Entscheidungsstichwort (Thema)
Form des Antrags. Möglichkeit anderer Entscheidung
Leitsatz (amtlich)
Wenn das Gericht die Zeugen, die von dem Kläger zum Beweis für eine ihm günstige Tatsache benannt worden sind, nicht vernimmt, sondern auf Grund eigener Mutmaßungen unterstellt, daß die Zeugen diese Tatsache nicht bekunden werden, so liegt darin sowohl eine Verletzung der Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (ASGG § 103) wie auch eine Überschreitung der Grenzen des Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (SGG § 128 Abs 1 S 1); das Verfahren leidet dann an einem wesentlichen Mangel im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Antrag auf Rente bedarf keiner besonderen Form, er setzt nur eine auf Gewährung der Leistung gerichtete Willenserklärung gegenüber dem Versicherungsamt, der Versicherungsanstalt oder gegenüber einer anderen deutschen Behörde voraus.
2. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der angegriffenen Entscheidung ist im sozialgerichtlichen Verfahren wie im Zivilprozeß schon gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei richtiger Anwendung der verletzten Vorschriften anders entschieden hätte.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1936-12-23; AVG § 41 Abs. 1 Fassung: 1936-12-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 18. Mai 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin heiratete am 25. August 1918. Ihr Ehemann war ursprünglich Friseur, später selbständiger Fuhrunternehmer, schließlich von Oktober 1945 bis November 1947 Fleischbeschauer. Am 17. Juli 1949 starb er im Alter von 53 Jahren an den Folgen einer Verwundung aus dem ersten Weltkrieg.
Am 18. November 1952 stellte die Klägerin bei der Stadtverwaltung in ... unter Benutzung des Vordrucks der Landesversicherungsanstalt ... den Antrag auf Witwenrente. Dieser Antrag wurde durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt vom 17. Januar 1953 abgelehnt, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Auf den "Einspruch" der Klägerin vom 10.Februar 1953 erhob das Sozialgericht ... Beweis über die Beitragsentrichtung für den Ehemann der Klägerin und verurteilte dann am 28. Mai 1954 die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente vom 1.Dezember 1952 an. Über den Antrag der Klägerin, ihr vom 1.September 1949 an Rente zu gewähren, wurde vom Sozialgericht nicht ausdrücklich entschieden.
Am 20. Juli 1954 legte die Klägerin beim Landessozialgericht ... Berufung ein; sie beantragte, ihr die Rente bereits vom 1. September 1949 an zu bewilligen, da sie bereits im Juli oder August 1949 den Antrag auf Rente gestellt habe. Sie sei nämlich kurz nach dem Tode ihres Mannes unter Vorlage der Angestelltenversicherungskarte bei der Stadtverwaltung ... vorstellig geworden und habe die Aufnahme eines Antrages auf Witwenrente verlangt; hierbei sei ihr eröffnet worden, daß dies zwecklos sei, weil ihr verstorbener Mann nicht genügend Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet habe; mit diesem Bescheid habe sie sich zufrieden geben müssen, so daß die formularmäßige Aufnahme eines Rentenantrages unterblieben sei; dies könnten der damalige Sachbearbeiter, ... und Frau ... die mit ihr vorgesprochen habe, bezeugen; sie beantrage deren Vernehmung und verweise auf die beim Sozialgericht ... vorgelegte Bescheinigung des Zeugen ... vom 16. Oktober 1953; erst im Jahre 1952 habe sie von einem Bekannten erfahren, daß die für ihren verstorbenen Mann zur Invaliden- und Angestelltenversicherung entrichteten Beiträge zusammenzurechnen seien, so daß die Wartezeit erfüllt sei; daraufhin habe sie am 18.November 1952 auf der Aufnahme eines formularmäßigen Antrages bestanden; zwar habe sie in diesem Antrag die Frage, ob sie bereits früher einmal einen Rentenantrag gestellt habe, mit "nein" beantwortet; dies habe sie aber nur deshalb getan, weil bei ihrer Vorsprache im Jahre 1949 die Stadtverwaltung ... einen schriftlichen Rentenantrag nicht aufgenommen habe.
Durch Urteil vom 18. Mai 1955 wies das Landessozialgericht die Berufung ohne weitere Beweisaufnahme zurück; es führte dazu aus:
"... Einen ordnungsmäßigen Antrag auf Zuerkennung der Witwenrente hat die Klägerin erstmalig am 18. November 1952 gestellt und in diesem Antrag gleichzeitig die Frage verneint, ob bereits früher einmal ein Rentenantrag gestellt worden sei. Wenn sie sich nunmehr darauf beruft, sie sei bereits im Jahre 1949 kurz nach dem Tode ihres Ehemannes bei der Stadtverwaltung ... wegen einer Rentengewährung vorstellig geworden, so mag dieses zwar den Tatsachen entsprechen und wird auch durch den ehemaligen Sachbearbeiter der Stadtverwaltung ... in seiner Bescheinigung vom 16.Oktober 1953 bestätigt. Diese Tatsache allein reicht aber nicht aus, um dieses Vorstelligwerden als einen Antrag auf Gewährung von Witwenrente umzudeuten. Die Dinge haben damals nach Auffassung des Senats so gelegen, daß die Klägerin sich lediglich eine Auskunft eingeholt hat, wobei es allerdings im Bereich der Möglichkeit gelegen haben mag, daß ihr eine falsche Auskunft erteilt worden ist. Jedenfalls ist es damals zu einer Antragsaufnahme nicht gekommen, und die Klägerin hat sich damals mit der ihr gegebenen Auskunft zufrieden gegeben. Infolgedessen konnte gemäß § 1286 Abs. 1 RVO ein früherer Beginn der Rente, als in dem Urteil des Sozialgerichts geschehen, nicht eintreten, und der Senat ist nicht in der Lage, diesen Rentenbeginn auf den 1. September 1949 vorzuverlegen. ..."
Die Revision wurde in dem Urteil nicht zugelassen.
Am 21. Juli 1955 legte der Vertreter der Klägerin, Herr ... Revision beim Bundessozialgericht ein. Auf die Belehrung des Bundessozialgerichts über den Vertretungszwang legte Rechtsanwalt ... am 18. August 1955 erneut Revision ein. Er beantragte, das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. Mai 1955 in vollem Umfang und das Urteil des Sozialgerichts ... vom 28. Mai 1954 insoweit aufzuheben, als in ihm der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Rente ab 1.September 1949 nicht beschieden sei; außerdem beantragte er, die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Zur Begründung führte er in der Revisionsschrift und in den Schriftsätzen vom 27.Oktober 1955 und 22. November 1955 aus, das Verfahren des Landessozialgerichts leide an wesentlichen Mängeln; das Landessozialgericht habe zwar mit Recht festgestellt, daß das Sozialgericht ... über den Antrag der Klägerin nur teilweise entschieden habe; trotzdem habe es aber den Rechtsstreit nicht an das Sozialgericht zurückverwiesen, sondern in der Sache selbst entschieden (Verletzung des § 159 SGG); hierbei habe es in der Frage, ob die Klägerin bereits im Sommer 1949 Rente beantragt habe, das nach seiner Auffassung zu erwartende Beweisergebnis unterstellt; dies sei eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (Verstoß gegen die §§ 127 und 128 SGG); durch die erstmals in den Urteilsgründen zum Ausdruck gebrachte Ansicht, die Klägerin habe bei der Stadtverwaltung ... im Jahre 1949 nur eine Auskunft eingeholt, sei ihr auch das rechtliche Gehör abgeschnitten worden (Verstoß gegen § 62 SGG).
Die Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen; das Verfahren des Landessozialgerichts sei nicht mangelhaft gewesen; von einer Beweisaufnahme habe das Landessozialgericht mit Recht abgesehen; das Vorbringen der Klägerin, der unstreitige Sachverhalt und der übrige Akteninhalt habe die Feststellung gerechtfertigt, daß im Jahre 1949 kein Rentenantrag gestellt worden sei.
II.
Die Revision vom 18. August 1955 ist form- und fristgerecht eingelegt; das das Urteil des Landessozialgerichts vom 18.Mai 1955 keine Belehrung über die Notwendigkeit der Aufnahme eines bestimmten Antrages in die Revisionsschrift enthält, läuft die Revisionsfrist nicht nur einen Monat, sondern ein Jahr (§§ 66, 164 Abs. 2 SGG, Urteile des Bundessozialgerichts vom 23.9.1955, 3 RJ 26/55, und vom 13.10.1955, 1 RA 17/54). Die Revision ist auch rechtzeitig begründet; ihre Zulässigkeit hängt lediglich davon ab, ob sie auch statthaft ist (vgl. § 162 Abs.1 SGG). In dieser Hinsicht ist die Klägerin der Auffassung, das Verfahren des Landessozialgerichts leide an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil das Landessozialgericht über rechtserhebliche Umstände keinen Beweis erhoben, sondern das von einer bestimmten Zeugenvernehmung zu erwartende Beweisergebnis unterstellt habe. Diese Rüge ist zutreffend. Für die Frage, ob der Anspruch auf Witwenrente für die Zeit vom 1. September 1949 bis 30.November 1952 begründet ist, kommt es darauf an, ob die Klägerin tatsächlich vor dem 1. September 1949 einen Antrag auf Rente gestellt hat (§§ 41 Abs.1 AVG, 1286 Abs.1 RVO). Ein solcher Antrag bedarf keiner besonderen Form, er setzt nur eine auf Gewährung der Leistung gerichtete Willenserklärung gegenüber dem Versicherungsamt, der Versicherungsanstalt oder gegenüber einer anderen deutschen Behörde voraus (§§ 204 AVG, 1613 RVO; Koch-Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl. S. 491; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S.666; Verbandskommentar zum 4. und 5. Buch der RVO, 5.Aufl. § 1286 Anm.9). Die Klägerin hat demnach im Juli oder August 1949 einen rechtswirksamen Antrag auf Rente gestellt, wenn ihre Behauptung, sie habe in der genannten Zeit bei der Stadtverwaltung ... vorbehaltlos die Einleitung des Rentenverfahrens verlangt, richtig ist. Diese Behauptung ist nicht allein deshalb schon unerheblich, weil sich die Klägerin nach der Vorsprache bei der Stadtverwaltung Tönning drei Jahre lang nicht mehr an eine zuständige Behörde gewandt und bei der Ausfüllung des Rentenantrags vom 18. November 1952 erklärt hat, sie habe zuvor noch keinen Antrag auf Rente gestellt. Davon ist offenbar auch das Landessozialgericht ausgegangen; in den Gründen seines Urteils hat es das Vorbringen der Klägerin über ihr "Vorstelligwerden" bei der Stadtverwaltung ... eingehend erörtert; es ist dabei zu dem Schluß gekommen:
"... Die Dinge haben damals nach Auffassung des Senats so gelegen, daß die Klägerin sich lediglich eine Auskunft eingeholt hat, wobei es allerdings im Bereich der Möglichkeit gelegen haben mag, daß ihr eine falsche Auskunft erteilt worden ist. ...."
Mit diesem Schluß hat aber das Landessozialgericht seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt und die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach seiner Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs.1 Satz 1 SGG), überschritten. Die Klägerin hat für die Richtigkeit ihrer Behauptung, sie habe schon 1949 einen Antrag auf Rente gestellt, den damaligen Sachbearbeiter ... und die Frau ... als Zeugen benannt. Das Landessozialgericht ist nicht berechtigt gewesen, von der Vernehmung dieser Zeugen abzusehen und an die Stelle des Vernehmungsergebnisses seine eigenen Mutmaßungen über Inhalt und Zweck der damaligen Besprechung zu setzen; es hatte vielmehr die Pflicht, den Sachverhalt durch die Vernehmung der beiden Zeugen aufzuklären und erst dann "nach freier Überzeugung" zu entscheiden. Das Landessozialgericht hat deshalb die §§ 103 und 128 SGG verletzt; sein Verfahren leidet, wie die Klägerin mit Recht rügt, an einem wesentlichen Mangel. Die Revision ist deshalb auch statthaft i.S. des § 162 Abs. 1 SGG und mithin zulässig, ohne daß es noch darauf ankommt, ob auch die weiteren Verfahrensrügen der Klägerin begründet sind.
Die Revision ist auch begründet. Das Landessozialgericht hat mit Recht die Berufung für zulässig erachtet, obwohl in der Berufungsinstanz nur noch der Beginn der Rente streitig gewesen ist. Ein Berufungsausschließungsgrund nach § 146 SGG hat nicht vorgelegen; Gegenstand des Urteils des Sozialgerichts, auf dessen Inhalt es hierbei allein ankommt (Urteil des 1.Senats des BSG vom 29.11.1955, Az. 1 RA 43/54), ist nicht nur der Beginn der Rente, sondern der Rentenanspruch schlechthin gewesen. Das Urteil des Landessozialgerichts "beruht" auf der Verletzung der §§ 103 und 128 SGG; der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der angegriffenen Entscheidung ist im sozialgerichtlichen Verfahren wie im Zivilprozeß schon gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Landessozialgericht bei richtiger Anwendung der verletzten Vorschriften anders entschieden hätte. Diese Möglichkeit ist hier vorhanden; den Angaben der noch zu vernehmenden Zeugen kann zu entnehmen sein, daß die Klägerin dem Sachbearbeiter der Stadt ... gegenüber eindeutig das Verlangen zum Ausdruck gebracht hat, das Rentenverfahren einzuleiten; es ist dabei auch die allgemeine Lebenserfahrung zu berücksichtigen, daß es einer Witwe unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes im Zweifel nicht nur darum geht, sich von den Behörden eine "Auskunft" einzuholen, vielmehr darum, alles zu tun, was geeignet ist, ihr künftig einen gewissen Ersatz für den Verdienst des Mannes zu bieten. Das Urteil des Landessozialgerichts ist daher aufzuheben und nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das Landessozialgericht hat bei seiner erneuten Entscheidung zu beachten, daß der Antrag der Klägerin, ihr Witwenrente auch für die Zeit vom 1. September 1949 bis 30. November 1952 zu gewähren, ausdrücklich zurückgewiesen werden muß, wenn vor November 1952 kein Rentenantrag gestellt worden ist. Eine solche Zurückweisung enthält das angefochtene Urteil in seinem Tenor nicht; es ist nach seiner Entscheidungsformel nur ein Teilurteil. Die teilweise Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts ... die die Klägerin beantragt hat, ist nicht möglich; in dem Urteil dieses Gerichts ist über den Antrag auf Rente für die Zeit vor dem 1. Dezember 1952 gar nicht entschieden. Im übrigen genügt bei einer Zurückverweisung an das Landessozialgericht die Aufhebung seines Urteils, denn dadurch wird das Landessozialgericht verpflichtet, nochmals über die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zu entscheiden.
Über die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens hat das Landessozialgericht Schleswig in seinem Schlußurteil zu entscheiden.
Fundstellen