Entscheidungsstichwort (Thema)

gesetzliche Unfallversicherung. Verletztenrente. MdE-Bewertung. abstrakte Schadensbemessung. Verlust des Geruchssinn

 

Orientierungssatz

Der unfallbedingte Verlust des Geruchssinn bedingt nach allgemeinen Erfahrungssätzen eine MdE von 10 v.H.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.10.1974; Aktenzeichen L 3 U 20/74)

SG Koblenz (Entscheidung vom 25.04.1973)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger erlitt als Arbeiter einer Bierbrauerei am 21. Juni 1971 einen Unfall, wegen dessen Folgen ihm die Beklagte durch Bescheid vom 23. November 1971 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von zuletzt 20 v. H. gewährte. Als unfallbedingte Gesundheitsstörung war u. a. ein Verlust des Geruchsvermögens anerkannt. Durch Bescheid vom 25. April 1973 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats Mai 1973 und lehnte die Gewährung einer Dauerrente ab, weil als Unfallfolge nur noch der Verlust des Geruchsvermögens vorliege, durch den die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in messbarem Grad gemindert sei.

Der Kläger erhält von der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glas-Industrie wegen einer Berufskrankheit eine Dauerrente nach einer MdE von 10 v. H. Ferner gewährt ihm die Beklagte wegen eines Unfalls vom 4. Februar 1972 eine Rente nach einer MdE von 20 v. H.

Mit seiner gegen den Bescheid vom 25. April 1973 beim Sozialgericht (SG) Koblenz erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, daß der Verlust des Geruchsvermögens mindestens eine MdE von 10 v. H. bedinge. Da er wegen des Unfalls vom 4. Februar 1972 eine Rente beziehe, habe er wegen des Arbeitsunfalls vom 21. Juni 1971 Anspruch auf Rente nach einer MdE von 10 v. H. Der vom SG als Sachverständige gehörte Facharzt für Chirurgie Dr. B in K hat in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19. Dezember 1973 ausgeführt, daß die Aufhebung des Geruchssinnes nach den allgemeinen Erfahrungssätzen eine MdE von 10 v. H. bedinge. Das SG hat die Beklagte daraufhin verurteilt, dem Kläger ab 1. Juni 1973 eine Dauerrente von 10 v. H. der Vollrente zu zahlen (Urteil vom 19. Dezember 1973). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 16. Oktober 1974). Das LSG hat ausgeführt, der Verlust des Geruchsvermögens mit der damit verbundenen Beeinträchtigung des Geschmacks sei nach seiner Überzeugung auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens nicht derart bedeutungslos, daß er keine MdE nach sich ziehe. Zwar hätten das Hören und Sehen für die Erwerbsfähigkeit eine wesentlich größere Bedeutung als das Geruchsvermögen. Aber auch beim Verlust des Geruchsvermögens handele es sich um den Ausfall eines zentralen Sinnesorganes, das nicht zu ersetzen sei. Mit Recht habe der Kläger darauf hingewiesen, daß Gefährdungen häufig nur durch das Geruchsorgan zu erkennen seien. Dessen Verlust mindere nicht nur die Fähigkeit des Genießens, sondern habe auch eine Beeinträchtigung im Erwerbsleben zur Folge. Für die Festsetzung der MdE sei es nicht von Bedeutung, ob der Kläger einen Einkommensverlust habe oder seinen früheren Arbeitsplatz ausfüllen könne. Es komme auch nicht darauf an, ob ihm konkrete Arbeitsmöglichkeiten, die er vorher gehabt habe, nunmehr verschlossen seien. Entscheidend sei, ob seine Einsatzmöglichkeit durch die Unfallfolgen allgemein (abstrakt) gemindert sei. Dem Kläger seien zumindest alle Arbeitsmöglichkeiten nicht zuzumuten, bei denen der Verlust des Geruchssinnes ein erhöhtes Sicherheitsrisiko bedeute. Das seien in der modernen Arbeitswelt nicht nur unbedeutende Arbeitsbereiche. Bei Arbeiten mit Chemikalien, die in fast allen Betrieben und auch im Brauereigewerbe (z. B. Reinigungsarbeiten) vorkämen, sei das Geruchsvermögen von Bedeutung. Aber auch bei Arbeiten mit elektrischer (Brandgeruch) oder gasförmiger Energie sowie in der Wärmetechnik könne das Geruchsvermögen einen Sicherheitsfaktor darstellen. Das SG habe daher den Verlust des Geruchsvermögens auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens zu Recht mit einer MdE von 10 v. H. bewertet.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Grad einer unfallbedingten MdE auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens im Sinne der Vorschrift des § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO stelle einen unbestimmten, der Auslegung, Spezifizierung, Substantiierung und Beurteilung fähigen Rechtsbegriff dar. Seine Bezifferung sei infolgedessen, selbst wenn nicht auch noch die Vorschrift des § 581 Abs. 2 RVO eingreife, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Der als einzige Unfallfolge verbliebene Verlust des Geruchsvermögens bedinge überhaupt keine MdE messbaren Grades. Das LSG habe seiner Entscheidung zutreffend die bereits gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt, daß in der gesetzlichen Unfallversicherung die Grundsätze der abstrakten Schadensberechnung anzuwenden seien und es auf die Einsatzmöglichkeit des Unfallverletzten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens ankomme. Es habe dann aber aus allgemeinen Erwägungen geglaubt, die MdE durch den Geruchsverlust generell mit 10 v. H. bemessen zu können, ohne irgendwelche besonderen Umstände festzustellen, die etwa wegen der Besonderheiten des Berufes des Klägers eine MdE von 10 v. H. rechtfertigen könnten. Die Gedankengänge des LSG über die Bedeutung des Geruchsvermögens als Sicherheitsfaktor im modernen Arbeitsleben hätten in der Zeit vor 100 Jahren gepaßt, als in den sog. Gründerjahren die deutsche Industrie sich in einem wildwuchernden, oft gänzlich unkontrollierten Aufbau befunden habe. Heute hätten zahlreiche technische Einrichtungen dem ohnehin in der Breite nicht oder nicht mehr besonders differenzierten menschlichen Riechorgan die Vorwarnung bei Fällen, wie sie das LSG angeführt habe, längst abgenommen. Bei einem nicht in besonderem Einsatz anzusetzenden, vielmehr durchaus einfachen Arbeiter sei der Verlust des Geruchssinnes mit O v. H. zu bewerten.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 16. Oktober 1974 und des SG Koblenz vom 19. Dezember 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, der medizinische Sachverständige habe in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19. Dezember 1973 die Auffassung vertreten, daß die durch die Aufhebung des Geruchssinnes bedingte MdE nach allgemeinen Erfahrungssätzen mit 10 v. H. einzuschätzen sei. Diese Auffassung, die auch von Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 6. Auflg., S. 71, vertreten werde, hätten sich beide Vorinstanzen zu Eigen gemacht. Die dagegen von der Beklagten vorgebrachten Einwände überzeugten nicht. Zwar treffe es zu, daß einige Autoren (z. B. Liniger/Molineus, Der Unfallmann, 8. Auflg., S. 201) bei Verlust des Geruchssinnes keine MdE annähmen. Das LSG habe jedoch mit zutreffenden Gründen darauf hingewiesen, welche Bedeutung dem Geruchsorgan in der modernen Arbeitswelt zukomme.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG ist, obwohl Ausführungen darüber fehlen, rechtlich zutreffend davon ausgegangen, daß ein Verletzter nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO i. V. m. Abs. 3 dieser Vorschrift Anspruch auf Verletztenrente auch dann hat, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls um weniger als 20 v. H., jedoch um wenigstens 10 v. H. gemindert ist und wegen der Folge eines anderen Arbeitsunfalls eine weitere MdE von wenigstens 10 v. H. besteht. Nach den als tatsächliche Feststellung zu wertenden Ausführungen des LSG im Tatbestand des angefochtenen Urteils, daß der Kläger im Klageverfahren vorgetragen hat, in dem hier maßgebenden Zeitpunkt - 1. Juni 1973 - wegen eines anderen Unfalls eine Rente nach einer MdE von 20 v. H. zu beziehen, war somit zu entscheiden, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen des Arbeitsunfalls vom 21. Juni 1971 ab 1. Juni 1973, dem Zeitpunkt des Beginns der Dauerrente, um wenigstens 10 v. H. gemindert gewesen ist und ihm deswegen eine entsprechende Teilrente zustand.

Die Revision rügt ausdrücklich eine Verletzung des § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO. Wie sich aus der Begründung dieser Rüge ergibt, macht sie jedoch nicht geltend, das LSG habe diese Vorschrift und insbesondere den Begriff der "Minderung der Erwerbsfähigkeit" rechtlich unrichtig ausgelegt und angewendet. Die Revision trägt vielmehr selbst vor, daß das LSG seiner Entscheidung zutreffend die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO zugrunde gelegt habe, wonach in der gesetzlichen Unfallversicherung die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung anzuwenden sind und auf die Einsatzmöglichkeit des Verletzten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens abzustellen ist. Sie bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. August 1965 - 2 RU 52/64 - (BSG 23, 253, 254), in der dies ausgesprochen ist.

Die Feststellungen des LSG über die beim Kläger infolge des unfallbedingten Verlustes des Geruchsvermögens ab 1. Juni 1973 noch vorhandene MdE lassen demgemäß einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Tatsächlich wendet sich die Revision mit ihrer Rüge auch nur gegen die Schätzung des Grades der MdE durch das LSG. Hierbei handelt es sich jedoch um eine auf der Ausübung des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) beruhenden Tatsachenfeststellung (BSG 4, 147, 149), an die das Revisionsgericht gebunden ist, wenn nicht in Bezug auf diese Feststellung begründete Revisionsrügen vorgebracht sind (§ 163 SGG). Derartige Rügen enthält die Revisionsbegründung jedoch nicht.

Die durch die Folgen eines Unfalls verursachte MdE ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und Kenntnisse des Verletzten und etwaiger Besonderheiten des Falles festzustellen. Etwaige von der Rechtsprechung und der Sozialversicherungspraxis entwickelte allgemeine Erfahrungssätze sind zwar zu beachten, jedoch im Einzelfall nicht bindend (BSG 4, 147, 149; SozR Nr. 9 zu § 581 RVO). Die Revision verweist in diesem Zusammenhang zutreffend auf die nicht einheitliche medizinische Auffassung über den Grad der MdE bei Verlust des Geruchsvermögens, die auch bereits der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 26. Juni 1970 - 2 RU 108/67 - (SozR Nr. 9 zu § 581 RVO) dargelegt hat. Das LSG hat sich im wesentlichen auf die von Dr. B im erstinstanzlichen Verfahren erstattete gutachtliche Stellungnahme vom 19. Dezember 1973 gestützt, wonach die MdE bei Verlust des Geruchsvermögens nach allgemeinen Erfahrungssätzen 10 v. H. betrage. Ferner hat es auf Schöneberg, Die ärztliche Beurteilung Beschädigter, 4. Auflg. S. 95, Bezug genommen, der abweichend von früheren Auflagen, für den Geruchsverlust eine MdE von bis zu 10 v. H. annimmt. Zur weiteren Begründung der Schätzung des Grades der MdE hat das LSG auf das bei Geruchsverlust für den Verletzten bestehende erhöhte Sicherheitsrisiko verwiesen. Die sich darauf beziehenden Ausführungen der Revision stellen keine den Formerfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG genügenden Rügen dar.

Da die Revision der Beklagten nicht begründet ist, mußte sie gemäß § 170 Abs. 1 SGG zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1749902

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