Leitsatz (amtlich)
Bei Prüfung der besonderen Betroffenheit iS des BVG § 30 Abs 1 S 2 idF vor dem Ersten Neuordnungsgesetz vom 1960-06-27 (BGBl i 1960, 453) darf ein Versorgungsberechtigter nicht auf den Ausgleich verwiesen werden, den eine weder eingeleitete noch durchgeführte arbeits- und berufsfördernde Maßnahme iS des BVG § 26 möglicherweise bieten würde.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06, § 26 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Sozialgerichts Lübeck vom 20 . September 1955 und des Landessozialgerichts Schleswig vom 23 . November 1956 aufgehoben .
Die Bescheide vom 9 . September 1954 und 26 . März 1955 werden dahin abgeändert , daß dem Kläger Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 v . H . ab 1 . November 1954 gewährt wird .
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten .
Von Rechts wegen .
Gründe
Der 1916 geborene Kläger war vor dem zweiten Weltkrieg landwirtschaftlicher Kontrollbeamter . 1945 erlitt er als Leutnant eine Schußverletzung im linken Lungenbereich und einen Durchschuß des linken Oberarms . Die Versorgungsverwaltung bewilligte deswegen zunächst Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v . H ., später nach einer MdE um 70 v . H . und schließlich die Vollrente . Nachuntersuchungen 1950 und 1952 ergaben keine , die Nachuntersuchung durch Dr . B ... 1954 dagegen eine wesentliche Besserung mit einer Rest-MdE um 60 v . H . Dementsprechend wurde die Rente durch Bescheid vom 9 . September 1954 herabgesetzt . Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 26 . März 1955 zurückgewiesen . Die Klage , mit der der Kläger Rente nach einer höheren MdE begehrte , hatte keinen Erfolg . Das Sozialgericht (SG) führte im Urteil vom 20 . September 1955 aus , die Bewertung der durch die Schädigungsfolgen verursachten MdE mit 60 v . H . sei so günstig , daß auch unter Berücksichtigung der vor der Schädigung ausgeübten landwirtschaftlichen Berufe (landwirtschaftlicher Gehilfe und Milchkontrolleur) eine höhere MdE nicht gerechtfertigt sei . Die Berufung wurde wegen der Frage , ob eine ausreichende Berücksichtigung des Berufs erfolgt sei , zugelassen .
Mit der Berufung machte der Kläger geltend , er habe schon vor dem Krieg die Inspektorenlaufbahn eingeschlagen und deshalb die landwirtschaftliche Schule besucht . Wegen seiner Kriegsverletzungen könne er diesen Beruf nicht ausüben , woraus sich für ihn soziale und wirtschaftliche Nachteile ergäben . Er berief sich auf die Bescheinigungen des Leistungsinspektors Bielefeldt vom 18 . März 1956 und des Direktors der Landwirtschaftsschule in N... vom 7 . März 1956 und beantragte , den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und des angefochtenen Urteils zur Rentenzahlung nach einer MdE um 70 v . H . zu verurteilen .
Das Landessozialgericht (LSG) zog die Rentenakten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bei , hörte Prof . Dr . G ... als Sachverständigen und wies daraufhin die Berufung durch Urteil vom 23 . November 1956 zurück . Die durch körperliche Schädigungsfolgen hervorgerufene MdE sei , wie Prof . Dr . G ... ärztlich bestätigt habe , mit 60 v . H . zutreffend bewertet . Die Voraussetzungen für eine höhere Bewertung der MdE nach § 30 Abs . 1 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) lägen nicht vor , weil der Kläger durch die Art seiner Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten , begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf nicht besonders betroffen sei . Wahrscheinlich sei zwar , daß der Kläger ohne die Wehrdienstbeschädigung in seiner begonnenen Laufbahn die Stellung eines Oberzuchtwarts erreicht hätte . Da in dieser Stellung auch körperliche Arbeiten verrichtet werden müßten , sei sie dem Kläger infolge seiner Verwundungen verschlossen . Auch sei die vom Kläger jetzt bei der Kirchenkasse ausgeübte Tätigkeit seinem erstrebten Beruf nicht gleichwertig . Er sei aber schon während des Krieges einmal im Rahmen des Langemarck-Studiums für den Besuch einer höheren landwirtschaftlichen Schule vorgeschlagen worden und habe auch jetzt noch die Möglichkeit , diese Schule zu besuchen . Danach könne er auf Grund seiner praktischen Ausbildung und der noch zu erwerbenden theoretischen Kenntnisse die mit der angestrebten , in sozialer Hinsicht gleichwertige Laufbahn des mittleren bzw . gehobenen Innendienstes in der Landwirtschaft einschlagen , die nicht mit praktischer landwirtschaftlicher Arbeit verbunden und ihm deshalb zumutbar sei . Darauf müsse er sich verweisen lassen . Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage besonderer beruflicher Betroffenheit zugelassen .
Die Revision des Klägers rügt Verletzung der §§ 103 , 106 , 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 30 BVG . Das LSG habe übersehen , daß dem Kläger der Besuch einer höheren Landwirtschaftsschule schon deshalb nicht möglich sei , weil er das hierzu notwendige Reifezeugnis nicht besitze , das er nur im Wege des Langemarck-Studiums hätte ersetzen können . Abgesehen davon sei dieser Schulbesuch aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar und auch nicht durchführbar , weil dem Kläger die hierzu notwendigen praktischen Kenntnisse während der Kriegs- und Nachkriegszeit weitgehend verloren gegangen seien . Die Verweisung auf den Schulbesuch sei daher unter Verletzung der Sachaufklärungspflicht sowie unter . Verstoß gegen die Denkgesetze ausgesprochen worden . Der Beklagte habe darüber hinaus auch nicht zu erkennen gegeben , daß er eine solche Schulausbildung durchführen wolle . Im übrigen müßten bei Prüfung der besonderen beruflichen Betroffenheit Berufe , die erst künftig durch neu zu erwerbende Kenntnisse und Fähigkeiten erschlossen werden sollen , solange außer Betracht bleiben , als die zu ihrer Erlangung erforderliche Umschulung nicht erfolgreich durchgeführt sei . Dahin gehe jedenfalls die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) . Der Kläger habe sich nicht etwa endgültig für den Offiziersberuf entschieden , sondern nach dem Krieg wieder eine Tätigkeit in der Landwirtschaft aufgenommen . Er beantragt , unter Aufhebung der angefochtenen Urteile nach seinem Berufungsantrag zu erkennen , hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen .
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und beantragt sinngemäß , die Revision zurückzuweisen .
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig (§§ 162 Abs . 1 Nr . 1 , 164 , 166 SGG) . Sie ist auch sachlich begründet .
Das LSG hat , wie die Revision mit Recht rügt , § 30 Abs . 1 Satz 2 BVG in der vor dem Inkrafttreten des Ersten Neuregelungsgesetzes vom 27 . Juni 1960 (BGBl I S . 453) geltenden Fassung (a . F . ) verletzt . Nach dieser Bestimmung ist die MdE höher zu bewerten , wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten , begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen wird , es sei denn , daß zumutbare arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen im Sinne des § 26 BVG einen Ausgleich bieten . Im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide und des SG-Urteils galt zwar die durch die 5 . Novelle zum BVG vom 6 . Juni 1956 geänderte ursprüngliche Fassung des § 30 Abs . 1 Satz 1 , 2 . Halbsatz BVG , wonach der Beruf lediglich zu "berücksichtigen" war . Der Ausdruck "berücksichtigen" bedeutete aber rechtlich dasselbe wie "höher zu bewerten". Das Fünfte Änderungsgesetz vom 6 . Juni 1956 hat insoweit ebenso wie das Erste Neuordnungsgesetz nur eine gesetzliche Auslegung und Klarstellung dessen gebracht , was bereits ursprünglich vom Gesetzgeber gewollt war (vgl . BSG 13 , 21 und Urteil des erkennenden Senats vom 14.11.1961 - 9 RV 304/56 - sowie Urteil vom 26 . 11 . 1959 - 8 RV 1305/57 -) . Ferner war in der bis zum 11 . Juni 1956 geltenden Fassung die Einschränkung hinsichtlich der arbeits- und berufsfördernden Maßnahmen nicht gemacht worden . Im vorliegenden Fall kann jedoch dahingestellt bleiben , ob die frühere Fassung des § 30 Abs . 1 BVG insoweit für den Kläger günstiger war , da auch die mit Wirkung vom 12 . Juni 1956 geänderte Fassung dem Anspruch des Klägers nicht entgegensteht . Nach der ab 12 . Juni 1956 geltenden Fassung kommt es entscheidend auf die Frage an , ob eine in Erwägung gezogene , aber noch nicht eingeleitete arbeits- und berufsfördernde Maßnahme die höhere Bewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit ausschließt . Das ist nicht der Fall . Sinn und Zweck der Kriegsopferversorgung ist es , dem vom Versorgungsrecht geschützten Personenkreis einen gewissen Ausgleich für die gesundheitlich und wirtschaftlich nachteiligen Folgen zu bieten , die eine Gesundheitsschädigung im Rahmen eines Versorgungstatbestandes verursacht hat . Jede Entschädigung ist begrifflich auf die Beseitigung des eingetretenen Schadens gerichtet . Wenn und soweit dies nicht möglich ist , kommt ein Ausgleich der mit dem Schaden verbundenen Nachteile durch Zuwendung besonderer Vorteile in Betracht . Der aus einer körperlichen Beeinträchtigung durch eine Verwundung entstehende Schaden wird , wie schon aus § 30 Abs . 1 Satz 1 BVG hervorgeht , vor allem in seiner erwerbsmindernden Auswirkung im allgemeinen Erwerbsleben erfaßt . Die vom Beschädigten hinzunehmende wirtschaftliche Einbuße berechtigt dann zu einer höheren Rente , wenn die Berücksichtigung der Körperschäden nach allgemeinen Grundsätzen , also für das allgemeine Erwerbsleben , nicht ausreicht , um die Nachteile auszugleichen , die dem Beschädigten in dem speziell ausgeübten oder angestrebten Beruf aus der Versehrtheit erwachsen sind . § 30 Abs . 1 Satz 2 BVG a . F . schafft also einen Ausgleich für die im ausgeübten Beruf durch die Schädigung entstandenen besonderen Nachteile , die auch in einem sozialen Abstieg in beruflicher Hinsicht bestehen können (vgl . SozR BVG § 30 Bl . Ca 7 Nr . 7) . Deshalb scheidet die besondere berufliche Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs . 1 Satz 2 BVG a . F . erst dann für die Bewertung der MdE aus , wenn diese besonderen Nachteile ausgeglichen sind . Das kann durch Beseitigung des Gesundheitsschadens , günstige Berufsverhältnisse oder dadurch geschehen , daß "zumutbare arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen im Sinne des § 26 BVG einen Ausgleich bieten" . Daß von der Versorgungsbehörde bis zum Abschluß des Berufungsverfahrens eine solche Maßnahme auch nur erwogen oder eingeleitet worden wäre , ist nicht ersichtlich . Selbst in der Revisionserwiderung vom 31 . Juli 1957 spricht der Beklagte nur von einer "vom Berufungsgericht in Betracht gezogenen Berufsausbildung" . Solange aber Maßnahmen im Sinne des § 26 BVG nicht einmal erwogen , geschweige denn eingeleitet oder erfolgreich abgeschlossen sind , bieten sie dem Beschädigten tatsächlich noch keinen Ausgleich für seine besondere berufliche Betroffenheit und können deshalb rechtlich nicht zum Ausschluß der Berücksichtigung dieses besonderen wirtschaftlichen Nachteils bei der Bewertung der MdE führen . Mit dieser Auffassung stimmen auch die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 29 und 30 BVG in Nr . 1 Abs . 2 (idF vom 3 . September 1958 - BAnz Nr . 176) überein . Die Rechtsprechung des BSG zur Rentenversicherung ist bei der Auslegung des § 1254 RVO a . F . zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen . Im Urteil vom 21 . September 1960 (SozR RVO § 1254 a . F . Bl . Aa 13 Nr . 14) ist ausgeführt , "ein Versicherter kann nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden , die er erst nach einer noch nicht durchgeführten , von ihm ohne Mitwirkung amtlicher Stellen beabsichtigten Umschulung verrichten könnte ... " . Eine andere Auffassung würde dem Beschädigten den gesetzlich bestimmten Ausgleich seines besonderen Berufsschadens lediglich mit dem Hinweis auf theoretische Möglichkeiten vorenthalten . Das Urteil des LSG beruht somit auf unrichtiger Anwendung des § 30 Abs . 1 Satz 2 BVG a . F . (§ 162 Abs . 2 SGG) und unterliegt daher der Aufhebung . Dabei hat der Senat ungeprüft gelassen , ob die Verweisung auf eine Schulausbildung im Falle des heute über 45-jährigen Klägers überhaupt zumutbar und erfolgversprechend wäre .
Auf die von der Revision gerügten Verfahrensmängel brauchte der Senat nicht einzugehen , da es ihm bereits auf Grund der übrigen , von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG - insoweit können nur die vom Revisionskläger , nicht auch die vom Revisionsbeklagten erhobenen Verfahrensrügen berücksichtigt werden - möglich war , in der Sache selbst zu entscheiden . Nach diesen , gemäß § 163 SGG für das BSG bindenden Feststellungen des LSG beträgt die MdE des Klägers ohne Berücksichtigung besonderer beruflicher Betroffenheit 60 v . H . und ist die vom Kläger z . Zt . ausgeübte Tätigkeit bei der Kirchenkasse in Bad Schwartau dem von ihm angestrebten Berufsziel nicht gleichwertig . Hiernach ist der Anspruch des Klägers auf Erhöhung seiner Rente um 10 v . H . auf eine MdE um 70 v . H . begründet . Zwar ist es dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt , den Grad der MdE selbst zu bestimmen , weil es sich hier im allgemeinen um eine tatsächliche Feststellung handelt (vgl . BSG 6 , 267) . Im vorliegenden Fall kann der Senat diese Entscheidung jedoch deshalb selbst treffen , weil ein besonderes berufliches Betroffensein vorliegt , der Kläger deswegen nur eine Erhöhung um 10 v . H . begehrt und eine geringere Erhöhung der MdE im Gesetz nicht vorgesehen ist . Dem Kläger war daher in Abänderung der angefochtenen Verwaltungsbescheide und unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die von ihm begehrte Rentenerhöhung nach einer MdE um 70 v . H . zuzusprechen .
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .
Fundstellen