Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 05.09.1991)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. September 1991 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Vormerkung eines Ersatzzeit- oder Ausfallzeittatbestandes für die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978.

Der im Juni 1926 im Kreis Warschau/Polen geborene Kläger, ein deutscher Staatsbürger, lebte bis Ende März 1976 mit Ehefrau und Tochter in Polen. Durch (nach polnischem Recht illegale) Ausreise kam er Anfang April 1976 in die Bundesrepublik Deutschland. Er bezog vom 13. April 1976 bis zum 14. Oktober 1976 Arbeitslosengeld (Alg). Am 8. Juni 1976 erhielt er den Vertriebenenausweis A. Nachdem seine Bemühungen um die Ausreise von Ehefrau und Tochter auch unter Mithilfe der Bundesregierung erfolglos geblieben waren, begab er sich auf deren Empfehlung und diplomatische Vermittlung im Oktober 1976 wieder nach Polen. Er durfte mit Ehefrau und Tochter zum 1. August 1977 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Sodann war er bis zum 31. März 1978 wieder arbeitssuchend gemeldet und bezog für den Rest der im April 1976 begonnenen Höchstbezugszeit Alg.

Seinen ersten Antrag, die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 als Ausfallzeit vorzumerken, lehnte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mit Bescheid vom 28. November 1986 ab, weil entgegen § 36 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht unterbrochen worden sei. Auf den im November 1988 gestellten Überprüfungsantrag des Klägers hin lehnte die BfA mit dem streitigen Bescheid vom 27. April 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 1989 ab, die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 im Zugunstenwege iS von § 44 Abs 2 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 3 AVG iVm § 29 Abs 1 Fremdrentengesetz (FRG) vorzumerken. Während des nachfolgenden Klageverfahrens traf die Beklagte durch den Bescheid vom 18. August 1989 nochmals die Entscheidung, für den vorgenannten Zeitraum könne kein Ausfallzeittatbestand festgestellt werden. Während des späteren Berufungsverfahrens gewährte die Beklagte dem Kläger, der im März 1991 die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres beantragt hatte, durch Bescheid vom 15. Juli 1991 einen Vorschuß auf diese Rentenleistung, weil der Rentenantrag noch nicht abschließend bearbeitet werden könne.

Das Sozialgericht (SG) Mainz hat die auf Vormerkung einer Ausfallzeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 gerichtete Klage durch Urteil vom 25. Januar 1991 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers, mit welcher dieser erstmals beantragt hatte, die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 „als Versicherungszeit, entweder Ersatzzeit (Vertreibung) oder Ausfallzeit (Arbeitslosigkeit) vorzumerken”, durch Urteil vom 5. September 1991 zurückgewiesen. Das LSG hat ausgeführt: Der streitige Zeitraum vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 sei unter keinem Rechtsgrund als Versicherungszeit vorzumerken. Der Zeitraum des zweiten Aufenthalts in Polen (15. Oktober 1976 bis 1. August 1977) sei keine nach dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen (DPSVA) zu übernehmende polnische Versicherungszeit. Dieser Aufenthalt in Polen sei nicht als Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit anzusehen, weil der Kläger wegen des Auslandsaufenthaltes der deutschen Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe. Die Zeit könne auch nicht als Zeit der Vertreibung nach § 28 Abs 1 Nr 6 AVG festgestellt werden, weil es sich bei dem Aufenthalt in der Bundesrepublik nach der ersten illegalen Ausreise (Zeitraum von April bis Oktober 1976) nicht um einen mißglückten Aussiedlungsversuch handele.

Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 28 Abs 1 Nr 6 AVG, weil seine Vertreibung zum Zeitpunkt der Rückreise nach Polen noch nicht beendet gewesen sei. Er habe von vornherein beabsichtigt, nur zusammen mit seiner Familie auszureisen und sei, weil anders nicht möglich, nur nach Polen zurückgekehrt, um eine schnelle Ausreise seiner Familie zu erreichen. Erst mit seiner zweiten Ankunft in Deutschland sei die Vertreibung beendet gewesen (Hinweis auf Bundessozialgericht – BSG in: SozR 5050 § 15 Nr 27). Das Urteil des erkennenden Senats vom 17. November 1987 (SozR 5050 § 15 Nr 34) stehe dem nicht entgegen, weil der damalige Kläger nach viermonatigem Aufenthalt im Bundesgebiet für fast acht Jahre nach Rumänien zurückgereist und dort wieder beschäftigt gewesen sei. Es bestünden auch sonstige gewichtige Sachverhaltsunterschiede. Auch gebiete der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie (Art 6 Abs 1 des Grundgesetzes – GG; Hinweis auf Bundesverfassungsgericht – BVerfG – in: NJW 1988, 6, 26 ff), das Bemühen um Familienzusammenführung als Teil des Vertreibungsgeschehens zu bewerten. Es könne für den Abschluß der Vertreibung nicht allein auf die Aushändigung des Vertriebenenausweises ankommen, weil vertreibungsbedingte zwingende Gründe für die Rückreise nach Polen vorgelegen hätten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 25. Januar 1991 und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. September 1991 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 27. April 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 1989 und den Bescheid vom 18. August 1989 abzuändern sowie die Beklagte zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 28. November 1986 die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 als Versicherungszeit, entweder Ersatzzeit (Vertreibung) oder Ausfallzeit (Arbeitslosigkeit), vorzumerken.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, das LSG habe überzeugend ausgeführt, daß im streitigen Zeitraum weder der Ausfallzeittatbestand der Arbeitslosigkeit noch der Ersatzzeittatbestand der anschließenden Arbeitslosigkeit erfüllt sei. Entgegen dem Vorbringen der Revision könne der Ersatzzeittatbestand nicht anerkannt werden, weil es entscheidend auf den Zeitpunkt der Erteilung des Vertriebenenausweises ankomme, der nach § 15 Abs 5 Satz 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) Bindungswirkung habe und nicht nur bei Anwendung des FRG, sondern auch bei der des AVG gelte. Der Kläger habe auch – anders als im Urteil des BSG vom 13. Dezember 1984 (SozR 5050 § 15 Nr 27) – von Anfang an dauerhaft in Deutschland bleiben wollen und sei nur zum Zwecke des Nachholens seiner Familie – kurzfristig – nach Polen zurückgekehrt. Eine „Familienvertreibung” kenne das geltende Recht nicht. Das LSG habe in den Mittelpunkt seiner Ausführungen die Frage gestellt, ob der Kläger während der Zeit seines zweiten Aufenthalts in Polen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Der rechtliche Hintergrund dieser Frage sei – was das LSG nicht ausdrücklich ausspreche –, daß nur dann eine Unterbrechung iS von § 36 Abs 1 Nr 3 AVG (jetzt: § 58 Abs 2 des Sechsten Buchs SozialgesetzbuchSGB VI) vorliege. An die Feststellung des LSG, es liege keine nach polnischem Recht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor, sei das Revisionsgericht gebunden; im übrigen handle es sich um Fragen der Beweiswürdigung, gegen welche Revisionsgründe nicht vorgebracht worden seien. Außerdem enthalte das Revisionsvorbringen keine Ausführungen zur – beantragten – Vormerkung einer Ausfallzeit.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des SozialgerichtsgesetzesSGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begründet. Das Urteil des Berufungsgerichts enthält iS von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG keine „Entscheidungsgründe”. Diese fehlen, wenn in der Urteilsbegründung selbst nicht mindestens die Erwägungen zusammengefaßt worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (Urteil des erkennenden Senats vom 15. November 1988; SozR 1500 § 136 Nr 10). Dem Urteil des LSG kann – auch unter Berücksichtigung des Tatbestandes – zwar entnommen werden, daß es richtig erkannt hat, daß die Beteiligten um die Vormerkung von versicherungsrechtlich erheblichen Tatbeständen für die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 31. März 1978 streiten. Es ist dem Urteilstext jedoch nicht zu entnehmen, aufgrund welcher Rechtsvorschriften und unter Berücksichtigung welcher hierfür bedeutsamen Tatsachen das LSG zu dem Ergebnis gelangt ist, „der streitige Zeitraum sei unter keinem Rechtsgrund als Versicherungszeit vorzumerken”. In dem nach dem Einleitungssatz folgenden Text der Entscheidungsgründe behandelt das LSG ausschließlich die Frage, ob die Zeit des zweiten Aufenthaltes des Klägers in Polen eine polnische Versicherungszeit, eine Ausfallzeit oder eine Ersatzzeit sei. Auch den Ausführungen des LSG dazu, weshalb es die Revision zugelassen hat, sind die tragenden rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung nicht zu entnehmen. Da es dem Revisionsgericht verwehrt ist, die – von der BfA angeregten – Vermutungen darüber anzustellen, aufgrund welcher Rechtsauffassung die Ausführungen des Berufungsgerichts rechtserheblich sein können, war das Urteil des Berufungsgerichts schon mangels hinreichender Überprüfbarkeit aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Bei der weiteren Sachbehandlung wird das LSG folgendes zu erwägen haben:

Obwohl das Verfahren auf Vormerkung versicherungsrechtlich erheblicher Tatbestände nach § 149 Abs 5 SGB VI (früher: § 104 Abs 3 AVG), in dem alle streitigen Bescheide ergangen sind, ausschließlich darauf gerichtet ist, „Versicherungszeiten”-tatbestände nur für einen in der Zukunft liegenden Versicherungsfall rechtsverbindlich festzustellen, beim Kläger aber der letzte Versicherungsfall bereits im Juni 1991 eingetreten ist, wird im vorliegenden Rechtsstreit das Interesse an der Durchführung des Berufungsverfahrens nicht schon aus diesem Grunde abzulehnen sein. Denn die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Gewährung von Altersruhegeld noch nicht durch einen das Verwaltungsverfahren abschließenden Verwaltungsakt beschieden, sondern lediglich einen „Vorschußbescheid”, also einen einstweiligen Verwaltungsakt erteilt, der nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist (§ 96 SGG). Es kann dem Kläger aber nicht zum Nachteil gereichen, daß die Beklagte durch diese Vorgehensweise die Gefahr hervorgerufen hat, daß nach Erteilung des Rentenbewilligungsbescheides die Frage erneut zur gerichtlichen Prüfung gestellt wird, ob der Kläger im umstrittenen Zeitraum einen Ersatz- oder Ausfallzeittatbestand erfüllt hat, der – was nur Gegenstand des künftigen Rechtsstreits sein könnte -rentensteigernd anzurechnen ist. Denn sogar eine rechtskräftige Bestätigung der Ablehnung der Vormerkung solcher Tatbestände steht – wegen des begrenzten Zwecks des Vormerkungsverfahrens – einem späteren, evtl mit neuen Tatsachen begründeten Antrag des Klägers nicht entgegen, zu seinen Gunsten „Versicherungszeiten” über den im bindenden Vormerkungsbescheid festgestellten Umfang hinaus zu berücksichtigen. Sollte die Beklagte, die sich im Blick auf den streitigen Zeitraum selbst eine abschließende Meinung bilden muß und grundsätzlich nicht auf den Ausgang eines durch den letzten Versicherungsfall überholten Vormerkungsverfahrens warten darf, nunmehr den Rentenbewilligungsbescheid erteilen, würde dieser die streitigen Bescheide iS von § 96 SGG ersetzen.

Erläßt die BfA hingegen keinen ihr Verwaltungsverfahren abschließenden Verwaltungsakt, wird das LSG zunächst klären müssen, ob die im Berufungsverfahren erfolgte Klagänderung (§ 99 SGG) zulässig war, insbesondere, ob der Antrag des Klägers schon wegen Unbestimmtheit unzulässig ist, weil er eine unzulässige alternative Klagehäufung enthalten könnte. Hierbei wird – falls der Kläger den Antrag nicht ändert – zu prüfen sein, ob eine Umdeutung in einen Haupt- und Hilfsantrag erfolgen kann und welche Bedeutung es darüber hinaus hat, daß in den streitigen Bescheiden keine Regelung darüber getroffen worden ist, ob im umstrittenen Zeitraum ein Ersatzzeittatbestand erfüllt worden ist.

Sollte das LSG – ggf nach entsprechenden Handlungen der Beteiligten – zu dem Ergebnis kommen, es habe in der Sache darüber zu befinden, ob im umstrittenen Zeitraum ein Ersatzzeittatbestand iS von § 28 Abs 1 Nr 6 AVG erfüllt worden ist, wird es folgendes zu erwägen haben: Der Senat hat, worauf ausdrücklich hingewiesen wird, darauf erkannt, daß der Abschluß der Vertreibung durch die Aushändigung des Vertriebenenausweises A verbindlich festgestellt wird (SozR 5050 § 15 Nr 34; vgl BSG, Beschluß vom 14. Februar 1990 – 1 BA 95/88; Bundesverwaltungsgericht – BVerwG – in: Buchholz 427.7 § 60 RepG Nr 6). Ob der streitige Zeitraum einer – vom LSG im einzelnen noch zu klärenden – „unverschuldeten Arbeitslosigkeit” (dazu BSG SozR 2200 § 1251 Nr 80 mwN) des Klägers ab August 1977 noch an die Beendigung der Vertreibung im Juni 1976 „anschloß”, sie sich also als Fortdauer des durch die Zuwendung einer Vertreibungsersatzzeit zu entschädigenden erzwungenen Aufopferungstatbestandes darstellt, oder ob die Zwischenzeit, insbesondere der zweite Aufenthalt des Klägers in Polen, als sog Überbrückungstatbestand (dazu BSG SozR 2200 § 1251 Nr 50 mwN) den „Anschluß” im Rechtssinne wahrt, wird das LSG unter Berücksichtigung – auch der wertsetzenden Bedeutung der Verpflichtung des Staates zum Schutz von Ehe und Familie durch Art 6 Abs 1 GG – unter Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles (vgl BSG SozR 2200 § 1251 Nr 16) und im Blick auf möglicherweise vorliegende „zwingende Gründe” für eine Rückkehr nach Polen (vgl insoweit BSG SozR 5050 § 15 Nr 27 S 88f) zu prüfen haben.

Im Blick auf die Vormerkung eines Ausfallzeittatbestandes wird das LSG gleichfalls im einzelnen zu erwägen haben, ob die Zeit des zweiten Aufenthaltes des Klägers in Polen als sog Überbrückungstatbestand (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1259 Nr 94 S 252f; SozR aaO § 1259 Nr 99) die beiden Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland miteinander verbindet, zumal das LSG nach seinen bisherigen Feststellungen davon ausgeht, daß der Kläger im Anwendungsbereich des DPSVA nicht nach polnischem Recht rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen war und nur aus besonderen, im Lichte von Art 6 Abs 1 GG für ihn unabwendbaren Gründen, nämlich „um seine beiden Familienangehörigen legal in die Bundesrepublik holen zu können” (S 9 im LSG-Urteil), „der deutschen Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden” (S 7 im LSG-Urteil) hat.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173820

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