Entscheidungsstichwort (Thema)

Bisheriger Beruf in EG-Land. Verweisungsberuf für angelernten Fliesenleger

 

Orientierungssatz

1. Bisheriger Hauptberuf kann auch ein in einem anderen Land der EWG ausgeübter Beruf sein. Auch eine in einem EWG-Land erworbene Qualifikation kann für die Frage maßgebend sein, von welchem Hauptberuf auszugehen ist (vgl BSG vom 12.9.1979 - 5 RJ 76/78).

2. Ein angelernter Fliesenleger, der Jahre lang die an sich zu den Facharbeiten gehörenden Tätigkeiten des Fliesenlegers jedenfalls in einem Teilbereich ausgeübt hat, gehört zu der Gruppe der sogenannten gehobenen Angelernten. Ihm ist daher ein konkreter Verweisungsberuf zu benennen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.08.1983; Aktenzeichen L 9 J 402/83)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 16.12.1982; Aktenzeichen S 12 J 3402/81)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1935 geborene Kläger - ein italienischer Staatsangehöriger - hat keinen Beruf erlernt. Er war - nach seinen Angaben - in Italien von 1960 bis 1974 als Fliesenleger tätig. In der Bundesrepublik Deutschland war er von Mai 1976 bis Juni 1980 mit Unterbrechungen durch Krankheit, Heilbehandlungen und Arbeitslosigkeit als Fliesenleger beschäftigt. Bei der Beklagten sind deutsche Beiträge für 48 Monate verbucht. Im Dezember 1980 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 16. Oktober 1981). Auch der italienische Sozialversicherungsträger lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 17. März 1983).

Die L.                               W.          gewährte dem Kläger vom 12. Januar 1982 bis 9. Februar 1982 Heilbehandlung und vom 12. Januar 1982 bis 16. Februar 1982 Übergangsgeld.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 22. August 1983). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei angelernter Arbeiter. Er habe den Beruf des Fliesenlegers (Baufacharbeiter mit der Schwerpunktausbildung Fliesen-, Platten- und Mosaikarbeiten) nicht erlernt und auch nicht vollwertig ausgeübt. Er habe die praktischen Arbeiten auf diesem Gebiet nicht einwandfrei ausgeführt. Der Kläger sei noch in der Lage, bis mittelschwere Arbeiten ohne wesentlich qualitative Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Als angelernter Arbeiter brauche ihm keine Verweisungstätigkeit konkret benannt zu werden.

Der Kläger hat die auf Nichtzulassungsbeschwerde hin zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 1241d, 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Ihm sei ein Verweisungsberuf konkret zu benennen. Der Anspruch auf das sog vorgezogene Übergangsgeld bestehe unabhängig davon, ob Berufsunfähigkeit vorliege. Das Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis 11. Januar 1982 sei also auf jeden Fall zu zahlen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. Dezember 1982 sowie den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis zum 11. Januar 1982 Übergangsgeld und ab 17. Februar 1982 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Auch das in diesem Rechtsstreit auf Vorlage des Bundessozialgerichts (BSG) erlassene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Juni 1988 (20/85) führe nicht aus, daß Art 48 des EWG-Vertrages (Freizügigkeit) verletzt werde, wenn die Qualifikation des Arbeitnehmers allein nach der Beschäftigung im Inland beurteilt werde. Die Ungültigkeit der Nr 15 des Anhangs VI Abschnitt C der EWG-Verordnung (EWG-VO) 1408/71 ergebe sich nach diesem Urteil daraus, daß diese Vorschrift "im Rahmen der Koordinierung der nationalen Vorschriften, die in Art 51 EWG-Vertrag vorgesehen ist, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zu fördern, keinen Platz hat". Das bedeute nichts anderes, als daß die von den deutschen Rentenversicherungsträgern erbetene Klarstellung, die durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. November 1978 (BSGE 47, 183 = SozR 2600 § 45 Nr 24) veranlaßt gewesen sei, nicht im EG-Recht, wohl aber in den nationalen Vorschriften, erfolgen könne.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Ob der Kläger berufsunfähig ist, läßt sich erst nach Ermittlungen weiterer Tatsachen feststellen. Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dafür, daß der Versicherte die "gesetzliche Lohnhälfte" des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO noch verdienen kann, spricht in der Regel eine Vermutung, wenn der Versicherte noch vollschichtig eine zumutbare Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ausüben kann (BSG 17. November 1987 - 5b RJ 10/87 -; BSG SozR Nr 3 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1246 Nr 60). Ob der Kläger demnach eine zumutbare Tätigkeit ausüben kann, ist noch nicht geklärt. Ausgangspunkt für die Beurteilung eines gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren Verweisungsberufes ist der bisherige Beruf des Versicherten, wobei nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ein abgestuftes Berufsgruppenschema zugrunde zu legen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 140, 143 mwN). Dieses Mehrstufenschema gliedert die Arbeiterberufe nach verschieden "Leitberufen", nämlich demjenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters. Grundsätzlich darf der Versicherte jeweils auf die niedrigere Gruppe verwiesen werden. Denn das Gesetz sieht den Versicherten nicht schon dann als berufsunfähig an, wenn er seinen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, sondern es verlangt, daß der Versicherte, ausgehend von diesem Beruf, einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf eine zumutbare andere Tätigkeit verwiesen werden kann - sei es, daß es eine solche Tätigkeit (objektiv) nicht gibt, sei es, daß er (subjektiv) aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender (nicht ausreichender) Kenntnisse und Fähigkeiten eine solche Tätigkeit nicht zu verrichten vermag - ist er berufsunfähig (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 S 470 mwN).

Als bisherigen Beruf des Klägers hat das LSG den des angelernten Fliesenlegers festgestellt. Bisheriger Hauptberuf kann auch ein in einem anderen Land der EWG ausgeübter Beruf sein. Auch eine in einem EWG-Land erworbene Qualifikation kann für die Frage maßgebend sein, von welchem Hauptberuf auszugehen ist. Das hat der Senat bereits in den Urteilen vom 29. November 1978 (BSGE 47, 183 = SozR 2600 § 45 Nr 24) und 12. September 1979 - 5 RJ 76/78 - daraus hergeleitet, daß nach dem Recht der EWG im Inland die ausländischen Versicherungszeiten angerechnet werden (BSGE aaO S 185). Sie sind dann im Inland nicht nur hinsichtlich der Erfüllung der Wartezeit, sondern auch für die Frage von Bedeutung, von welcher Berufstätigkeit bei der Beurteilung des inländischen Versicherungsfalles auszugehen ist (Urteil vom 12. September 1979 aaO S 5). Der EuGH hat diese Rechtsauffassung in dem auf Anfrage in dieser Sache erlassenen Urteil vom 7. Juni 1988 - 20/85 - bestätigt. Der Beklagten ist nicht zuzustimmen, daß der EuGH sich darauf beschränkt hat, die Nr 15 des Anhangs VI Abschnitt C der EWG-VO Nr 1408/71 deswegen zu beanstanden, weil diese Vorschrift im europäischen Recht, das der Koordination der nationalen Vorschriften dient, fehl am Platze sei. Aus der Begründung des Urteils ergibt sich vielmehr, daß der EuGH in der Beschränkung darauf, nur die im Inland erworbene berufliche Qualifikation anzuerkennen, auch eine unzulässige Diskriminierung ausländischer Wanderarbeiter gesehen hat, weil diese Beschränkung zu einer Behinderung der Freizügigkeit der Arbeiter innerhalb der EWG führen würde.

Im vorliegenden Fall hat das LSG allerdings festgestellt, daß der Kläger keinen Beruf erlernt hat und auch heute noch nicht die Qualifikation eines gelernten Fliesenlegers besitzt. Diese Feststellung ist von der Revision nicht mit formgerechten Verfahrensrügen angegriffen worden. Daß das LSG den Kläger als angelernten Fliesenleger bezeichnet hat, ist daher nicht zu beanstanden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Unrichtig ist indessen, daß generell allen Angelernten ein Verweisungsberuf nicht zu benennen ist. Insoweit ist das bereits im Jahre 1983 ergangene Urteil des LSG durch die zwischenzeitliche Rechtsprechung des BSG überholt, wonach für einen sog "gehobenen" Angelernten ein konkreter Verweisungsberuf zu benennen ist (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 132, 140). Als angelernter Fliesenleger, der Jahre lang die an sich zu den Facharbeiten gehörenden Tätigkeiten des Fliesenlegers jedenfalls in einem Teilbereich ausgeübt hat, gehört der Kläger zu dieser Gruppe. Das LSG wird deshalb noch zu prüfen haben, ob für den Kläger eine konkrete, ihm im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbare berufliche Tätigkeit vorhanden ist (vgl insoweit Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1986 in SozR aaO Nr 140).

Dabei ist davon auszugehen, daß die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis 11. Januar 1982, also die Zeit vor Beginn der Heilmaßnahme, nicht anders zu beurteilen ist als die übrige streitige Zeit. Auch für das vorgezogene Übergangsgeld ist gemäß § 1241d Abs 1 Satz 2 RVO Voraussetzung, daß der Versicherte berufsunfähig ist (BSG SozR 2200 § 1241d Nr 5 S 16). Dem steht das vom Kläger zitierte Urteil des BSG vom 16. August 1973 - 4 RJ 353/72 - (SozR Nr 35 zu § 1241 RVO) schon deswegen nicht entgegen, weil dort lediglich entschieden worden ist, daß die mit der Gewährung des vorgezogenen Übergangsgeldes ausgesprochene Feststellung der Berufsunfähigkeit unter Berücksichtigung des dortigen Sachverhalts für den Versicherungsträger nicht bindend gewesen ist. Darum handelt es sich hier aber nicht.

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665849

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge