Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen Feststellungsbescheides
Leitsatz (redaktionell)
1. Da von RVO § 1744 nur Leistungsbescheide erfaßt werden, sind für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Nichtleistungsbescheide die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts, wie sie in VwVfG § 48 Abs 1, 2 und 3 zum Ausdruck kommen und den bisherigen allgemeinen und ungeschriebenen Grundsätzen des Verwaltungsrechts entsprechen, anzuwenden. Das Vertrauen des Versicherten auf den Bestand des Verwaltungsakts ist nicht schutzwürdig, wenn auf Grund des Bescheides (hier: SVFAG-Wiederherstellungsbescheid) weder Leistungen erhalten noch eine Vermögensdisposition getroffen wurden. Vielmehr überwiegt das Interesse der Versichertengemeinschaft an der Herstellung der wahren Rechtslage.
2. Soweit die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte anzuwenden waren (in der Sozialversicherung bei Nichtleistungsbescheiden), besteht kein Anlaß, die Rechtslage seit dem Inkrafttreten des VwVfG vom 1976-05-25 anders zu sehen. Waren es bisher die ungeschriebenen Grundsätze des Verwaltungsrechts, die zur Lückenausfüllung im Verfahrensrecht (der Sozialversicherung) herangezogen wurden, so ist es jetzt die inzwischen erfolgte Kodifikation, die im wesentlichen das gleiche besagt. Die allgemeinen Grundsätze, die in VwVfG § 48 Abs 1, 2 und 3 zum Ausdruck kommen und den bisherigen allgemeinen und ungeschriebenen Grundsätzen des Verwaltungsrechts entsprechen, treffen auch hier zu.
Normenkette
RVO § 1744 Fassung: 1953-09-03; VwVfG § 48 Abs. 1 Fassung: 1976-05-25, Abs. 2 Fassung: 1976-05-25, Abs. 3 Fassung: 1976-05-25; SVFAG § 1 Abs. 2 Nr. 2 S. 2 DBuchst cc; FRG § 1 Buchst. b Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.07.1976; Aktenzeichen L 5 Ar 214/74) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 19.02.1974; Aktenzeichen S 4 Ar 506/72) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 1976 und des Sozialgerichts Würzburg vom 19. Februar 1974 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe und Rechtsnachfolgerin des im Jahr 1906 in H (S), Rumänien, geborenen und im Jahr 1975 im Bundesgebiet verstorbenen Rentners Ferdinand W. Dieser war im Jahr 1938 von H nach Deutschland umgezogen. Er war nicht als Vertriebener anerkannt. Auf seinen Antrag stellte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Oktober 1958 fest, daß die Zeit seiner versicherungspflichtigen Tätigkeit vom 1. Januar 1933 bis 31. August 1938 als Monteur in Rumänien nach §§ 4 und 6 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) iVm dem Erlaß des Bundesarbeitsministers (BAM) vom 8. Februar 1955, BABl 1955, 164, glaubhaft gemacht sei. Dabei ging sie offenbar davon aus, daß der Versicherte zu dem vom FAG begünstigten Personenkreis gehöre, weil er zwar unabhängig von den Kriegsauswirkungen seinen Wohnsitz im Bereich der Bundesrepublik Deutschland begründet habe, jedoch infolge der Kriegsauswirkungen den rumänischen Versicherungsträger nicht mehr in Anspruch nehmen könne (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 Buchst. cc FAG). Im Bescheid heißt es weiter:
"Die glaubhaft gemachten Versicherungszeiten werden im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen für Wartezeit und Anwartschaft angerechnet und bei der Rentenberechnung im Leistungsfalle nach den dann hierfür geltenden Vorschriften (z. Zt. nach der Ersten DVO zum FAG vom 31.7.1954, BGBl I S. 245, Tabelle Anlage 2) berücksichtigt."
Schließlich enthält der Bescheid folgenden "Vorbehalt":
Die mit diesem Bescheid getroffenen Feststellungen verlieren ihre Rechtswirkung, sobald und soweit die amtlichen Versicherungsunterlagen oder sonstige amtliche Unterlagen, aus denen sich die Unrichtigkeit der in diesem Bescheid getroffenen Feststellungen ergibt, aufgefunden oder zugänglich werden. Der Bescheid wird u. a. widerrufen, wenn sich herausstellt, daß Tatsachen, die für die mit diesem Bescheid getroffenen Feststellungen von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen worden sind.
Der Bescheid ist nicht angefochten worden.
Auf den Antrag des Versicherten hin bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 20. Dezember 1971 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von August 1971 und Altersruhegeld von Januar 1972 an. Dabei rechnete sie die Zeiten in Rumänien nicht an, weil der Umstand, daß der Versicherte den rumänischen Versicherungsträger nicht in Anspruch nehmen könne, nicht auf den Kriegsauswirkungen (vgl. § 1 Buchst. b des Fremdrentengesetzes - FRG - vom 25. Februar 1960, BGBl I 93) beruhe; der rumänische Versicherungsträger habe auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg keine Renten an Deutsche in Deutschland gezahlt.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht den Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. August 1938 bei der Berechnung des Altersruhegeldes als glaubhaft gemachte Versicherungszeit zu berücksichtigen (Urteil vom 19. Februar 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Versicherungszeit von 1933 bis 1938 auch bei der Berechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. August 1971 zu berücksichtigen ist (Urteil vom 27. Juli 1976). In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, die Bindungswirkung eines nach dem FAG erlassenen Bescheides über die Feststellung von Versicherungszeiten entfalle nur, soweit das Gesetz etwas anderes bestimme, das sei aber hier nicht der Fall.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 1 Buchstabe b FRG. Auf die Revisionsbegründung vom 25. Oktober 1976 wird Bezug genommen. Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig; auf den Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 16. März 1977 wird Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 20. Dezember 1971 ist rechtmäßig.
Das Berufungsgericht hat die Beklagte für verpflichtet angesehen, ihren Bescheid vom 3. Oktober 1958 bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen, weil dieser Bescheid weder gegenstandslos sei noch aufgehoben werden könne. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Dabei mag hier dahinstehen, ob ein unter der Herrschaft des FAG erlassener Bescheid nur vorläufige Bedeutung gehabt hat und mit dem Inkrafttreten des FRG gegenstandslos geworden ist, wie in früheren Urteilen, die die Bedeutung ähnlicher Bescheide für Entscheidungen nach der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) betrafen, ausgeführt ist (BSG SozR Nr. 90 zu § 77 SGG; SozR 5745 § 3 Nr. 2). Denn jedenfalls hat die Beklagte den früheren Bescheid in zulässiger Weise zurückgenommen. Der Bescheid vom 20. Dezember 1971 enthält u. a. den Satz: "Eine Anerkennung der Lehr- und Beschäftigungszeiten in Rumänien kann nicht erfolgen, da sie nicht unter Par. 1 FRG fallen". Damit hat die Beklagte ihren früheren Bescheid vom 3. Oktober 1958 zurückgenommen.
Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme kommt allerdings nicht § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Frage. Denn von dieser Vorschrift werden grundsätzlich nur Leistungsbescheide erfaßt (BSGE 15, 252, 256; SozR Nr. 17 zu § 381 RVO; BSGE 31, 190, 194). Aber zur Ausfüllung der Gesetzeslücke, die hinsichtlich der Rücknahme rechtswidriger begünstigender Nichtleistungsbescheide besteht, kommen die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts in Frage. Das war jedenfalls bei zum Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl I 1253) am 1. Juni 1976 ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (§ BSGE 15, 252, 256; 17, 295, 298; 20, 293, 296; SozR Nr. 40 zu § 1246 RVO; BSGE 30, 17, 20; 31, 190, 195). Es besteht kein Anlaß, die Rechtslage seit dem Inkrafttreten des VwVfG anders zu sehen. Waren es bisher die ungeschriebenen Grundsätze des Verwaltungsrechts, die zur Lückenausfüllung im Verfahrensrecht der Sozialversicherung herangezogen wurden, so ist es jetzt die inzwischen erfolgte Kodifikation, die im wesentlichen das gleiche besagt. Im übrigen ist damit zu rechnen, daß das Zehnte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB) die Regeln des VwVfG im wesentlichen übernehmen wird (Thieme, Aktuelle Probleme des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens, SGB 1977, 1, und Dörr, DAngVers 1977, 130, 133). Die allgemeinen Grundsätze, die in § 48 Abs. 1, 2 und 3 VwVfG zum Ausdruck kommen und den bisherigen allgemeinen und ungeschriebenen Grundsätzen des Verwaltungsrechts entsprechen, treffen auch hier zu.
Der Bescheid vom 3. Oktober 1958 war ein begünstigender Verwaltungsakt. Er war rechtswidrig. Da der Versicherte weder Vertriebener noch Verfolgter (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 Buchst. aa und bb FAG) war, konnte er zum Personenkreis des FAG nur dann gehören, wenn er den rumänischen Versicherungsträger "infolge der Kriegsereignisse" nicht in Anspruch nehmen konnte. Das Gesetz macht die Zugehörigkeit eines Staatsangehörigen zu dem berechtigten Personenkreis davon abhängig, daß jener Rechte oder Anwartschaften gegenüber einem ausländischen Versicherungsträger erworben hat, sie aber infolge der Kriegsauswirkungen gegenwärtig nicht realisieren kann (BSGE 21, 151, 152 für die insoweit gleichlautende Vorschrift des § 1 Buchst. b FRG). Diese Voraussetzung lag und liegt nicht vor. Der Versicherte hatte ein Recht oder eine Anwartschaft auf Auszahlung einer rumänischen Rente niemals erworben. Die Kriegsereignisse waren sonach auch nicht ursächlich für den Umstand, daß er eine solche Rente nicht erhält. Das hat das Berufungsgericht festgestellt; es ergibt sich auch aus anderen Quellen (Verbands-Kommentar, Anm. 10 zu § 1 FRG). Nach dem rumänischen Gesetz über die Vereinheitlichung der Sozialversicherung vom 7. April 1933 (abgedruckt bei Schmidt, Rumänische Sozialversicherung, Berlin 1956, S. B 102 ff) ruhten Renten aller Art, falls sich der Versicherte im Ausland aufhält (Kapitel II § 10 Art. 36 Buchst. b). In zwischenstaatlicher Hinsicht bestand eine deutsch-rumänische Vereinbarung über Sozialversicherung vom 23. August 1941 (AN 1942 S. II 130 f), die hier bereits deshalb nicht anwendbar ist, weil sie lediglich rumänische Arbeitskräfte betrifft, die auf Grund amtlicher Vermittlung im Deutschen Reich beschäftigt gewesen sind und während dieser Zeit der deutschen Rentenversicherung angehört haben (vgl. auch Dähler in SozVers 66, 103, 104). Auch das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über Sozialversicherung vom 29. Juni 1973 (BGBl II 1974, 698) erfaßt nicht den Fall des Versicherten.
Der rechtswidrige Bescheid vom 3. Oktober 1958 durfte zurückgenommen werden. Die Rücknahme wäre nur dann unzulässig gewesen, wenn der Versicherte auf den Bestand des Bescheides vertraut hätte und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig wäre. Zwar mag der Versicherte auf den Bestand vertraut haben. Sein Vertrauen ist aber nicht schutzwürdig. Denn jedenfalls hier überwiegt das Interesse der Versichertengemeinschaft an der Herstellung der wahren Rechtslage. Der Versicherte hat aufgrund des Bescheides weder Leistungen erhalten noch eine Vermögensdisposition getroffen.
Auf die Revision der Beklagten war daher unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen