Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit einer Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb. tarifliche Einstufung. konkrete Benennung etwaiger Verweisungstätigkeiten
Orientierungssatz
1. Die tarifliche Einstufung allein begründet nicht die Eigenschaft als Facharbeiter iS des Mehrstufenschemas.
2. Bei Facharbeitern muß die etwaige Verweisungstätigkeit "konkret" bezeichnet sein. Bei der Gruppe derjenigen Arbeiter, die nur eine kurze betriebliche Einweisung durchlaufen haben und den Facharbeitern auch nicht nahestehen, bedarf es keiner konkreten Bezeichnung (vgl BSG vom 15.11.1983 1 RJ 112/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 109).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.08.1983; Aktenzeichen L 2 J 1594/82) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 20.08.1982; Aktenzeichen S 8 J 813/80) |
Tatbestand
Die im Jahr 1925 geborene Klägerin war nach Tätigkeiten als Hausgehilfin und "Stockwerksmädchen" in einem Altersheim etwa 13 Jahre lang als Schneiderin beschäftigt. 1961 trat sie bei der Deutschen Bundespost (Postamt) als Postfacharbeiterin im Briefsortierdienst (Briefverteilung) ein. Welcher Lohngruppe sie angehörte und ob sie die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt hat, ist nicht festgestellt. Zum 1. Juli 1973 wurde sie in das Beamtenverhältnis übernommen; an ihrer Tätigkeit änderte sich dadurch nichts. Mit Ablauf des Monats April 1980 wurde sie wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Sie ist jetzt nur noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten, im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen oder doch teils im Sitzen, teils in wechselnder Körperhaltung, möglichst in geschlossenen Räumen, ganztags zu verrichten.
Im Dezember 1979 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. März 1980 den Antrag ab, weil weder Berufsunfähigkeit noch Erwerbsunfähigkeit vorliege. Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat mit Urteil vom 20. August 1982 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Klägerin könne nicht mehr als Briefsortiererin arbeiten. Sie müsse sich jedoch, da sie keinen bestimmten Beruf erlernt habe und ihre Beschäftigung als Briefsortiererin eine angelernte Tätigkeit darstelle, auf andere angelernte Tätigkeiten und auf ungelernte Tätigkeiten nicht einfachster Art verweisen lassen. Solche Tätigkeiten, die den Kräften und Fähigkeiten der Klägerin entsprächen, gebe es in großer Zahl. Eine konkret für die Klägerin, die weder qualitativ noch quantitativ in erheblichem Maße zusätzlich eingeschränkt sei, in Frage kommende Tätigkeit brauche nicht benannt zu werden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 1246 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 103 SGG. Sie trägt vor, sie sei in die Lohngruppe der Facharbeiter eingestuft gewesen und habe die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt; das LSG hätte nicht von der konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit absehen dürfen. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. März 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 1979 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf ihren Schriftsatz vom 25. Juli 1984 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Die Begründung des angefochtenen Urteils vermag die Ablehnung des Rentenanspruchs nicht zu tragen. Eine Entscheidung in der Sache ist dem Senat jedoch nicht möglich, da die tatsächlichen Feststellungen nicht ausreichen.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG kann die Klägerin ihre letzte versicherungspflichtige Beschäftigung als Briefsortiererin bei der Deutschen Bundespost aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Berufsunfähigkeit (§ 1246 Reichsversicherungsordnung -RVO-) läge aber nur dann vor, wenn die Klägerin auch nicht mehr auf eine ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende, ihr zumutbare andere Tätigkeit verwiesen werden könnte.
Für die Frage der - sozialen - Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten kommt es zunächst darauf an, wie der bisherige Beruf nach seinem "qualitativen Wert" in das von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelte Mehrstufenschema einzuordnen ist. Das LSG hat die Tätigkeit der Briefsortiererin einer angelernten Tätigkeit gleichgestellt, die Klägerin hält die Gleichstellung mit einer Facharbeitertätigkeit für angemessen.
Die dem Versicherungsträger und den Tatsachengerichten obliegende vergleichende Bewertung des bisherigen Berufs und der in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten setzt voraus, daß die beiden Tätigkeiten sowohl nach den von ihnen geforderten Kräften und Fähigkeiten als auch nach ihren qualifizierenden Merkmalen, das sind nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO Dauer und Umfang der jeweils erforderlichen Ausbildung sowie die besonderen Anforderungen der Tätigkeit, ermittelt und festgestellt werden. Ein wesentliches Hilfsmittel für die Vergleichbarkeit ist nach der übereinstimmenden Auffassung der mit Rentenversicherung befaßten Senate des BSG die tarifliche Einstufung der Tätigkeiten. Soweit der 5. Senat des BSG allerdings in der letzten Zeit für die tarifliche Einstufung die Vermutung aufstellt, "daß die tarifliche Einstufung durch den Arbeitgeber richtig ist", und schließlich entschieden hat, die Bewertung durch die Tarifpartner sei "auch dann zu akzeptieren, wenn diese den anerkannten Ausbildungsberufen andere Tätigkeiten - insbesondere wegen ihrer Bedeutung für den Betrieb - qualitativ gleichgestellt haben" (Urteil vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 114/82 - BSGE 56, 72, 74 = SozR 2200 § 1246 Nr 111, vgl neuerdings auch die Urteile vom 3. Oktober 1984 - 5b RJ 20/84 und 5b RJ 28/84 -), vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen. Er hat deswegen mit Beschluß vom 29. November 1984 - 4 RJ 19/84 - bei dem 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhält (Presse-Mitteilung Nr 85/84 Nr 9).
Während der 1. Senat des BSG eine Paketsortiererin bei der Deutschen Bundespost, die die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt hatte und nach Lohngruppe IV des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost (TV Arb) entlohnt wurde, "allenfalls einer einfach angelernten Arbeiterin" gleichgestellt hat (Urteil vom 3. November 1982 - 1 RJ 32/82 - nicht veröffentlicht), sieht der 5. Senat einen Briefzusteller der Lohngruppe III nebst Tätigkeitszulage (Urteil vom 24. Juni 1983 - 5b RJ 74/82 - nicht veröffentlicht), einen Postzusteller der Lohngruppe IV mit abgelegter Prüfung für den einfachen Postdienst (Urteil vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 114/82 - aaO) und eine Posthalterin II, die als Beamtin nach BesGr A 4 Bundesbeamtengesetz besoldet wurde (Urteil vom 28. März 1984 - 5b RJ 16/83 - nicht veröffentlicht), als Facharbeitern gleichstehend an. Diese Zuordnung kann nach Auffassung des Senats nicht allein mit der tariflichen Einstufung begründet werden.
Dagegen kommt für die Gleichstellung von Tätigkeiten der Brief- und Paketzusteller, Brief- und Paketsortierer, anderer "Postfacharbeiter" und Beamten des einfachen Postdienstes mit Tätigkeiten der zweiten Gruppe des Mehrstufenschemas - Leitberuf Facharbeiter - die Erwägung in Betracht, daß die genannten Posttätigkeiten regelmäßig und überwiegend von den im Jahre 1979 neu geschaffenen Dienstleistungsfachkräften im Postbetrieb (Berufsklasse 7322) ausgeübt werden. Hierbei handelt es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf (Verordnung vom 28. Februar 1979, BGBl I 242) mit einer Ausbildungsdauer von 36 Monaten, der als solcher - ohne eine erst noch vorzunehmende Gleichstellung - zur Gruppe der Facharbeiterberufe gehört. Zwar hat die Klägerin bereits im Jahr 1973 die Arbeitertätigkeit beendet. Das schließt aber nicht aus, daß auch eine erst später erfolgte Qualifizierung der Tätigkeit zum Ausbildungsberuf Rückschlüsse auf den Wert der damaligen Tätigkeit zuläßt (vgl in diesem Zusammenhang BSG SozR Nr 13 zu § 1246 RVO und SozR 2200 § 1246 Nr 41 und 67).
Das LSG wird sonach nicht nur die Tätigkeit, die die Klägerin vor ihrer Übernahme in das Beamtenverhältnis ausgeübt hat, im einzelnen aufklären, es wird - neben der Feststellung der tariflichen Einstufung - prüfen, ob die damalige Tätigkeit seit 1979 regelmäßig von Dienstleistungsfachkräften im Postbetrieb verrichtet wird, insbesondere aber auch, ob die Klägerin bereits vor ihrem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht im wesentlichen den Wissens- und Könnensstand einer solchen Dienstleistungsfachkraft erreicht hatte. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, zu welchen Tätigkeiten außerhalb des Briefsortierdienstes die vorerwähnten Fachkräfte üblicherweise noch herangezogen werden. Kommt es zu einer Gleichstellung der beiden Tätigkeiten "in voller Breite" (BSG SozR aaO Nr 53 S 163), so kann die Klägerin als Facharbeiterin nur eingeschränkt verwiesen werden; in diesem Fall muß das LSG mindestens eine Verweisungstätigkeit konkret bezeichnen. Gehört dagegen die Klägerin zu der Gruppe derjenigen Arbeiter, die nur eine kurze betriebliche Einweisung durchlaufen haben und deswegen den Facharbeitern auch nicht nahestehen, dann bedarf es keiner konkreten Bezeichnung (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 109).
Das LSG wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen