Orientierungssatz
Zur Berechtigung des "nasciturus" nach dem BVG.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Juni 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der ... geborene Kläger beantragte im Februar 1959 die Gewährung von Versorgung wegen generalisierter Anfälle bei wahrscheinlich frühkindlicher Hirnschädigung, welche er vor der Geburt dadurch erlitten haben will, daß seine Mutter im sechsten Schwangerschaftsmonat gestürzt sei, als sie sich vor plündernden russischen Soldaten habe verstecken wollen. Im Hinblick auf eine ärztliche Stellungnahme des Oberregierungsmedizinalrats Dr. M lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) durch Bescheid vom 24. August 1959 den Rentenantrag ab, weil der ursächliche Zusammenhang der Krampfanfälle mit dem Sturz der Mutter auf der Flucht vor russischen Soldaten unwahrscheinlich sei. Der Widerspruch blieb erfolglos. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Beweis erhoben durch Einholung von Krankengeschichten und Anforderung des nervenfachärztlichen Gutachtens der Universitäts-Nervenklinik Tübingen vom 27. September 1960 (Prof. Dr. W und Dr. I). Durch Urteil vom 14. Juli 1961 hat das SG den Beklagten in Abänderung der Verwaltungsbescheide verurteilt, beim Kläger als Schädigungsfolge organische Hirnschädigung im Sinne der Entstehung anzuerkennen und ab 1. Februar 1959 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. zu gewähren. Es hat ausgeführt, der Kläger sei nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) berechtigt; das schädigende Ereignis, nämlich der Sturz der Mutter im schwangeren Zustande, sei erwiesen und der ursächliche Zusammenhang dieses Sturzes mit der Hirnschädigung des Klägers sei wahrscheinlich.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt und sich besonders gegen die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs gewandt. Durch Urteil vom 28. Juni 1962 hat das Landessozialgericht (LSG) die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger gehöre nicht zum versorgungsberechtigten Personenkreis. Denn nur derjenige sei versorgungsberechtigt, in dessen Person selbst ein Schädigungstatbestand erfüllt sei. Das treffe auf den Kläger nicht zu. Es hat die Revision zugelassen, weil die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, ob die vom Bundessozialgericht (BSG) für die Unfallversicherung entwickelten Rechtsgrundsätze über die Schädigung der Leibesfrucht auch auf die Kriegsopferversorgung anzuwenden sei.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 1 BVG, weil auch der nasciturus zum berechtigten Personenkreis nach dem BVG gehöre.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte und gemäß § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Revision ist begründet.
Das Berufungsgericht hat die angefochtene Entscheidung darauf gestützt, daß der Kläger nicht zu dem Personenkreis zähle, der nach § 1 BVG berechtigt sei. Diese Rechtsauffassung ist nicht frei von Rechtsirrtum, wie auch die gegenteilige Ansicht des SG in ihrer Begründung nicht uneingeschränkt der Rechtslage entspricht. Nach dem Erlaß des angefochtenen Urteils hat sich der 10. Senat des BSG in der in BSG 18, 55 ff abgedruckten Entscheidung eingehend mit der Berechtigung des nasciturus nach dem BVG auseinandergesetzt. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an und macht sie sich zu eigen. Danach enthält das BVG hinsichtlich der Gesundheitsschädigungen eines nasciturus eine echte Lücke, wie sich aus der Entstehungsgeschichte des § 1 BVG ergibt. Diese Lücke hat der Richter in folgender Weise zu schließen: Das BVG will, wie schon seine vollständige Bezeichnung "Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges" besagt, die Opfer des Krieges versorgen. Als Opfer des Krieges muß aber auch eine solche Person angesehen werden, die durch kriegsbedingte und im übrigen als rechtserheblich anerkannte Schädigungstatbestände als Leibesfrucht so betroffen worden ist, daß sich bei ihr nach der Geburt Gesundheitsstörungen als Folgen der Schädigung zeigen. Demgemäß zählt der Kläger zu den Personen, welche nach dem BVG berechtigt sind, so daß ihm Versorgungsansprüche zustehen, falls die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
Der Senat hat - auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 4 des Grundgesetzes (GG) - keinen Anlaß gesehen, eine andere Lücke im Gesetz auszufüllen als die im § 1 BVG. Im Schrifttum hat der Dozent Dr. F (Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1963 S. 236 - Anmerkung zu der oben angegebenen Entscheidung des 10. Senats - und S. 403 bis 410) ausgeführt, die für Fälle der hier zu entscheidenden Art wirklich maßgebende Lücke klaffe nicht im § 1 BVG, sondern im § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), weil dieser die für den nasciturus zu fordernde Teilrechtsfähigkeit nicht berücksichtige. Hierauf hat der Senat nicht einzugehen. Denn einerseits kann zweifelhaft sein, ob die Rechtsfigur einer "Teilrechtsfähigkeit" mit unserem gesetzlich geregelten Rechtssystem vereinbar ist und ob deshalb der Gesetzgeber tätig werden muß; andererseits hat das BVG Fälle der vorliegenden Art nicht geregelt, und es liegt jedenfalls insoweit eine echte Gesetzeslücke vor, wie der 10. Senat (aaO) eingehend nachgewiesen hat. Diese Lücke füllt der erkennende Senat ebenso wie der 10. Senat aus. Es kann auch nicht gesagt werden, der Kläger habe bereits vor der Geburt ein Opfer erbracht (Fabricius aaO S. 236 am Ende). Denn es handelt sich nicht um ein tätiges Opferbringen, sondern um ein leidendes Hinnehmen von Gewalteinwirkungen.
Das in BSG 11 S. 234 ff abgedruckte Urteil des 11. Senats steht - wie bereits der 10. Senat aaO ausgeführt hat - diesem Ergebnis nicht entgegen, weil es sich in jenem Falle um die Entschädigungspflicht für eine mittelbare Schädigung, hier aber um eine unmittelbare Schädigung des nasciturus gehandelt hat. Auch die Rechtsprechung des 2. Senats (BSG 10 S. 97 ff) berührt die hier zutreffende Entscheidung nicht, weil - wie der 10. Senat bereits dargelegt hat (aaO S. 61) - das Recht der Unfallversicherung insoweit anders geregelt ist als das der Kriegsopferversorgung.
Da sonach im Gegensatz zum Berufungsgericht der Kläger als berechtigt nach dem BVG angesehen werden muß, kann das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten bleiben. Eine Entscheidung durch den Senat in der Sache selbst ist nicht möglich, weil das LSG weder zu dem Vorliegen einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a i.V. m. § 5 BVG noch hinsichtlich ihres ursächlichen Zusammenhangs mit den beim Kläger bestehenden Leiden Feststellungen getroffen hat.
Demgemäß war die Sache - wie geschehen - zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen