften des § 29 Nrn. 2, 3 AVG dort ausdrücklich erwähnt werden müssen. Das ist nicht geschehen. Die Vorschriften des § 29 Nrn. 2, 3 AVG beschränken sich ihrem Wortlaut - und ihrem Sinnzusammenhang - nach auch keineswegs auf Tatbestände, die mit den beiden Weltkriegen zusammenhängen, wie das Landessozialgericht meint. So fällt z. B. unter § 29 Nr. 2 AVG jeder militärische Dienst im Sinne des § 2 BVG, d. h. jeder nach deutschem Wehrrecht - also nach dem seit der Reichsgründung im Jahre 1871 jeweils geltenden Wehrrecht - geleistete Dienst als Soldat oder Wehrmachtsbeamter (vgl. auch Abs. 1 Buchstaben b) bis d) der Verwaltungsvorschriften zu § 2 BVG). Die vom Landessozialgericht vertretene Auffassung führte daher dazu, daß zum Beispiel auch Versicherungsfälle, die während oder infolge des Dienstes im früheren Heer, in der früheren Marine oder der früheren Schutztruppe vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs eingetreten sind, nun ohne Rücksicht auf die Wartezeit zu Leistungen führten. Dasselbe müßte gelten, soweit nach dem Fremdrentengesetz Leistungen zu gewähren sind, wenn der Versicherungsfall während oder infolge der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes ohne zeitliche Begrenzung in der Vergangenheit eingetreten ist (§ 2 Abs. 2 BVG). Dafür, daß diese Folge beabsichtigt sei, läßt sich aber aus dem Gesetz nichts entnehmen.
Auch der Hinweis auf Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG kann die Auffassung des Landessozialgerichts nicht stützen. Diese Vorschrift ist mit vollem Recht nicht in Abs. 1 des § 10 aufgenommen worden, denn sie ist ihrem wesentlichen Inhalt nach keine Ausnahme zu Art. 2 § 6 AnVNG, sondern sie schränkt die Geltung des § 29 Nr. 5 AVG gerade für neue Versicherungsfälle ein; auch sie sind nur zu entschädigen, wenn der internierte oder verschleppte Versicherte vor dem 10. August 1955 seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet oder im Lande Berlin genommen hat. Die zweite Gruppe der in Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG geregelten Fälle - Tod vor dem 10. August 1955 - bezieht sich dagegen dem Wortlaut entsprechend nur auf alte Versicherungsfälle. Die sprachlich und systematisch nicht sehr glückliche Vorschrift des § 10 Abs. 2 AnVNG läßt sich sinnvoll nur dahin auslegen, daß sie als Ganzes für neue und für alte Versicherungsfälle gelten soll. Eine solche Auslegung führt auch zu einem praktisch brauchbaren und sinnvollen Ergebnis, weil sich aus § 1 des Heimkehrergesetzes, auf den § 29 Nr. 5 AVG verweist, ohne weiteres ergibt, daß nur Tatbestände erfaßt werden, die im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Aus Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG läßt sich aber nichts für eine Anwendung des § 29 Nrn. 2, 3 AVG auf alte Versicherungsfälle entnehmen. Diese Vorschriften sind im Gegensatz zu § 29 Nr. 5 AVG in den Übergangsvorschriften überhaupt nicht erwähnt und sie enthalten - wie oben dargelegt - in sich selbst auch keine so enge zeitliche Begrenzung für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte wie § 29 Nr. 5 AVG.
Die Darlegungen des Landessozialgerichts haben daher den Senat nicht zu überzeugen vermocht, daß die vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung vertretene Auslegung des Art. 2 §§ 6, 10, 17 AnVNG und der entsprechenden Vorschriften des ArVNG aufgegeben werden könne oder sogar aufgegeben werden müsse.
Weil § 29 Nr. 3 AVG, den das Landessozialgericht zugunsten der Klägerinnen berücksichtigt hat, hiernach nicht für Versicherungsfälle gilt, die vor dem Inkrafttreten des AnVNG eingetreten sind, kann die Wartezeit für die Hinterbliebenenrentenansprüche der Klägerinnen nicht nach dieser Vorschrift als erfüllt gelten. Da dies auch nicht nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht (§ 1263 a Abs. 1 Nr. 2 oder 3 RVO a. F., § 31 AVG a. F.) der Fall gewesen ist, steht den Klägerinnen ein Anspruch auf die Hinterbliebenenrenten nicht zu. Die von der gegenteiligen Annahme ausgehenden Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts müssen deshalb aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen