Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff des öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsanspruchs. keine entsprechende Anwendung des § 149 SGG auf die Zuzahlungspflicht nach § 20 Abs 1 AVG
Leitsatz (amtlich)
Bei einer Streitigkeit wegen Zuzahlung zu Heilbehandlungskosten (§ 20 Abs 1 AVG idF des HBegleitG 1983) ist die Berufung zulässig.
Orientierungssatz
1. Unter öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsansprüchen versteht das Gesetz in der Hauptsache die Ansprüche auf Erstattung bereits erbrachter Sozialleistungen, die, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben wurde, ohne Rechtsgrund, und soweit sie ohne Verwaltungsakt erbracht wurden, zu Unrecht geleistet worden sind (§ 50 Abs 1 und 2 SGB 10); weitere Erstattungsansprüche enthalten die besonderen Teile des SGB (§ 37 SGB 1). § 20 Abs 1 AVG (Fassung: 1982-12-20) kann Erstattungsregelungen dieser Art weder vom Wortlaut noch von Sinn und Zweck zugerechnet werden.
2. Die Zuzahlungspflicht nach § 20 Abs 1 AVG (= § 1243 Abs 1 RV0) ist eine selbständige, dem Versicherungsträger gegenüber bestehende gesetzliche Pflicht zur Zahlung, die, wenn sie auch auf einem sozialrechtlichen Leistungsverhältnis beruht, weder den Rechtsgrund noch die Rechtmäßigkeit der erbrachten Leistung berührt (vgl BSG 11.6.1986 1 RA 51/85).
3. Die Zuzahlung stellt eine besondere Art von Kostenbeteiligung dar. Der Versicherte soll damit Vorteile ausgleichen, die ihm durch die Sachleistung erwachsen. Ob sie damit, wirtschaftlich betrachtet, als eine durch "Rückzahlung" reduzierte Leistung des Versicherungsträgers erscheint, mag dahinstehen; eine entsprechende Anwendung von § 149 Alt 2 SGG auf die Zuzahlung ist damit gleichwohl nicht gerechtfertigt.
Normenkette
SGG §§ 143-144, 149 Alt 2; AVG § 20 Abs 1 Fassung: 1982-12-20; RVO § 1243 Abs 1 Fassung: 1982-12-20; SGB 10 § 50 Abs 1; SGB 10 § 50 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 29.05.1985; Aktenzeichen L 13 An 209/84) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 17.07.1984; Aktenzeichen S 6 An 15/84) |
Tatbestand
Streitig ist eine Zuzahlung des Klägers zu den Kosten einer Heilmaßnahme nach § 20 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 (HBegleitG) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857).
Die Beklagte bewilligte dem Kläger im Juli 1982 eine stationäre Heilbehandlung in einer Kurklinik, die auf seinen Wunsch erst vom 6. Januar bis 17. Februar 1983 durchgeführt wurde. Der Bewilligungsbescheid enthielt keinen Hinweis auf eine Zuzahlungspflicht des Klägers. Mit Bescheid vom 31. August 1983 forderte die Beklagte eine Zuzahlung zur Heilbehandlung von 10,-- DM für jeden Kalendertag = 420,-- DM insgesamt. Den Widerspruch des Klägers wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 1984).
Die Klage hatte keinen Erfolg. Nach der dem Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 17. Juli 1984 beigegebenen Rechtsmittelbelehrung kann es mit der Berufung angefochten werden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 29. Mai 1985). Nach seiner Ansicht ist § 149 zweite Alternative des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - Unzulässigkeit bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen, wenn der Beschwerdewert 1.000,-- DM nicht übersteigt - entsprechend anzuwenden. Unter Leistung iS des Gesetzes sei jede Leistung eines Versicherungsträgers zu verstehen. Die Zuzahlungsverpflichtung nach § 20 Abs 1 AVG stelle eine Art Selbstbeteiligung an der Sachleistung Heilverfahren dar; Gläubiger der Selbstbeteiligung sei der Versicherungsträger. Die Zuzahlung sei somit nur vordergründig eine Leistung des Versicherten. Da sie wirtschaftlich gesehen den Umfang der vom Versicherungsträger zu erbringenden Leistung mindere, der - ähnlich wie bei einer Überzahlung - wertmäßig mehr geleistet habe als zustehe, könne er den überschießenden Teil zurückfordern; die Interessenlage sei der in § 149 SGG damit ähnlich. In solcherart Fällen habe das Bundessozialgericht (BSG) eine analoge Anwendung von § 149 SGG für richtig erachtet.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 149 SGG. Die Sonderregelung erfasse Fälle, in denen von den Versicherungsträgern erbrachte, ihrer Natur nach erstattungsfähige Leistungen zurückzuerstatten seien. Schon daran fehle es. Ferner müßten die Leistungen ohne Rechtsgrund erfolgt sein. Hier habe im Zeitpunkt des Bewilligungsbescheides ein Rechtsgrund bestanden, der durch die Gesetzesänderung nicht entfallen könne.
Der Kläger beantragt, die vorinstanzlichen Urteile und die angefochtenen Bescheide aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist dahingehend begründet, daß das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Zu Unrecht hat das LSG nicht in der Sache entschieden, die Berufung vielmehr als unzulässig verworfen. Das hätte nur geschehen dürfen, wenn einer der in den §§ 144 bis 149 SGG aufgeführten Berufungsausschließungsgründe gegeben wäre. Dies ist indes nicht der Fall.
§ 149 zweite Alternative SGG, auf den das LSG seine Entscheidung gestützt hat, kommt unmittelbar nicht zur Anwendung, weil es sich nicht um eine Streitigkeit wegen Rückerstattung von Leistungen mit einem Beschwerdewert bis 1.000,-- DM handelt. Unter öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsansprüchen versteht das Gesetz in der Hauptsache die Ansprüche auf Erstattung bereits erbrachter Sozialleistungen, die, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben wurde, ohne Rechtsgrund, und soweit sie ohne Verwaltungsakt erbracht wurden, zu Unrecht geleistet worden sind (§ 50 Abs 1 und 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - SGB 10 -); weitere Erstattungsansprüche enthalten die besonderen Teile des SGB (§ 37 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - SGB 1 -). § 20 Abs 1 AVG, der aufgrund von Art 20 Nr 5 HBegleitG 1983 mit Wirkung vom 1. Januar 1983 in das AVG eingefügt worden ist, kann Erstattungsregelungen dieser Art weder vom Wortlaut noch vom Sinn und Zweck zugerechnet werden; er wird von § 149 zweite Alternative SGG daher nicht erfaßt. Auch eine mittelbare Anwendung kommt nicht in Betracht.
Zwar ist dem LSG beizupflichten, daß die in § 20 Abs 1 Satz 1 AVG normierte Zuzahlungspflicht zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung im Zusammenhang mit einer vom Versicherungsträger erbrachten Sachleistung steht. Entgegen dem LSG besteht der Zusammenhang aber nicht darin, daß die Sachleistung in Höhe der Zuzahlung "überzahlt" und darum (nach § 50 Abs 1 oder 2 SGB 10 bzw nach § 42 Abs 2 SGB 1) in Geld zu erstatten wäre. Wie der 1. Senat des BSG in der Entscheidung vom 11. Juni 1986 - 1 RA 51/85, zur Veröffentlichung vorgesehen - meint vielmehr auch der erkennende Senat, daß die Zuzahlungspflicht nach § 20 Abs 1 AVG eine selbständige, dem Versicherungsträger gegenüber bestehende gesetzliche Pflicht zur Zahlung darstellt, die, wenn sie auch auf einem sozialrechtlichen Leistungsverhältnis beruht, weder den Rechtsgrund noch die Rechtmäßigkeit der erbrachten Leistung berührt. Auch nach § 20 AVG schuldet und erbringt der Versicherungsträger die Sachleistung in vollem Umfang; die Bewilligung und Durchführung der Heilmaßnahme darf von der Zuzahlung nicht abhängig gemacht werden (BT-Drucks 9/2140 S 101). Diese Zahlung stellt eine besondere Art von Kostenbeteiligung dar. Der Versicherte soll damit Vorteile ausgleichen, die ihm durch die Sachleistung erwachsen. Ob sie damit, wirtschaftlich betrachtet, als eine durch "Rückzahlung" reduzierte Leistung des Versicherungsträgers erscheint, wie das LSG zur Stützung seiner Rechtskonstruktion anführt, mag dahinstehen; eine entsprechende Anwendung von § 149 zweite Alternative SGG auf die Zuzahlung wäre damit gleichwohl nicht gerechtfertigt.
Denn in jedem Falle steht, wie der Senat zur Ausschlußregelung des § 146 SGG eingehend und - darauf zurückgreifend - auch zu § 149 SGG bereits dargelegt hat (SozR 1500 § 146 Nr 16; SozR 1500 § 144 Nr 25; s ferner auch SozR 1500 § 146 Nr 8 mit Hinweisen), einer entsprechenden Anwendung der Grundsatz der Rechtsmittelklarheit entgegen, der noch stärker als der Ausnahmecharakter (s hierzu SozR 1500 § 149 Nr 7) die Möglichkeiten einer erweiternden Auslegung einschränkt; er erfordert es, die Zulässigkeit von Rechtsmitteln möglichst von Zweifeln freizuhalten (so Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 16. März 1976 in SozR 1500 § 161 Nr 18), indem eine restriktive, vornehmlich am Wortlaut orientierte Auslegung erfolgt. Bei einer solchen Handhabung lassen sich die Erwägungen des LSG nicht halten. Eine allenfalls aus der Sicht des Versicherungsträgers resultierende "Ähnlichkeit" der Zuzahlungsforderung mit einer Rückforderung wegen erfolgter Überzahlung rechtfertigt die analoge Anwendung von § 149 SGG nicht; die Interessenlage bei einer Streitigkeit wegen Rückerstattung von Leistungen ist der Interessenlage bei einer Streitigkeit wegen Zuzahlungsverpflichtung nach § 20 AVG nicht ähnlich (s hierzu SozR 1500 § 149 Nr 7; Urteil des 1. Senats vom 11. Juni 1986 - 1 RA 51/85 -).
Daß die Streitigkeiten aus § 20 AVG in der Regel eine verhältnismäßig geringe Bedeutung haben mögen, kann am Ergebnis nichts ändern. Das SGG enthält keinen generellen Berufungsausschluß für Bagatellsachen (SozR 1500 § 144 Nr 21); speziell in § 149, der die Sonderregelung für die Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge (so der erkennende Senat in SozR 1500 § 144 Nr 22 mwH) sowie zu Unrecht erbrachter Leistungen enthält (Urteil des 1. Senats aaO), ist ein dahingehender allgemeiner Grundsatz nicht verankert.
Andere Berufungsausschließungsgründe greifen nicht Platz. In Sonderheit von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG werden nach ständiger Rechtsprechung des BSG allein die von öffentlich-rechtlichen Leistungsträgern zu gewährenden Sozialleistungen erfaßt, nicht jedoch die von den Trägern gegen den einzelnen Staatsbürger erhobenen Zahlungsansprüche (SozR 1500 § 144 Nrn 21 und 26 mwH). Nach alledem hat es bei der Zulässigkeit der Berufung nach der Grundregel des § 143 SGG zu bleiben (so auch Urteil des 3. Senats vom 15. Januar 1986 - 3 RK 61/84 - zu Zuzahlungen aufgrund von § 182e Satz 2 RVO; Urteil des 1. Senats aaO).
Hiernach hätte das LSG die Berufung des Klägers nicht durch Prozeßurteil verwerfen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Das Revisionsgericht kann in einem solchen Fall ausnahmsweise in der Sache entscheiden, wenn die Klage schon nach dem Klagevorbringen zweifelsfrei unbegründet ist, ohne daß es weiterer Feststellungen des Berufungsgerichts hierzu bedarf (SozR 1500 § 146 Nr 34 mwN). Davon ist vorliegend indes nicht auszugehen. Hier läßt sich aus dem festgestellten Sachverhalt nämlich nicht entnehmen, ob die Beklagte bei ihrer Entscheidung das ihr in § 20 Abs 5 AVG eingeräumte "Bestimmungsrecht" in Erwägung gezogen hat, bei unzumutbarer Belastung des Versicherten von der Zahlung nach Abs 1 abzusehen (vgl hierzu den erkennenden Senat im Urteil vom 20. März 1986 - 11a RA 14/85 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Auch könnte bei den gegebenen Fallumständen - Bewilligung der Kur im Juli 1982, Kurantritt am 6. Januar 1983 - für eine Sachentscheidung von Bedeutung sein, ob für den Kläger ersichtlich sein mußte, daß das nach altem Recht bewilligte Heilverfahren von der Neuregelung durch das HBegleitG 1983 erfaßt werden würde. Ermittlungen darüber sind dem LSG vorbehalten, das auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu treffen haben wird.
Fundstellen