Leitsatz (amtlich)
Das Gutachten eines "Terminarztes" über das Vorliegen von Gesundheitsstörungen und über ihre Ursachen, das nur auf die Untersuchung während einer Gerichtsverhandlung gestützt ist und deshalb auch nur auf Untersuchungsmethoden beruht, als sie bei einer solchen Untersuchung sachlich, zeitlich und örtlich möglich sind, kann dem Gericht in der Regel jedenfalls dann kein überzeugendes Bild von dem Gesundheitszustand des Untersuchten vermitteln, wenn es nicht an Unterlagen über frühere eingehende Untersuchungen (Gutachten, Röntgenbilder, Krankenpapiere) anknüpft.
Normenkette
SGG § 128
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
I
Der Kläger bezog auf Grund eines Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA.) A vom 15. November 1939 wegen "Gesundheitsstörung nach Schußbruch des Schienbeinköpfchens des rechten Unterschenkels, Beugungsbehinderung im rechten Kniegelenk bis 120 Grad" eine Versorgungsrente nach dem Reichsversorgungsgesetz von monatlich 27,- RM. Im April 1947 beantragte der Kläger, ihm Rente nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) zu gewähren. Auf Grund der Nachuntersuchung des Klägers durch den Versorgungsarzt Dr. K in D vom 10. Juni 1952 erließ das VersorgA. L die Bescheide vom 24. und 25. Juni 1952; nach diesen Bescheiden erhielt der Kläger wegen "folgenlos verheiltem Schußbruch des Wadenbeinköpfchens rechts" nach dem Bayerischen KBLG und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 1. Februar 1947 bis 31. August 1952 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 30 v. H., für die Zeit nach dem 31. August 1952 wurde keine Rente mehr gewährt.
Die Berufung des Klägers (nach altem Recht), die sich gegen den Entzug der Rente ab 1. September 1952 richtete, wies das Oberversicherungsamt (OVA.) L nach Anhörung des Arztes Dr. I in der mündlichen Verhandlung durch Urteil vom 13. Juli 1953 zurück. Der Rekurs des Klägers zum Bayerischen Landesversicherungsamt (LVAmt) ging nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Das LSG. wies die Berufung durch Urteil vom 6. Dezember 1956 zurück: Die Nachuntersuchungen des Klägers durch den Versorgungsarzt in D und durch den Gerichtsarzt des OVA. hätten ergeben, daß nennenswerte gesundheitsschädliche Folgen seiner Kriegsverwundung nicht mehr vorlägen; die Rente stehe dem Kläger ab 1. September 1952 daher nicht mehr zu. Das LSG. ließ die Revision nicht zu. Das Urteil des LSG. wurde dem Kläger am 29. Januar 1957 zugestellt. Am 27. Februar 1957 beantragte er, ihm für die Revision das Armenrecht zu bewilligen. Mit Beschluß vom 7. August 1958 bewilligte das Bundessozialgericht (BSG.) das Armenrecht und ordnete dem Kläger den Rechtsanwalt I - dem der Beschluß am 14. August 1958 zugestellt wurde - als Prozeßbevollmächtigten bei. Dieser beantragte am 12. September 1958 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte Revision ein; er beantragte mit der Revision,
das Urteil des Bayerischen LSG. vom 6. Dezember 1956 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Gleichzeitig begründete er die Revision: Das LSG. habe den Sachverhalt nicht genügend geklärt und die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten; es habe somit gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verstoßen; das LSG. habe seine Feststellung, daß keine nennenswerten Verwundungsfolgen mehr vorhanden seien, auf eine unzureichende Beweisgrundlage gestützt; die Nachuntersuchung durch Dr. K die nur oberflächlich gewesen und nicht zu Ende geführt worden sei, und die kurze gutachtliche Äußerung des Dr. L im Termin vor dem OVA. hätten nicht ausgereicht; das LSG. habe ein eingehendes Gutachten auf Grund sorgfältiger klinischer Untersuchung und eines röntgenologischen Befundes beiziehen müssen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Beide Beteiligten beantragten, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
II
1. Die Voraussetzung für die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten (§§ 124 Abs. 2, 153, 165 SGG) - ist gegeben.
Die Revision ist zulässig. Der Kläger hat zwar die Revision nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt (§ 164 Abs. 1 SGG); er ist aber ohne Verschulden verhindert gewesen, diese Frist einzuhalten. Das Hindernis, das der rechtzeitigen Einlegung der Revision entgegen gestanden hat, hat in der Armut des Klägers gelegen. Mit der Bestellung des Armenanwalts und der Benachrichtigung des Klägers und des Armenanwalts hierüber ist dieses Hindernis weggefallen. Der Kläger hat rechtzeitig, d. h. innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses (§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG), Wiedereinsetzung beantragt, er hat auch gleichzeitig die versäumte Rechtshandlung, nämlich die Revision, in gehöriger Form nachgeholt (§ 67 Abs. 2 Satz 3 SGG). Es ist ihm daher wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung zu gewähren (§ 67 Abs. 1 SGG).
2. Die Revision ist auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG. hat festgestellt, daß bei dem Kläger nennenswerte gesundheitliche Folgen der Verwundung aus dem ersten Weltkrieg nicht mehr vorliegen. Es hat diese Feststellung auf das Gutachten des Versorgungsarztes Dr. K vom 10. Juni 1952 und auf die Äußerung des Gerichtsarztes des OVA. L, Dr. L vom 13. Juli 1953 gestützt. Diese Unterlagen hat das LSG. nicht als geeignet und ausreichend zur Ermittlung der rechtserheblichen Tatsachen ansehen dürfen. Dr. K hat zwar in seinem versorgungsärztlichen Gutachten angegeben, "von einer Versehrtheit des Klägers könne überhaupt keine Rede sein, seine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Schädigungsfolgen betrage O v. H."; er hat u. a. auch zum Ausdruck gebracht, daß eine echte Gelenkversteifung nicht vorliege und daß es sich bei dem Kläger um "einen schweren Psychopathen handele, der das rechte Kniegelenk in Zwangsstreckung halte"; seine Aufzeichnungen lassen jedoch erkennen, daß er die Untersuchung am 10. Juni 1952 - weil es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Kläger gekommen war - vorzeitig abgebrochen und nicht zu Ende geführt hat. Bei dieser Sachlage hat das LSG. nicht ohne weiteres davon ausgehen dürfen, daß sich der Arzt in seinem Gutachten überhaupt hat abschließend äußern wollen. Hiergegen spricht, daß es in dem Gutachten heißt: "Nach ganz oberflächlicher Besichtigung des rechten Beines kann ein pathologischer Befund nicht festgestellt werden"; ferner spricht dagegen, daß sich der Arzt veranlaßt gesehen hat, den Kläger nach der "abgebrochenen" Untersuchung noch durch seine Stenotypistin beobachten zu lassen, um festzustellen, ob er einen normalen Gang zeige, offenbar um sich zu bestätigen, daß der Kläger nicht behindert sei. Dr. K ist hiernach selbst davon ausgegangen, daß der medizinische Sachverhalt durch seine Untersuchung noch nicht abschließend geklärt ist. Sein Gutachten gibt auch keine Auskunft darüber, welche Untersuchungsmethoden - abgesehen von der oberflächlichen Besichtigung - angewandt worden sind, um objektive Befunde zu ermitteln. Es ist auch nicht erörtert worden, ob die Beschwerden in Beinen und im Kreuz und die Ermüdungserscheinungen, über die der Kläger geklagt hat, glaubhaft sind und ob sie, wie der Kläger meint, auf die Schußverletzung zurückzuführen sind. Diese Lücken in der Klarstellung des Krankheitsbildes und seiner Ursachen werden auch nicht durch die gutachtliche Äußerung des Gerichtsarztes Dr. I in der mündlichen Verhandlung vor dem OVA. geschlossen. Dieser Arzt hat sich im wesentlichen dem versorgungsärztlichen Gutachten angeschlossen; er hat den Kläger zwar in der mündlichen Verhandlung vor dem OVA. untersucht; er hat aber sein Gutachten nur auf eine verhältnismäßig kurze Anamnese und nur auf die Untersuchungsmethoden stützen können, die während einer Gerichtsverhandlung sachlich, zeitlich und örtlich möglich sind. Ein solches Gutachten hat kein überzeugendes Bild von dem Gesundheitszustand des Untersuchten vermitteln können; es hat nicht an Unterlagen über frühere eingehende Untersuchungen (Gutachten, Röntgenbilder, Krankenpapiere) angeknüpft; das versorgungsärztliche Gutachten, das der Gerichtsarzt geprüft hat, ist nicht das Ergebnis einer eingehenden Untersuchung gewesen; andere Unterlagen über frühere Untersuchungen haben ihm nicht vorgelegen. Das LSG. hat danach nicht überzeugt sein dürfen, daß nennenswerte Verwundungsfolgen bei dem Kläger nicht mehr vorliegen; es hat vielmehr prüfen müssen, ob Art und Umfang der ärztlichen Untersuchungen und Erhebungen eine ausreichende und geeignete Grundlage für die medizinische Beurteilung haben bieten können und ob nicht weitere Aufklärungsmöglichkeiten ausgenutzt werden müssen, um das Krankheitsbild klarzustellen und zu einer sicheren, jeden Zweifel ausschließenden medizinischen Beurteilung zu kommen. Das LSG. hat verkannt, daß eine ärztliche Untersuchung des Klägers, wie sie nach Lage der Sache, insbesondere mit Rücksicht auf die frühere Bewertung der anerkannten Schädigungsfolgen, geboten gewesen ist, nicht vorliegt, daß die Vorgeschichte nur unvollkommen wiedergegeben und ausgewertet worden ist, daß die Befunde nur lückenhaft dargelegt und gewürdigt worden sind, daß auch eine orientierende Röntgenuntersuchung - wie sie bei der Art der Verwundung und den behaupteten Beschwerden angebracht gewesen ist - gefehlt hat und schließlich, daß auch eine kritische ärztliche Stellungnahme zu den von dem Kläger geäußerten Beschwerden und ihren Ursachen nicht vorliegt. Das LSG. hat auch die ärztlichen Unterlagen, die durch den Betriebsunfall des Klägers vom August 1952 veranlaßt worden sind, nicht herangezogen und medizinisch ausgewertet; dabei ist es durchaus denkbar, daß sich aus diesen Unterlagen Aufschlüsse über den Gesundheitszustand des Klägers und etwaige krankhafte Befunde vor dem Unfall ergeben, und daß diese Aufschlüsse für die ärztliche Beurteilung der Frage, welche chirurgischen Befunde als Folgen der Verwundung zurückgeblieben sind und welche als Unfallfolgen hinzugetreten sind, bedeutsam sein können. Das LSG. ist hiernach der Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und das Gesamtergebnis des Verfahrens zu würdigen, nicht vollständig nachgekommen; es hat damit die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf den gerügten Mängeln in dem Verfahren des LSG.; es ist möglich, daß das LSG., wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig anwendet, zu einem anderen Ergebnis gelangt.
Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden; es sind noch weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich. Die Sache ist unter diesen Umständen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen