Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Entziehung der Rente bei fehlerhafter Anerkennung von Berufsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Die Entziehung einer Rente nach AVG § 63 Abs 1 S 1 (= RVO § 1286 Abs 1 S 1) setzt ua voraus, daß der Rentenempfänger früher berufsunfähig (erwerbsunfähig) gewesen ist. Deshalb darf das Landessozialgericht, wenn sich ihm in dieser Hinsicht Zweifel aufdrängen, diese Frage nicht ungeprüft lassen (Weiterführung BSG 1957-10-03 5 RKn 28/56 = BSGE 6, 25; Weiterführung BSG 1958-11-21 5 RKn 30/57 = BSGE 8, 241).
Leitsatz (redaktionell)
War der Rentner bei der Rentenbewilligung nicht berufsunfähig, ist ihm also die Rente früher zu Unrecht bewilligt worden, so kann ihm die Rente auch dann nicht nach AVG § 63 Abs 1 S 1 entzogen werden, wenn eine Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten ist und eine neuerliche Untersuchung ergibt, daß er nicht berufsunfähig ist.
Normenkette
AVG § 63 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Januar 1960 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beklagte hat dem Kläger die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung entzogen. Der Kläger begehrt die Weitergewährung der Rente. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob der Kläger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist (§ 63 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) erlernte der 1912 geborene Kläger das Schreinerhandwerk und war in diesem Beruf von 1928 bis 1939 beschäftigt. Anschließend war er Soldat. 1944 wurde er verwundet und ihm das linke Bein oberhalb des Knies amputiert. Von Dezember 1945 bis April 1951 bekleidete er das Amt eines kommissarischen Bürgermeisters einer kleinen Landgemeinde und war in der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) pflichtversichert.
Mit Bescheid vom 19. Oktober 1951 gewährte ihm die - damals zuständige - Beigeladene von Juni 1951 an das Ruhegeld aus der AnV mit den Leistungsanteilen aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV). Der Rentenbewilligung lag ein Gutachten des Obermedizinalrats Dr. F zugrunde. Der Gutachter hatte als körperliche Beeinträchtigung außer dem Beinverlust ermittelt: Magengeschwür, Taubheit des rechten Ohres, geringe Kropfbildung, niederen Blutdruck; außerdem hatte er eine Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) für möglich gehalten.
Seit Juli 1953 ist der Kläger als Bürohilfe in einer Maschinenfabrik ohne wesentliche Unterbrechungen durch Krankheit tätig. Mit Bescheid vom 13. April 1957 entzog die Beklagte die Rente zum 31. Mai 1957. Sie stützte sich dabei im wesentlichen auf ein Gutachten der Fachärzte Dr. W und Dr. F vom 27. Februar 1957. Darin ist ausgeführt, eine dauernde Besserung des Gesundheitszustandes sei hauptsächlich dadurch eingetreten, daß im Jahre 1954 der Magen operiert worden sei und nun bei Einhaltung von Diät keine größeren Beschwerden mehr zu erwarten seien; für eine Zuckerkrankheit sei kein Anhaltspunkt gegeben; allenfalls könne eine - die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigende - Diabetes renalis vorliegen; der niedere Blutdruck wirke sich zwar auf das Allgemeinbefinden aus, vermindere aber ebenfalls nicht die Arbeitsfähigkeit. Die Beklagte entnahm dem Gutachten die Auffassung, der Kläger sei wieder berufsfähig und könne Tätigkeiten im Sitzen ohne Unterbrechung ausüben.
Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos (Urteil des SG Reutlingen vom 6.2.1958 und Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26.1.1960). Das LSG hielt die Beseitigung des Magengeschwürs für eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung (§ 63 Abs. 1 AVG). Die Frage, ob eine Zuckerkrankheit zur Zeit der Rentengewährung vorgelegen habe und ob auch diese Krankheit gebessert worden sei, brauche daher nicht geprüft zu werden. Die weiteren Beschwerden hinderten den Kläger an der Berufsausübung nicht mehr als andere beinamputierte Versicherte, die trotz solcher zusätzlichen Beschwerden berufsfähig seien. Der Kläger habe sich durch seine fünfeinhalbjährige Tätigkeit als Bürgermeister ausreichende Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet, um als Angestellter im unteren oder mittleren Verwaltungsdienst tätig zu sein. Eine solche Beschäftigung sei ihm im Hinblick auf seinen beruflichen Werdegang zuzumuten. Da hiernach eine ins Gewicht fallende Änderung der Verhältnisse des Klägers eingetreten und er nicht mehr berufsunfähig sei, seien die gesetzlichen Voraussetzungen für die Rentenentziehung erfüllt; es brauche entgegen den Einwendungen des Klägers nicht geprüft zu werden, ob etwa bei der Rentengewährung im Jahre 1951 Berufsunfähigkeit tatsächlich bestanden habe oder nicht. Im Rentenentziehungsverfahren sei allein die Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides und nicht auch die Rechtmäßigkeit der früheren Rentenbewilligung zu prüfen. Der Umstand, daß möglicherweise die Voraussetzungen für die Annahme von Berufsunfähigkeit nach § 27 AVG aF bei der Gewährung des Ruhegeldes zu Unrecht bejaht worden seien, schließe beim Nachweis einer Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 63 Abs. 1 AVG die Rentenentziehung nicht aus. - Die Revision wurde zugelassen.
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Beklagte oder die Beigeladene zu verurteilen, ihm über den Entziehungszeitpunkt hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen. In der Begründung der Revision bezeichnete er das Gesetz in mehrfacher Hinsicht als verletzt. Er dürfe nicht auf den Beruf eines unteren oder mittleren Verwaltungsangestellten verwiesen werden. Das LSG hätte wenigstens Berufsunfähigkeit im Rahmen der ArV annehmen müssen. Auch habe das LSG zu Unrecht eine wesentliche Änderung der Verhältnisse lediglich wegen der Beseitigung des Magengeschwürs angenommen. In Wirklichkeit habe sich der Gesundheitszustand seit der Rentengewährung verschlechtert. Eine Besserung könne auch deshalb nicht festgestellt werden, weil ihn schon das Gutachten, das zur Rentengewährung führte, für fähig gehalten habe, Arbeiten im Sitzen zu verrichten.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragten, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Auffassung des LSG, daß die Rente des Klägers zu Recht entzogen worden sei, gibt zu Bedenken Anlaß.
Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG, der nach Art. 2 §§ 23, 28 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in Verbindung mit § 87 AVG auch auf vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze bewilligte Gesamtrenten für Wanderversicherte anzuwenden ist, wird die Rente entzogen, wenn der Rentenempfänger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Das LSG hat eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse des Klägers darin gesehen, daß im Jahre 1954 das Magengeschwürsleiden durch eine Magenresektion beseitigt worden sei und bei der Untersuchung durch die Gutachter Dr. W und Dr. F im Februar 1957 eine nahezu normale Funktion des Restmagens bestanden habe. Das LSG hat weiter angenommen, der Kläger sei im Zeitpunkt der Rentenentziehung (und darüber hinaus bis zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG) nicht berufsunfähig gewesen; es hat hiernach die Voraussetzungen für die Entziehung der Rente nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG bejaht. Die Revisionsangriffe des Klägers richten sich gegen beide Annahmen des LSG. Der Senat braucht indessen nicht zu prüfen, ob und inwieweit diese Angriffe begründet sind oder nicht, weil sich das angefochtene Urteil aus einem anderen Grunde als unzutreffend erweist. Das LSG hat über die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung entschieden, ohne zu prüfen, ob der Kläger zuvor berufsunfähig gewesen ist und ob gerade dieser Zustand durch die in seinen Verhältnissen eingetretene Änderung weggefallen ist. In den Gründen des angefochtenen Urteils wird die Vornahme dieser Prüfung - als für die Entscheidung über die Rentenentziehung nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG entbehrlich - ausdrücklich abgelehnt, und zwar auch für den - vom LSG für möglich gehaltenen - Fall, daß dem Kläger die Rente früher trotz fehlender Berufsunfähigkeit gewährt worden war. Diese Auslegung widerspricht dem Sinn und Zweck des § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG. Danach genügt es nicht, eine Änderung der Verhältnisse und die heutige Berufsfähigkeit festzustellen. Die Worte im Gesetz "nicht mehr berufsunfähig" besagen nicht nur, daß zur Zeit der Rentenentziehung eine Berufsunfähigkeit des Rentners nicht vorliegen darf, sondern ebenso, daß eine früher bestehende Berufsunfähigkeit (oder Erwerbsunfähigkeit) durch die Änderung beseitigt worden ist. Deshalb setzt die Feststellung einer die Rentenentziehung rechtfertigenden Änderung der Verhältnisse voraus, daß der früher bestehende Zustand im Sinne der Berufsunfähigkeit zu bewerten ist. War der Rentner bei der Rentenbewilligung nicht berufsunfähig, ist ihm also die Rente früher zu Unrecht bewilligt worden, so kann ihm die Rente auch dann nicht nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG entzogen werden, wenn eine Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten ist und eine neuerliche Untersuchung ergibt, daß er nicht berufsunfähig ist. So hat das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt entschieden, eine zur Rentenentziehung berechtigende (wesentliche) Änderung der Verhältnisse liege dann nicht vor, wenn sich nur die der Rentengewährung zugrunde liegende Diagnose inzwischen als unrichtig erwiesen habe, in dem tatsächlichen gesundheitlichen Zustand des Berechtigten seit der Rentengewährung dagegen keine wesentliche Änderung eingetreten sei (BSG 6, 25; 8, 241; vgl. auch 7, 295 und SozR Bl. Aa 3 Nr. 4 zu § 1286 RVO nF). Was in diesen Entscheidungen bezüglich einer Fehldiagnose gesagt ist, gilt auch für alle sonstigen Rentenbewilligungen, die auf einer fehlerhaften Anerkennung von Berufsunfähigkeit (zB auf der Überbewertung eines Leidens durch den Versicherungsträger) beruhen. Rentenbescheide dieser Art können nicht nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG korrigiert werden.
Mit der Annahme, es brauche im Rentenentziehungsverfahren nicht die Rechtmäßigkeit des Rentenbewilligungsbescheids nachgeprüft zu werden, will das LSG möglicherweise sagen, das Gericht könne bei der Entscheidung über die Rentenentziehung erfahrungsgemäß davon ausgehen, daß ein Versicherter, dem früher auf Antrag nach ärztlicher Begutachtung durch Bescheid eines Rentenversicherungsträgers die Rente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt worden ist, auch tatsächlich berufsunfähig im Sinne des Gesetzes gewesen ist. Hierzu hat das BSG schon ausgeführt, daß es einen Erfahrungssatz dieses Inhalts nicht gebe; allein daraus, daß seinerzeit eine Rente bewilligt worden sei, könne nicht darauf geschlossen werden, daß zu jener Zeit Berufsunfähigkeit bestanden habe; diese Auffassung wurde damit begründet, daß gerade in den bei den Gerichten streitig werdenden Entziehungsfällen im Ergebnis die Feststellung, eine Leistung sei ursprünglich zu Unrecht gewährt worden, verhältnismäßig häufig getroffen werden müsse (BSG 7, 295, 298). Ob und inwieweit dieser Auffassung immer zu folgen ist, ob nicht die Gerichte in der Regel wenigstens dann, wenn weder das Vorbringen der Beteiligten noch die Umstände des Falles zu einem Eingehen auf die Frage nötigen, von einer früher zu Recht anerkannten Berufsunfähigkeit (oder Erwerbsunfähigkeit) ausgehen können, kann für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits dahinstehen. Denn hier hat der Kläger nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils ausdrücklich den Einwand erhoben, er sei bei der Rentenbewilligung nicht berufsunfähig gewesen, und hat diese somit als unrechtmäßig bezeichnet. Die Rechtsprechung läßt - wie die genannten Urteile zeigen - diesen Einwand im Rentenentziehungsverfahren zu. Das LSG hätte deshalb die Behauptung des Klägers nicht übergehen dürfen, sondern den tatsächlichen Zustand des Klägers zur Zeit der Rentenbewilligung klarstellen müssen. Es durfte keinesfalls die Möglichkeit offen lassen, daß die Rente des Klägers trotz fehlender Berufsunfähigkeit bewilligt worden ist. Erst nach der erwähnten Klarstellung kann im Sinne von § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG festgestellt werden, ob ein Rentenempfänger "nicht mehr" berufsunfähig ist und ob dieser Zustand infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten ist.
Da es hiernach an einer Feststellung fehlt, ohne welche die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung nicht beurteilt werden kann, und da der Senat diese Feststellung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Der Rechtsstreit muß vom LSG nochmals verhandelt werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Sollte sich hierbei herausstellen, daß eine Berufsunfähigkeit des Klägers zur Zeit der Rentenbewilligung nicht nachzuweisen ist, kann nach den Umständen des Falles die Frage von Bedeutung sein, ob nicht Berufsunfähigkeit in einem späteren, aber vor der Rentenentziehung liegenden Zeitpunkt eingetreten ist. In diesem Falle wird sich dem LSG die Frage stellen, ob auch ein solcher Sachverhalt - wenn also der Rentenbewilligungsbescheid erst nachträglich rechtmäßig geworden ist - in Verbindung mit der eingetretenen Änderung für die Annahme ausreicht, daß der Berechtigte im Sinne von § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG "nicht mehr" berufsunfähig ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen