Entscheidungsstichwort (Thema)
Beteiligung an der kassenärztlichen Versorgung. Bedarfslücke. Beurteilungs- und Ermessensspielraum. richterliche Nachprüfbarkeit
Orientierungssatz
1. Bei der Entscheidung darüber, ob eine Bedarfslücke (hier: Beteiligung eines Chefarztes auf eine konsiliarische Untersuchung vor stationärem Aufenthalt) besteht, haben die Zulassungsinstanzen einen Beurteilungsspielraum, den die Gerichte nur im beschränkten Umfang überprüfen können (vgl BSG vom 28.10.1986 - 6 RKa 14/86 = BSGE 60, 297).
2. Bei der Feststellung, wann ein Bedarf vorliegt und insbesondere unter welchen Voraussetzungen stationär-ambulanter Verteilung seine Wirtschaftlichkeit gegeben ist, hat die Verwaltung einen breiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum, in den die Gerichte nur eingreifen können, wenn der Standpunkt der Verwaltung unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheint, seine Unrichtigkeit also evident ist.
Normenkette
RVO § 368a Abs 8 Fassung: 1977-06-27; ZO-Ärzte § 29 Abs 1 Fassung: 1957-05-28; Ärzte-ZV § 31 Abs 1 Fassung: 1988-12-20
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.07.1988; Aktenzeichen L 5 Ka 49/87) |
SG Mainz (Entscheidung vom 30.09.1987; Aktenzeichen S 1 Ka 130/86) |
Tatbestand
Der Kläger, der seit Oktober 1982 als Chefarzt der Chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses in M. tätig ist, wurde im Jahre 1983 im Bereich der ambulanten Nachbehandlung krankenhausentlassener Patienten an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt. Seinen im Juni 1985 gestellten Antrag, seine Beteiligung auf eine konsiliarische Untersuchung vor stationärem Aufenthalt durch Überweisung des behandelnden Arztes auszudehnen, hat die Beteiligungskommission bei der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinhessen abgelehnt (Beschluß vom 17. Oktober 1985). Die beklagte Berufungskommission hat den Widerspruch zurückgewiesen (Beschluß vom 11. Juni 1986). Zur Begründung wurde ausgeführt: In quantitativer Hinsicht bestehe kein Bedürfnis, da nach dem Bedarfsplan in M. einem Soll von 5,63 Chirurgen ein Ist von 10,9 Chirurgen gegenüberstehe. Auch in qualitativer Hinsicht bestehe keine Lücke auf dem kassenärztlichen Versorgungssektor. Es sei primär die Aufgabe des niedergelassenen Chirurgen zu entscheiden, ob eine Operation vorzunehmen sei. Entscheide sich dieser zu einer Krankenhauseinweisung zum Zwecke der Durchführung einer Operation, so sei eine im Krankenhaus vor dem Eingriff durchgeführte Untersuchung durch den Krankenhauspflegesatz - wie im Gesamtvertrag vorgesehen - abgegolten. Die Ersparnis von höheren Pflegesatzkosten im Falle der Verneinung einer Operation durch den Widerspruchsführer stelle für sich allein keinen Bedürfnisgrund dar. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, "den Kläger zur einmaligen Konsultation (Untersuchung und Beratung) auf Überweisung eines Kassenarztes zur Beurteilung einer OP-Indikation zu beteiligen". In Fällen, in denen eine stationäre Behandlung erfolgen müsse, bestehe ein Bedürfnis, den Patienten (zuvor) dem Kläger zuzuweisen. Auf die Berufung der beklagten Berufungskommission und der Beigeladenen Ziffer 1 - KÄV Rheinhessen - hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen. Gründe für die Annahme einer Versorgungslücke seien nicht ersichtlich. Der Kläger habe auch nicht dargetan, daß er über grundlegend andere Fähigkeiten oder Möglichkeiten als niedergelassene Chirurgen zur Beurteilung der Frage verfüge, ob eine Operation indiziert sei. Es sei wegen der Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung auch nicht möglich, den Kläger nur in Fällen der Verneinung einer OP-Indikation eine konsiliarische Beratung abrechnen zu lassen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Wenn das LSG es für richtig halte, daß anstelle von billigerer ambulanter Behandlung die teuerere Krankenhauspflege gewährt wird, so werde nicht mehr "ausreichende" Krankenpflege geleistet, sondern unwirtschaftliche Überversorgung hingenommen. Das LSG hätte dem elementaren Wirtschaftlichkeitsgebot der gesetzlichen Krankenversicherung zum Durchbruch verhelfen müssen. Mit der in § 372 Abs 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) getroffenen Regelung habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, wie eng Krankenhausbehandlung und vorstationäre Diagnostik zusammenhingen; nur die angestrebte Beteiligung des Klägers stelle die notwendige Verzahnung zwischen ambulanter Tätigkeit niedergelassener Kassenärzte und stationärer Krankenhauspflege dar.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 7. Juli 1988 aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen Ziffer 1 gegen das Urteil des SG Mainz vom 30. September 1987 zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladenen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat keine materielle Rechtsnorm verletzt.
Die bis zum Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes vom 20. Dezember 1988 (GRG) - BGBl I 2477 - in Geltung gewesene Bestimmung des § 368a Abs 8 RVO hat die Beteiligung von der Notwendigkeit abhängig gemacht, "eine ausreichende ärztliche Versorgung der Versicherten zu gewährleisten". Bei der Entscheidung darüber, ob in diesem Sinne eine Bedarfslücke besteht (vgl die ab 1. Januar 1989 geltende, durch Art 18 GRG eingeführte Vorschrift des § 31 Abs 1 Zulassungsverordnung für Kassenärzte - Ärzte-ZV -: "sofern dies notwendig ist, um a) eine bestehende oder unmittelbar drohende Unterversorgung abzuwenden ...") haben die Zulassungsinstanzen einen Beurteilungsspielraum, den die Gerichte nur im beschränkten Umfang überprüfen können (BSGE 60, 297, 300). Das LSG hat den insoweit anzuwendenden Rechtsbegriff nicht verkannt. Es hat zutreffend ausgeführt, daß bei der Zahl der niedergelassenen Chirurgen und dem auf den ambulanten Bereich gerichteten Versorgungsangebot des Klägers im Vergleich zu den niedergelassenen Kassenärzten weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht eine Versorgungslücke ersichtlich und dem beklagten Zulassungsgremium daher kein überprüfbarer Rechtsfehler bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs unterlaufen ist. Die dabei vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen wurden vom Kläger durch keine Verfahrensrügen angegriffen. Der Kläger hat diese Feststellungen auch gar nicht bestritten. Seine Revisionsausführungen zielen auch nicht darauf ab, daß das LSG den Begriff der Notwendigkeit der Beteiligung, wie er bisher vom Senat in zahlreichen Entscheidungen ausgelegt wurde, verkannt habe. Mit seinem Begehren, zur ambulanten Untersuchung des Patienten zwecks Beratung des niedergelassenen Kassenarztes über die Indikation einer operativen stationären Behandlung beteiligt zu werden, will der Kläger vielmehr aufgrund seiner Ansicht, dies sei wirtschaftlich zweckmäßiger, den ambulanten Bereich entsprechend erweitert haben und damit dem Rechtsbegriff der "Notwendigkeit" der Beteiligung einen anderen Inhalt geben. Was notwendig ist, eine ausreichende ärztliche Versorgung der Versicherten zu gewährleisten, hängt davon ab, welcher Versorgungsbedarf besteht. Diesen Bedarf festzustellen obliegt der KÄV im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen (§ 12 ZO-Ärzte) und den Verbänden der Ersatzkassen (§ 12 der ab 1. Januar 1989 geltenden Ärzte-ZV). Der Anspruch des Klägers setzt voraus, daß bei der Feststellung, ob eine Bedarfslücke vorliegt, von einer anderen Verteilung zwischen stationärem und ambulantem Leistungsbereich auszugehen wäre. Die Feststellung einer von einer solchen Verlagerung mitbestimmten Bedarfslücke hält der Kläger aus Gründen der Wirtschaftlichkeit für geboten. Zwar wird der hier gemeinte Begriff des Bedarfs auch von dem Begriff der Wirtschaftlichkeit mitbestimmt. Bei der Feststellung, wann ein solcher Bedarf vorliegt und insbesondere unter welchen Voraussetzungen stationär-ambulanter Verteilung seine Wirtschaftlichkeit gegeben ist, hat die Verwaltung einen breiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum, in den die Gerichte allenfalls dann eingreifen können, wenn der Standpunkt der Verwaltung unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheint, seine Unrichtigkeit also evident ist. Diese Voraussetzungen einer gerichtlichen Korrektur sind hier nicht gegeben. Die bisherige Verteilung der stationären bzw ambulanten ärztlichen Aufgaben läßt auch unter dem Gesichtspunkt der vom Kläger angestellten Erwägungen keinen offensichtlichen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot erkennen. Die Ablehnung der vom Kläger begehrten Beteiligung ist daher nicht rechtswidrig. Seine Revision war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen