Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachversicherung nach § 99 Abs 1 S 1 AKG. Rückwirkung nach Art 2 § 146 Abs 2 ArVNG
Orientierungssatz
1. Die Anrechnung des Wehrdienstes als Ersatzzeit wird durch das Recht auf Nachversicherung nach § 99 Abs 1 S 1 AKG nur bei einem Ausscheiden aus dem Wehrdienst vor dem 8. Mai 1945 ausgeschlossen. Die Vorschrift kann nicht entgegen ihrem Wortlaut auf freiwillig Längerdienende angewendet werden, die noch am 8. Mai 1945 Wehrdienst geleistet haben (vgl BSG vom 17.11.1987 - 5b RJ 98/86 = SozR 7130 § 99 Nr 4).
2. Gegen die in Art 2 § 14b Abs 2 ArVNG bestimmte Rückwirkung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl BSG vom 30.10.1985 - 5b RJ 16/85 = SozR 2200 § 1260c Nr 19).
Normenkette
AKG § 99 Abs 1 S 1; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1, § 1260c Abs 2 Fassung: 1985-06-05; ArVNG Art 2 § 14b Abs 2 Fassung: 1985-06-05; GG Art 20 Abs 3
Verfahrensgang
SG Itzehoe (Entscheidung vom 08.12.1987; Aktenzeichen S 1 J 407/86) |
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 21.05.1985; Aktenzeichen L 5 J 260/84) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 14.08.1984; Aktenzeichen S 1 J 360/83) |
Tatbestand
Streitig ist, ob eine Ersatzzeit vom 30. November 1942 bis zum 8. Mai 1945 auf die Rente des Klägers anzurechnen ist. Während dieses Zeitraumes leistete der Kläger als freiwillig Längerdienender militärischen Dienst.
Mit Bescheid vom 11. September 1982 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 1. November 1981 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit, die sie im Bescheid vom 29. Oktober 1982 mit Wirkung ab 1. April 1982 in flexibles Altersruhegeld umwandelte. Der Widerspruch des Klägers, mit dem er ua die Berücksichtigung der streitigen Zeit als Ersatzzeit begehrte, wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1983). In einem weiteren Bescheid vom 25. November 1983 berücksichtigte die Beklagte zusätzlich Beitragszeiten aus den Jahren 1939 und 1940.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 14. August 1984 den Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1983 aufgehoben und die Bescheide vom 11. September 1982, 29. Oktober 1982 und 25. November 1983 mit der Maßgabe abgeändert, daß ua die Zeit vom 30. November 1940 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit bei der Rentenberechnung anzurechnen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 21. Mai 1985), nachdem die Beklagte zusätzlich die Wehrdienstzeit vom November 1940 bis Januar 1942 als Ersatzzeit anerkannte. Es ist der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Entscheidungen vom 16. Februar 1984 und 28. März 1984 (SozR 2200 § 1260c Nrn 11 und 12) gefolgt. Danach stand § 1260c der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushaltes (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) der Berücksichtigung einer Ersatzzeit nicht entgegen, solange die für eine fiktive Nachversicherung erforderliche Entscheidung der zuständigen Versorgungsdienststelle über die Erfüllung der dienstrechtlichen Voraussetzungen nicht vorlag.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten, die beim BSG zunächst unter dem Aktenzeichen 4a RJ 51/85 geführt worden ist.
Im Laufe dieses Revisionsverfahrens stellte die Beklagte mit Bescheid vom 21. August 1986 gemäß § 1260c Abs 2 Satz 2 RVO in der Fassung des Rentenanpassungsgesetzes 1985 (RAG 1985) vom 5. Juni 1985 (BGBl I 913) fest, daß beim Kläger die Voraussetzung für eine Nachversicherung nach § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) für die Zeit des militärischen Dienstes als freiwillig Längerdienender erfüllt sei. Diesen Bescheid hat der Kläger vor dem SG angefochten. Daraufhin hat das BSG durch Beschluß vom 10. Oktober 1986 das Revisionsverfahren 4a RJ 51/85 bis zur Erledigung des unter den Beteiligten beim SG anhängigen präjudiziellen Rechtsstreits - S 1 J 407/86 - über die Feststellung der Voraussetzungen einer Nachversicherung ausgesetzt.
Das SG hat mit Urteil vom 8. Dezember 1987 den Bescheid der Beklagten vom 21. August 1986 aufgehoben. Es hat festgestellt, daß hinsichtlich des noch streitigen Zeitraumes die Voraussetzung für eine Nachversicherung in der Person des Klägers weder nach § 99 AKG noch nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen (G 131) erfüllt seien. Nach dem eindeutigen und nichtauslegungsfähigen Wortlaut des § 99 AKG müsse es sich um einen vor dem 8. Mai 1945 ausgeschiedenen Angehörigen des öffentlichen Dienstes handeln. Der Kläger habe aber noch am 8. Mai 1945 und auch noch danach auf dem Zerstörer "H L " Dienst nach deutschem Wehrrecht geleistet.
Dieses Urteil hat die Beklagte mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision angefochten. Es handelt sich insoweit um das Verfahren 5 RJ 4/88.
Der erkennende Senat hat am 4. August 1988 den Beschluß vom 10. Oktober 1986, mit dem das Revisionsverfahren 4a RJ 51/85 ausgesetzt worden ist, aufgehoben und die Fortsetzung des Verfahrens beschlossen (nun 5 RJ 45/88). Beide Verfahren sind gemäß § 113 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluß vom 21. September 1988 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
Die Beklagte rügt die unrichtige Anwendung materiellen Rechts und zwar die Auslegung des § 99 Abs 1 AKG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG vom 21. Mai 1985 sowie die Urteile des SG vom 14. August 1984 und vom 8. Dezember 1987 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revisionen der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen der Beklagten sind nicht begründet. Die noch streitige Ersatzzeit vom 30. November 1942 bis einschließlich 8. Mai 1945 ist eine anrechnungsfähige Versicherungszeit (§ 1250 Abs 1 Buchstabe b RVO).
Nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO werden Zeiten des militärischen Dienstes, der ua während des Krieges geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Allerdings werden gemäß § 1260c Abs 2 RVO in der durch Art 2 Nr 4 des RAG 1985 geänderten Fassung (nF) Ersatzzeiten nicht berücksichtigt, soweit für dieselbe Zeit eine Nachversicherung nur wegen eines fehlenden Antrags nicht durchgeführt worden ist. In diesen Fällen ist der Versicherungsträger berechtigt, Voraussetzungen für die Nachversicherung festzustellen. Nach § 14b Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gilt § 1260c Abs 2 RVO auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1983, es sei denn, über einen Anspruch ist eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden. Die zuletzt genannte Ausnahme ist im Falle des Klägers nicht erfüllt. Die entsprechenden Bescheide der Beklagten sind noch nicht bindend geworden. Somit ist der gesamte streitige Komplex hier nach § 1260c Abs 2 RVO nF zu beurteilen. Gegen die in Art 2 § 14b Abs 2 ArVNG bestimmte Rückwirkung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (so BSG in SozR 2200 § 1260c Nr 19).
Die Voraussetzungen für eine Nachversicherung nach § 99 AKG sind im Falle des Klägers indes nicht erfüllt. Der erkennende Senat hat bereits durch Urteil vom 17. November 1987 - 5b RJ 98/86 - (SozR 7130 § 99 Nr 4) entschieden, daß die Anrechnung des Wehrdienstes als Ersatzzeit durch das Recht auf Nachversicherung nach § 99 Abs 1 Satz 1 AKG nur bei einem Ausscheiden aus dem Wehrdienst vor dem 8. Mai 1945 ausgeschlossen wird. Die Vorschrift kann nicht entgegen ihrem Wortlaut auf freiwillig Längerdienende angewendet werden, die noch am 8. Mai 1945 Wehrdienst geleistet haben. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens der Beklagten fest. Mit gegenteiligen Äußerungen in der Literatur hat sich der Senat bereits eingehend auseinandergesetzt. Die Beklagte bringt keine neuen Argumente, die den Senat zur Aufgabe seiner Rechtsprechung bewegen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen