Entscheidungsstichwort (Thema)
Erfüllung der Wartezeit. Anrechnung von Ersatzzeiten
Orientierungssatz
Die Wartezeit für eine Berufsunfähigkeitsrente ist nicht erfüllt, wenn - statt 60 - nur 54 anrechenbare Beiträge nachgewiesen sind und eine Ersatzzeit, die mit zur Erfüllung der Wartezeit dienen konnte, nicht angerechnet werden kann, da die Vorschrift des § 28 Abs 1 Nr 6 AVG, die zu Gunsten der Vertriebenen iS des Bundesvertriebenengesetzes die Anrechnung dieser Jahre als Ersatzzeiten erstmals erlaubt, nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen gilt, die seit dem Inkrafttreten des AnVNG, also seit dem 1. Januar 1957, eingetreten sind.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23, § 6 Fassung: 1957-02-23; AVG § 26 Fassung: 1957-02-23, § 27 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23, § 5 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.09.1958) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 22.11.1957) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 17. September 1958 wird aufgehoben, ebenso das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 22. November 1957, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, einen neuen Bescheid zu erteilen und die Kosten der Rechtsverfolgung des Klägers zu tragen. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erstrebt eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte erkannte Berufsunfähigkeit seit Juni 1956 an, lehnte aber den Antrag ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 19.11.1956). In Übereinstimmung mit der Beklagten stellte das Landessozialgericht (LSG.) fest, daß für den Kläger - statt 60 - nur 54 anrechenbare Beiträge nachgewiesen sind. Gleichwohl hielt es - wie auch schon das Sozialgericht Schleswig (Urteil vom 22.11.1957) - den Anspruch des Klägers für die Zeit vom Inkrafttreten des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" - AnVNG -, d. h. für die Zeit vom 1. Januar 1957 an für begründet, weil dem Kläger als anerkanntem Heimatvertriebenen zu seinen Beiträgen die Jahre 1945 und 1946 mit 24 Monaten als Ersatzzeiten zur Erfüllung der Wartezeit anzurechnen seien. Es stützte seine Ansicht auf § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG n. F. in Verbindung mit Art. 2 § 8 AnVNG und §§ 26, 27 AVG n. F. (Urteil vom 17.9.1958).
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 19. Dezember 1958 zugestellte Urteil des LSG. am 13. Januar 1959 Revision ein und begründete sie am 16. Februar 1959. Sie beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, soweit sie verurteilt worden sei, und die Klage abzuweisen.
Der Kläger war im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG.) nicht vertreten.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das BSG. ist an die Feststellung des LSG., daß für den Kläger nur 54 Monatsbeiträge nachgewiesen sind, gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Mit diesen Beiträgen ist die Wartezeit, die eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten umfaßt, nicht erfüllt (§ 31 AVG a. F., § 1262 RVO a. F., § 23 Abs. 3 AVG n. F.). Ersatzzeiten, die mit zur Erfüllung der Wartezeit dienen könnten, liegen nicht vor. Die Jahre 1945 und 1946 dürfen dem Kläger nicht als Ersatzzeiten zur Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG n. F., die zu Gunsten der Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes die Anrechnung dieser Jahre als Ersatzzeiten erstmals erlaubt und auf die sich das LSG. bezogen hat, gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die seit dem Inkrafttreten des AnVNG, also seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind. Dies ergibt sich aus Art. 2 § 6 AnVNG, wonach auf vorher eingetretene Versicherungsfälle - beim Kläger ist der Versicherungsfall, die Berufsunfähigkeit, bereits im Juni 1956 eingetreten - grundsätzlich nicht das neue Recht anzuwenden ist. Die Übergangsvorschriften für Versicherungsfälle, die in der Zeit vom 1. April 1945 bis zum 31. Dezember 1956 liegen (Art. 2 §§ 43, 8 AnVNG), führen gleichfalls nicht diese neue Ersatzzeit für diese Versicherungsfälle ein. Art. 2 § 8 AnVNG weist nur auf § 26 AVG n. F. hin, nicht aber auch zugleich über die Klammerzusätze in den §§ 26 und 27 AVG n. F. auf die Ersatzzeitenregelung im § 28 AVG n. F. Das BSG. schließt dies in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut, Zweck- und Sinnzusammenhang der genannten Vorschriften. Der Senat bleibt auch nach erneuter Prüfung der Rechtslage bei dieser Auffassung (vgl. BSG., Sozialrecht § 1251 RVO n. F. Bl. A a 1 Nr. 1). § 28 AVG n. F. findet also auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 liegen, mithin auf den Versicherungsfall des Klägers, keine Anwendung. Damit ist für den Kläger die Wartezeit nicht erfüllt. Er hat keinen Anspruch auf eine Rente aus der Rentenversicherung. Die gegenteilige Meinung der Vorinstanzen ist nicht begründet. Ihre Entscheidungen müssen aufgehoben werden, soweit sie die Beklagte zu Leistungen verpflichten (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen