Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör. Rechtsmeinung

 

Leitsatz (amtlich)

Sind die für den türkischen Wehrdienst geleisteten Beiträge nach türkischem Recht wirksam entrichtet, so handelt es sich hierbei um anrechnungsfähige Versicherungszeiten der anderen Vertragspartei iS des Art 27 SozSichAbk Türkei, die für den Erwerb des Leistungsanspruchs jedenfalls dann zu berücksichtigen sind, wenn dadurch keine Besserstellung des türkischen Versicherten eintritt (Abgrenzung zu BSG vom 28.1.1977 - 5 RJ 114/76 = BSGE 43, 174 = SozR 6050 Art 45 Nr 2).

 

Orientierungssatz

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs schützt primär nur die Anhörung der Beteiligten zum Sachverhalt, nicht dagegen die Anhörung hinsichtlich der Rechtsmeinung. Jedenfalls kann der Vorschrift des § 62 SGG nicht die Pflicht des Gerichts entnommen werden, seine Rechtsauffassung zu der Rechtssache zu erkennen zu geben.

 

Normenkette

SozSichAbk TUR Art 27; RVO § 1263 Abs 2 Alt 2 Fassung: 1965-06-09; SGG § 62; RVO § 1419 Abs 1 Fassung: 1957-02-23, § 1402 Abs 4

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.12.1986; Aktenzeichen L 2 J 178/86)

SG Trier (Entscheidung vom 09.06.1986; Aktenzeichen S 1 J 180/85 Tr)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den Klägern Witwen- oder Waisenrente aus der Versicherung des 1954 geborenen und im Februar 1984 verstorbenen türkischen Staatsangehörigen H.      Ö.          zusteht. Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und 3) sind die Kinder des verstorbenen Versicherten.

Nach Mitteilung des türkischen Versicherungsträgers legte der Versicherte von 1970 bis 1973 in der Türkei insgesamt 142 Tage (= 5 Kalendermonate) Pflichtbeitragszeiten zurück. In der Bundesrepublik war er vom Oktober 1980 bis Anfang Februar 1984 versicherungspflichtig beschäftigt und legte insgesamt 41 Kalendermonate Versicherungszeiten zurück. Die Klägerin zu 1) entrichtete am 2. August 1984 für 600 Tage Wehrdienst, die der Versicherte vom März 1974 bis November 1975 in der Türkei geleistet hatte, Beiträge an den türkischen Versicherungsträger nach.

Den Antrag der Klägerin zu 1) vom Februar 1984 auf Gewährung von Hinterbliebenenrenten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Februar 1985 ab. Der Widerspruch der Klägerin zu 1) blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1985).

Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 9. Juni 1986 ab. Auf die Berufung der Kläger hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 15. Dezember 1986 das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin zu 1) Witwenrente und den Klägern zu 2) und 3) Waisenrente zu gewähren. Zur Begründung führte es aus, daß beim Versicherten die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt sei, weil außer den in der Türkei und in der Bundesrepublik zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten auch die nachentrichteten Beiträge für die Wehrdienstzeit zu berücksichtigen seien. Zwar handele es sich bei der Zeit des Wehrdienstes nicht um eine Pflichtbeitragszeit, jedoch gelte sie gemäß § 1402 Abs 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als eine solche. Die nachentrichteten Beiträge müßten nach dieser Vorschrift demzufolge als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge behandelt werden. Nach Art 27 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit (= deutsch-türkisches SV-Abkommen) vom 30. April 1964 (BGBl II 1965 S 1170) idF späterer Abkommen seien diese Zeiten für den Erwerb des Rentenanspruchs zu berücksichtigen. Die Anrechenbarkeit der Wehrdienstzeit als Beitragszeit werde durch die §§ 1246 Abs 3, 1419 Abs 1 RVO nicht ausgeschlossen. Es handele sich weder um die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge noch um Beiträge der Höherversicherung, sondern um eine Nachversicherung iS von § 1232 RVO.

Mit der vom Revisionsgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1402 Abs 4 Satz 1 RVO, eine Abweichung des angefochtenen Urteils von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie die Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör nach § 62 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Dezember 1986 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 9. Juni 1986 zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das Revisionsgericht statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Beklagten ist sachlich nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenrenten nach den §§ 1263, 1264 Abs 1, 1267 Abs 1 RVO bejaht.

Gemäß § 1263 Abs 2 RVO werden Hinterbliebenenrenten - ua - gewährt, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt ist. Nach § 1246 Abs 3 RVO ist dies der Fall, wenn vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist. Der Verstorbene hatte für insgesamt 46 Kalendermonate Pflichtbeiträge (5 Kalendermonate in der Türkei, 41 Kalendermonate in der Bundesrepublik) entrichtet. Unter Hinzurechnung der für die Zeit seines Wehrdienstes in der Türkei entrichteten 20 Monatsbeiträge ist die genannte Wartezeit für die von den Klägern begehrten Hinterbliebenenrenten erfüllt. Insoweit hat das LSG zutreffend angenommen, daß die für den türkischen Wehrdienst geleisteten Beiträge gemäß Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens zu berücksichtigen sind, wobei es - entgegen der Auffassung des LSG - nicht darauf ankommt, ob diese Beiträge gemäß § 1402 Abs 4 RVO wie Pflichtbeiträge zu behandeln sind.

Gemäß Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens werden dann, wenn nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsparteien anrechnungsfähige Versicherungszeiten vorhanden sind, für den Erwerb des Leistungsanspruchs nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften auch die Versicherungszeiten berücksichtigt, die nach den Vorschriften der anderen Vertragspartei anrechnungsfähig sind und nicht auf dieselbe Zeit entfallen. In welchem Ausmaß Versicherungszeiten anrechnungsfähig sind, richtet sich nach den Rechtsvorschriften, die die Anrechnungsfähigkeit bestimmen. Nach dieser Regelung hängt somit die Anrechnungsfähigkeit der für den türkischen Wehrdienst geleisteten Beiträge auf die hier geltend gemachten Leistungsansprüche ausschließlich von der Rechtswirksamkeit der erfolgten Beitragsentrichtung nach türkischem Recht ab. Von dieser Rechtswirksamkeit ist das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung ausgegangen. Sie betrifft insoweit ausländisches Recht, das gemäß § 162 SGG mit der Revision nicht angegriffen werden kann (vgl BSG-Urteil vom 30. Mai 1984 in SozR 2200 § 1265 Nr 71 mwN). Auf die von der Beklagten - ohnehin nur - vorgetragenen Bedenken gegen die Rechtswirksamkeit der für den türkischen Wehrdienst des Versicherten von der Klägerin zu 1) noch geleisteten Beiträge kann somit die Revision nicht gestützt werden.

Ist aber von der Rechtswirksamkeit der für den türkischen Wehrdienst geleisteten Beiträge nach türkischem Recht auszugehen, so sind diese nicht nur - wie die Beklagte meint - als Beiträge iS des Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens "zu behandeln", sondern nach dieser Vorschrift ist auch ihre Anrechnungsfähigkeit für die hier streitigen Leistungsansprüche zu bejahen. Dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, sondern auch aus der ratio legis der gegenseitigen Gleichbehandlung der jeweiligen Versicherten beider Vertragsparteien. Danach ist es beiden Versicherungsträgern verwehrt, den Leistungsanspruch mit der Begründung abzulehnen, das eigene nationale Recht sehe die im anderen Recht gegebene Anrechnungsfähigkeit so nicht vor. Deshalb könnte hier der türkische Versicherungsträger einen von einem deutschen Versicherten erhobenen Anspruch auch nicht mit der Begründung ablehnen, daß die Wehrdienstleistung in der Türkei - anders als in der Bundesrepublik - lediglich ein Recht zur freiwilligen Versicherung eröffne, das eine eigene Beitragsentrichtung des Versicherten oder seiner Angehörigen erfordere (vgl Art 60 Buchst F des türkischen Sozialversicherungsgesetzes Nr 506 idF des Gesetzes Nr 3279 vom 29. April 1986).

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Berufungsgericht im angefochtenen Urteil auch nicht von der Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 114/76 - (BSGE 43, 174 = SozR 6050 Art 45 Nr 2) abgewichen. Eine Divergenz besteht insoweit schon deswegen nicht, weil die genannte Entscheidung zu Art 45 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 ergangen ist, der einen anderen Wortlaut hat als der hier maßgebende Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens. Der Senat hat die Formulierung in Art 45 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71, daß der zuständige Träger die fremdstaatlichen Versicherungszeiten zu "berücksichtigen" habe, nicht so verstanden, als habe der Träger die fremdstaatlichen Zeiten für den Erwerb des Leistungsanspruchs ausnahmslos auch "anzurechnen". Gerade eine derartige Anrechnungsfähigkeit beinhaltet indes ausdrücklich Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens. Im übrigen ist nicht ersichtlich, inwiefern gegen den der Entscheidung vom 28. Januar 1977 aaO zugrundeliegenden rechtlichen Gesichtspunkt der Vermeidung einer - durch fremdstaatliche Versicherungszeiten bewirkten - Besserstellung des ausländischen Versicherten im vorliegenden Fall verstoßen worden sein soll. Denn der verstorbene Ehemann der Klägerin zu 1) wäre als deutscher Versicherter während des Wehrdienstes ohne eigene Beitragsleistung pflichtversichert gewesen (§§ 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 6, 1385 Abs 4 Buchst d RVO). Wie bereits ausgeführt, bedurfte es dagegen nach den türkischen Rechtsvorschriften zur Anrechnungsfähigkeit iS des Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens einer eigenen Beitragsleistung des Versicherten oder seiner Angehörigen für den türkischen Wehrdienst.

Auch der dem Urteil vom 28. Januar 1977 aaO zugrunde liegende Sachverhalt weicht damit von dem hier vorliegenden ab. Denn dort hatte der Versicherte - ein italienischer Staatsangehöriger - nach Eintritt des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit für eine davor liegende Zeit, in der er weder nach deutschem noch nach italienischem Recht pflichtversichert war, freiwillige Beiträge nachentrichtet, was bei Nichtbeachtung des § 1419 Abs 1 RVO - unter Zugrundelegung einer vergleichbaren Beitragsentrichtung - tatsächlich zu einer Besserstellung des italienischen Versicherten führen würde. Demgegenüber bewirkt im vorliegenden Fall die Berücksichtigung der nach türkischem Recht wirksam nachentrichteten Beiträge für eine Zeit, die bei einem deutschen Versicherten nach inländischem Recht ohnehin eine Pflichtbeitragszeit wäre, lediglich die dem Sinn und Zweck des Art 27 des deutsch-türkischen SV-Abkommens, entsprechende Gleichstellung der Versicherten beider Vertragsparteien. Bei dieser Sach- und Rechtslage steht die Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. Januar 1977 aaO den geltend gemachten Leistungsansprüchen nicht entgegen.

Soweit die Beklagte ihre Revision auch auf eine Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör iS des § 62 SGG gestützt hat, fehlt es bereits an der gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG erforderlichen Bezeichnung der Tatsachen, die den behaupteten Verfahrensmangel ergeben. Die Beklagte trägt hierzu lediglich vor, sie sei durch die Anwendung der für die deutsche Nachversicherung geltenden Vorschrift des § 1402 Abs 4 RVO im angefochtenen Urteil überrascht worden. Abgesehen davon, daß der erkennende Senat seine mit dem Berufungsgericht nur im Ergebnis übereinstimmende Entscheidung nicht mit der genannten Vorschrift begründet hat, übersieht die Beklagte, daß der Grundsatz des rechtlichen Gehörs primär nur die Anhörung der Beteiligten zum Sachverhalt, nicht dagegen die Anhörung hinsichtlich der Rechtsmeinung schützt. Jedenfalls kann der Vorschrift des § 62 SGG nicht die Pflicht des Gerichts entnommen werden, seine Rechtsauffassung zu der Rechtssache zu erkennen zu geben (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNrn 8 und 9 zu § 62 SGG mit Nachweisen aus der einschlägigen Rechtsprechung). Die Beklagte hat aber nicht vorgetragen, daß ihr ein Tatsachenvorbringen aufgrund des Verhaltens des LSG nicht möglich gewesen sei.

Nach alledem muß der Revision der Erfolg versagt bleiben; sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 303

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