Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts
Leitsatz (redaktionell)
Die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts wird durch SGG § 72 Abs 1 nicht angetastet.
Orientierungssatz
Nach SGG § 72 Abs 1 wird der besondere Vertreter "für das Verfahren" bestellt; damit ist, wie schon die systematische Stellung der Vorschrift zeigt, das Verfahren des gesamten Rechtsstreits gemeint.
Normenkette
SGG § 72 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 6. Dezember 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin wendet sich mit der Nichtigkeitsklage (§ 179 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 579 Abs. 1 Nr. 4 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) gegen das rechtskräftige Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 18. November 1966 (IV AN Bf 40/65), das ihre Klage gegen die Versagung einer Hinterbliebenenrente unter Aufhebung des stattgebenden Urteils des Sozialgerichts (SG) Hamburg vom 5. Mai 1965 abgewiesen hatte. In jenem Rechtsstreit hatte die Vorsitzende des SG der Klägerin mit ihrem Einverständnis wegen ihrer geistigen Erkrankung nach § 72 Abs. 1 SGG einen besonderen Vertreter bestellt; dieser war im Berufungsverfahren darauf hingewiesen worden, daß die Bestellung für den gesamten Prozeß gelte. Das Urteil des LSG ist ihm am 21. Dezember 1966 zugestellt worden.
Am 27. Februar 1968 hat das Vormundschaftsgericht der Klägerin zur Wahrnehmung ihrer Rentenansprüche einen Gebrechlichkeitspfleger bestellt. Er hat mit Schriftsatz vom 2. April 1968 beim LSG die Nichtigkeitsklage erhoben mit der Begründung, die Klägerin sei im Berufungsverfahren nicht ordnungsgemäß gesetzlich vertreten gewesen. Das LSG hat die Klage durch Urteil vom 6. Dezember 1968 als unzulässig verworfen. Es hielt die Ansicht der Klägerin, daß die Bestellung des besonderen Vertreters nur für das Verfahren vor dem SG gegolten habe, für unzutreffend; eine solche Bestellung gelte für den gesamten Rechtsstreit. Ob die Voraussetzungen des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bei einer nur fehlerhaften Bestellung überhaupt erfüllt seien, ließ das LSG dahingestellt.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die beiden Urteile des LSG vom 18. November 1966 und vom 6. Dezember 1968 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 5. Mai 1965 zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Der besondere Vertreter sei zwar nicht fehlerhaft bestellt, vom LSG aber gesetzwidrig in seinem Amt belassen worden. Er habe nicht für den gesamten Rechtsstreit unbegrenzt bestellt werden dürfen. Die Bestellung nach § 72 SGG sei eine Notmaßnahme auf einem den SGen nur vorübergehend und ausnahmsweise zugewiesenen Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Alle verfassungsmäßigen Garantien würden unzulässigerweise ausgeschaltet, wenn auf dem vom LSG für richtig gehaltenen Wege dem gesetzlichen Richter gerade die Personen entzogen würden, die am meisten auf seinen Schutz angewiesen seien.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat die Nichtigkeitsklage zu Recht als unzulässig verworfen (§ 589 ZPO). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Klagefrist nach § 586 ZPO (Abs. 3) gewahrt ist. Die Nichtigkeitsklage ist jedenfalls deshalb unzulässig, weil sich aus dem Vorbringen der Klägerin kein Nichtigkeitsgrund im Sinne des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ergibt. Ihre Auffassung, sie sei im Berufungsverfahren (erstes Verfahren vor dem LSG) nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen, ist unzutreffend.
"Nach Vorschrift der Gesetze" ist auch derjenige Beteiligte vertreten, für den nach § 72 SGG ein besonderer Vertreter bestellt worden ist. Der Klägerin war von der Vorsitzenden des SG ein solcher Vertreter bestellt worden. Daß die Vertreterbestellung unwirksam gewesen sei, macht die Klägerin nicht geltend und ist auch nicht erkennbar. Die Bestellung des Vertreters war nicht nur für das Verfahren vor dem SG (im ersten Rechtszug) erfolgt. Da sie nicht eingeschränkt worden war, hatte sie für den gesamten Rechtsstreit, also auch für das Berufungsverfahren gegolten. Denn nach § 72 Abs. 1 SGG wird der besondere Vertreter "für das Verfahren" bestellt; damit ist, wie schon die systematische Stellung der Vorschrift zeigt (Unterabschnitt: Allgemeine Vorschriften; vgl. auch den Verfahrensbegriff in den §§ 68, 69, 70, 73 SGG), das Verfahren des gesamten Rechtsstreits gemeint.
Es ist nicht erkennbar, daß die Vertreterbestellung während des Berufungsverfahrens aus irgendwelchen Gründen unwirksam geworden wäre. Ob das Vorbringen der Klägerin insoweit überhaupt schlüssig ist, kann dahinstehen. Die Klägerin macht dem LSG zum Vorwurf, daß es nicht beim Vormundschaftsgericht die Bestellung eines Gebrechlichkeitspflegers nach § 1910 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches veranlaßt habe. Dazu ist das LSG jedoch nicht verpflichtet gewesen (BSG 5, 176, 178). Eine solche Verpflichtung hat sich auch nicht aus verfassungsrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen ergeben. Die Klägerin hat nicht näher dargelegt, welche Vorschriften oder Grundsätze des Verfassungsrechts sie im Auge hat. Möglicherweise denkt sie an die Vorschriften über den gesetzlichen Richter und an das Rechtsstaatsprinzip. Für die Bestellung des besonderen Vertreters nach § 72 SGG sind jedoch die SGe der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts für die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers wird durch § 72 Abs. 1 SGG in keiner Weise angetastet, weil die Vertreterbestellung ausdrücklich nur "bis zum Eintritt eines Vormunds oder Pflegers" gilt. Das Verfahren der SGe bei Bestellung des besonderen Vertreters ist auch nicht mit geringeren verfassungsmäßigen (rechtsstaatlichen) Garantien ausgestattet als das Verfahren der Vormundschaftsgerichte bei der Bestellung eines Gebrechlichkeitspflegers.
Die Revision muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen