Leitsatz (amtlich)
1. Für volle Krankheitswochen innerhalb der letzten 10 (13) Wochen wird nicht das betriebsübliche Arbeitsentgelt nach AVAVG § 90 Abs 3 zugrunde gelegt. Es findet vielmehr eine Rückrechnung nach AVAVG § 90 Abs 1 statt.
2. Die einmalige Belehrung auf der Arbeitslosen-Meldekarte, daß die Eintragungen in den vorausgehenden Spalten als Bekanntgabe einer Entscheidung gelten und daß gegen sie der Widerspruch zulässig sei, ist keine ausreichende Rechtsmittelbelehrung. Die Belehrung muß vielmehr bei jeder Eintragung erfolgen.
Normenkette
AVAVG § 148 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03, § 90 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03, Abs. 3 Fassung: 1957-04-03, § 177 Fassung: 1957-04-03; SGG § 66 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger war zuletzt vom 12. August bis 18. November 1958 (14 Wochen) als Bauhilfsarbeiter tätig. Sein Einkommen während dieser Zeit betrug 1.117,91 DM. Vom 2. Oktober bis 13. November 1958 (6 Wochen) war er krank und hatte dadurch einen Verdienstausfall von 544,05 DM.
Das Arbeitsamt (ArbA) bewilligte dem Kläger mit Wirkung vom 22. November 1958 an Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe (Alhi) in Höhe von 46,50 DM wöchentlich; es legte seinen Berechnungen einen wöchentlichen Einheitslohn von 117,-- DM zugrunde. Am 1. Dezember 1958 wurden Beginn und Höhe der Alhi in die Meldekarte des Klägers eingetragen. Der Kläger beanstandete am 22. Januar 1959 dem ArbA gegenüber die Höhe der gezahlten Alhi. Daraufhin teilte ihm das ArbA mit Schreiben vom 2. Februar 1959 mit, die Berechnung der Alhi sei aufgrund eines wöchentlichen Einheitslohns von 117,-- DM erfolgt. Der gegen dieses Schreiben gerichtete Widerspruch des Klägers wurde mit der Begründung als unzulässig verworfen, der Kläger habe die am 2. Januar 1959 abgelaufene Widerspruchsfrist versäumt.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Alhi nach dem durchschnittlichen Verdienst der letzten 10 Wochen zu gewähren, in denen er tatsächlich gearbeitet habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hob diese Entscheidung auf und wies die Klage ab. Es war der Auffassung, die Bewilligung der Alhi sei gemäß § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Ablauf der von der Eintragung in die Meldekarte des Klägers anlaufenden Widerspruchsfrist von einem Monat bindend geworden. Denn die Eintragung in die Meldekarte entspreche den Voraussetzungen, die für die Bekanntgabe der Entscheidung über den Leistungsantrag im § 177 des Gesetzes über Arbeitsmittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) festgelegt seien. Es genüge, wenn der Verfügungssatz selbst schriftlich bekanntgegeben werde, also Dauer und Höhe der Leistung in die Meldekarte eingetragen würden. Nicht notwendig sei es, daß auch die Begründung - d.h. die. Berechnung - bekanntgegeben werde, da ein Begründungszwang dem Gesetz nicht entnommen werden könne. Die Stelle, bei der der Widerspruch einzulegen sei, sei in der Belehrung mit dem Wort "Arbeitsamt" hinreichend gekennzeichnet. Der Sitz der Behörde ergebe sich ebenfalls aus der Meldekarte. Wenn er auch nicht in der Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich genannt sei, so sei er doch aus dem gesamten Inhalt der Meldekarte eindeutig ersichtlich. Schließlich sei auch das Schreiben des ArbA vom 22. Januar 1959 nicht als neuer Verwaltungsakt anzusehen, weil es sich hierbei nur um eine erläuternde Erklärung des früheren ohne rechtsgestaltende Wirkung gehandelt habe. Das LSG ließ die Revision zu.
Der Kläger legte gegen das am 29. April 1960 zugestellte Urteil am 11. Mai 1960 Revision ein und begründete sie am 27. Mai 1960. Er meint, selbst wenn unterstellt werde, daß die auf der Meldekarte vorgedruckte Belehrung den Anforderungen des § 177 AVAVG entspreche, hätte von Amts wegen geprüft werden müssen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben seien. Denn der Kläger sei schuldlos verhindert gewesen, die Entscheidung zu überprüfen und den Rechtsbehelf einzulegen, weil die Beklagte keine spezifizierte Aufstellung der Berechnungsgrundlage erteilt habe. Der "Widerspruch" des Klägers sei in Wirklichkeit ein wiederholter Antrag gewesen, über den geltend gemachten, aber noch nicht entschiedenen Anspruch zu befinden. Sein Leistungsantrag sei dahin gegangen, ihm die höchstmögliche Unterstützung zu gewähren. Diesem Antrag sei teils stattgegeben, teils sei er abgelehnt worden. Hinsichtlich der Bewilligung läge eine mit Rechtsbehelfsbelehrung versehene Entscheidung vor, in bezug auf den ablehnenden Teil fehle die Belehrung.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 29. Januar 1960 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Schleswig vom 16. Juni 1959 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, der Charakter der Rechtsbehelfsbelehrung auf der Meldekarte gehe nicht dadurch verloren, daß die vorgedruckte Erklärung für alle Eintragungen auf der Meldekarte gelte. Ebenso sei der Umstand unerheblich, daß die Rechtsbehelfsbelehrung nicht durch die Unterschrift unter die jeweilige Eintragung gedeckt sei. Denn ihr Zweck sei eindeutig erkennbar. Ein Wiedereinsetzungsgrund nach § 67 SGG liege deshalb nicht vor. Wenn der Kläger Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung gehabt hätte, dann hätte er die ihm gebotenen Auskunftsmöglichkeiten rechtzeitig wahrnehmen müssen. Das Schreiben des Klägers vom 21. Januar 1959 sei ausdrücklich als Widerspruch bezeichnet worden, es könne daher nicht als wiederholter Antrag angesehen werden.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.
Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung ist die Entscheidung über den Leistungsantrag des Klägers nicht gemäß § 77 SGG nach Ablauf eines Monats seit Eintragung von Beginn und Höhe des Arbeitslosengeldes (Alg) in die Meldekarte des Klägers bindend geworden. Denn die Widerspruchsfrist begann mit dieser Eintragung nicht zu laufen, weil die auf der Meldekarte vorgedruckte Rechtsbehelfsbelehrung nicht den Vorschriften des § 177 AVAVG in Verbindung mit § 66 SGG entsprach. Nach § 177 AVAVG entscheidet über den Antrag auf Alg der Direktor des ArbA. Die Entscheidung ist dem Arbeitslosen schriftlich bekanntzugeben.
Es kann dahinstehen, ob man die Eintragung von Beginn und Höhe des Alg auf der Meldekarte als ausreichende Bekanntgabe einer Entscheidung im Sinne dieser Vorschrift ansehen will oder ob man im Anschluß an das Bundesverfassungsgericht, das bei Ablehnungen eine Begründung verlangt (BVerfG 6, 32, 44), nicht wenigstens die Bekanntgabe des Bemessungsentgelts verlangen muß, damit der Arbeitslose prüfen kann, ob seinem Antrag voll entsprochen oder ob er zum Teil abgelehnt worden ist (vgl. Urteil des Senats in BSG 3, 113). Diese Frage braucht jedoch hier nicht entschieden zu werden. Selbst wenn man nämlich eine solche Bekanntgabe des Bemessungsentgelts nicht fordern, sondern die Eintragung von Höhe und Beginn als ausreichende Bekanntgabe ansehen will, hat doch mit dieser Eintragung die Widerspruchsfrist nicht zu laufen begonnen. Denn das geschieht nach § 66 SGG nur dann, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle, bei der er anzubringen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist; andernfalls ist die Einlegung des Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels innerhalb eines Jahres zulässig. Weiter ergibt sich aus § 177 AVAVG, daß die Rechtsbehelfsbelehrung dem Arbeitslosen bei Bekanntgabe der Entscheidung zu erteilen ist. Daraus folgt, daß jedes Mal, wenn dem Arbeitslosen eine Entscheidung bekanntgegeben wird, eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung nötig ist. Nur so wird der Arbeitslose in jedem Einzelfalle zu der Prüfung veranlaßt, ob die Entscheidung seinem Begehren entspricht oder ob er gegen sie vorgehen will. Die Entscheidung über den Leistungsantrag wird außerdem oft erst eine Zeitlang nach Ausstellung der Meldekarte und nach ihrer Aushändigung an den Arbeitslosen eingetragen und ist darüber hinaus häufig nicht die erste Entscheidung dieser Art. Das Formblatt der Meldekarte ist vielmehr für bis zu acht derartige Eintragungen eingerichtet, und erst unter den dafür bestimmten Feldern folgt die allgemeine Rechtsmittelbelehrung. Diese pauschale Art der Belehrung ist nicht ausreichend, um die Widerspruchsfrist in Gang zu setzen, und die beklagte Bundesanstalt wird insoweit die Form der Meldekarte überprüfen müssen.
Unter diesen Umständen war die Entscheidung über den Antrag des Klägers am 22. Januar 1959 noch nicht bindend und der Widerspruch also rechtzeitig, da er innerhalb der Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG erhoben worden ist. Das LSG hätte demnach über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes entscheiden müssen.
Obwohl die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils eine Gesetzesverletzung ergeben, war zu prüfen, ob sich die Entscheidung nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat hatte daher zu erwägen, ob das LSG die Klage nicht deshalb zu Recht abgewiesen hat, weil der angefochtene Verwaltungsakt der Beklagten rechtmäßig war. Streitig ist zwischen den Beteiligten, welches Arbeitsentgelt der Berechnung der Alhi zugrunde zu legen ist, wenn der Arbeitslose im Bemessungszeitraum mehrere Wochen krank war. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung ist der Bemessung der Alhi im vorliegenden Fall nicht das Entgelt zugrunde zu legen, auf das der Kläger in der betrieblichen Arbeitszeit der letzten zehn Wochen Anspruch gehabt hätte, sondern das Arbeitsentgelt, das er in den letzten zehn Wochen erhalten hat, in denen er tatsächlich gearbeitet hat. Grundlage für die Bemessung ist gemäß § 148 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVAVG das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten zehn Wochen, in denen der Kläger in entlohnter Beschäftigung gestanden hat. Dabei bleiben Beschäftigungszeiten, für die wegen Krankheit, Urlaub oder unberechtigter Arbeitsversäumnis kein Arbeitsentgelt gezahlt worden ist, außer Betracht. Außerdem ist bestimmt, daß die Vorschriften des § 90 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 bis 5 über die Bemessung des Alg anzuwenden sind (§ 148 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AVAVG). Insoweit entsprechen die Vorschriften über die Berechnung der Alhi denen der Alg-Berechnung, nur daß an Stelle der drei Monate versicherungspflichtiger Beschäftigung, durch die die Anwartschaft erfüllt wird, die zehn Wochen entlohnter Beschäftigung treten. Bei beiden Vorschriften sind Krankheitstage, für die kein Arbeitsentgelt gezahlt wird, ausgenommen (bei der Alhi: § 148 Abs. 1 Nr. 2 durch Bezugnahme auf § 145 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVAVG; beim Alg: § 90 durch die Bestimmung, daß durch diese Zeit die Anwartschaft erfüllt sein muß, in Verbindung mit § 85 Abs. 1 Satz 2 AVAVG). Der § 90 Abs. 3 AVAVG in der hier zur Anwendung kommenden Fassung vom 3. April 1957, auf den in § 148 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG ausdrücklich verwiesen wird, enthält eine besondere Regelung für Fälle, in denen der Arbeitslose während des Bemessungszeitraumes krank gewesen ist. Hat er infolge von Krankheit in einer Woche die betriebliche Arbeitszeit nicht erreicht und war sein Arbeitsentgelt infolgedessen vermindert, so ist für diese Woche das Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, auf das er in der betriebsüblichen Arbeitszeit Anspruch gehabt hätte. § 90 Abs. 3 regelt nach seinem Wortlaut nur die Fälle, in denen der Arbeitslose weniger als eine Woche krank war, also in der betreffenden Woche wenigstens teilweise gearbeitet hat, dagegen nicht die Fälle, in denen wegen Krankheit mindestens eine volle Woche keine Arbeit verrichtet und kein Arbeitsentgelt erzielt wurde, wie dies beim Kläger der Fall war. Hier kann nicht von dem fiktiven Arbeitsentgelt des Abs. 3 ausgegangen werden, es muß vielmehr auf die Zeit zurückgegriffen werden, in der er tatsächlich Arbeitsentgelt erzielt hat. Das ergibt sich zunächst daraus, daß der Abs. 3 des § 90 eine Ausnahmevorschrift gegenüber dem Grundsatz des Abs. 1 und deswegen eng auszulegen ist. Außerdem deutet schon der Wortlaut des Gesetzes darauf hin, daß bei Ausfall von Arbeitsentgelt während einer oder mehrerer ganzer Wochen diese Ausnahmevorschrift nicht mehr angewandt werden kann, denn es wird von "einer Woche", "in dieser Woche" und von einer Minderung, nicht von einem Wegfall des Arbeitsentgeltes gesprochen. Diese Folgerung ergibt sich aber auch aus der Überlegung, daß anderenfalls bei einer Erkrankung von über 13 bzw. 10 Wochen überhaupt nur ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen wäre. Damit würde dann völlig von dem die Berechnungsgrundlage beherrschenden Grundsatz abgegangen werden, nach dem die Höhe der Leistung von dem tatsächlich in der letzten Zeit erzielten Arbeitsentgelt abhängt. Zwar sollte durch die Einführung dieser Vorschrift eine Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens erreicht werden (vgl. BT-Drucks., II. WP, Nr. 1274, 130 zu § 105 Abs. 3). Eine solche tritt aber auch schon dann ein, wenn bei einem geringeren Entgeltausfall als dem einer Woche für diese Woche nicht mehr zurückgerechnet zu werden braucht. Auch nach der Änderung des § 90 AVAVG durch das Zweite Änderungsgesetz zum AVAVG vom 7. Dezember 1959 (BGBl I, 705) sind Bemessungszeitraum die letzten, insgesamt 20 Tage mit Arbeitsentgelt erfassenden Lohnabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigung, durch die die Anwartschaftszeit erfüllt ist. Hier ist also ebenfalls soweit zurückzurechnen, bis die Lohnabrechnungszeiträume 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassen. Eine Zurückrechnung, wie sie im vorliegenden Fall vorgenommen werden muß, ist daher dem AVAVG nicht fremd und läßt sich nicht immer vermeiden.
Im vorliegenden Fall ist, da der Kläger mehrere Wochen krank war und in dieser Zeit keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt hatte, die Krankheitszeit bei der Berechnung des Bemessungszeitraumes außer acht zu lassen und auf das Arbeitsentgelt der letzten zehn Wochen zurückzugreifen, in denen er tatsächlich beschäftigt war. Es war dem Senat nicht möglich nachzuprüfen, ob unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung der angefochtene Verwaltungsakt noch rechtmäßig gewesen ist, da das LSG über das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt des Klägers keine Feststellungen getroffen hat.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Diesem bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen