Leitsatz (amtlich)
Für die Höhe des Ausgleichsanspruchs gegen den Träger der allgemeinen Unfallversicherung nach RVO § 788 ist maßgebend, welche Leistungen die landwirtschaftliche BG erbringen müßte, wenn der Verletzte - nicht eine von ihm vertretene Person - dauernd in der Landwirtschaft beschäftigt wäre (Fortführung von BSG 1972-09-28 7 RU 44/70 = SozR Nr 1 zu § 788 RVO).
Normenkette
RVO § 788 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. April 1975 wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Der Landwirt R (R.) ist Mitglied der Klägerin. Ständige fremde Arbeitskräfte beschäftigt er nicht. Als sein Vater, der als Austrägler auf dem Anwesen mithalf, wegen Krankheit ausfiel, sprang am Samstag, dem 27. Juli 1968, der in demselben Ort wohnende Lorenz O (O.) ein. Sonst war O. ständig als Baggerführer im Baugewerbe beschäftigt; sein Arbeitgeber ist Mitglied der Beklagten. O. hatte schon früher bei R. ausgeholfen, jedoch nicht mehr im Jahre 1968. In diesem Jahr hatte er lediglich an ca. 6 bis 7 Tagen in der Landwirtschaft seiner Eltern mitgearbeitet. Als O. Grünfutter abgeladen hatte, stürzte er vom Wagen und brach sich die linke Fersenschale. Die Klägerin entschädigt den Bruch als Folge eines landwirtschaftlichen Arbeitsunfalls. Die Allgemeine Ortskrankenkasse gewährte ab 29. Juli 1968 Krankengeld, und die Klägerin zahlte vom 29. Juli bis zum 8. September 1968 noch einen zusätzlichen Spitzbetrag an Verletztengeld. Alle Geldleistungen wurden nach dem von O. als Baggerführer erzielten Jahresarbeitsverdienst berechnet.
Mit Schreiben vom 6. Juli und 3. September 1970 machte die Klägerin bei der Beklagten einen auf § 788 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützten Ausgleichsanspruch geltend. Bei der Festlegung der fiktiven Leistungen stellte die Klägerin auf die vom Verletzten während der Aushilfe vertretene Personen ab. Nach ihrer Ansicht sollte grundsätzlich so verfahren werden, als hätte der Austrägler den Unfall erlitten. Für die ersten 13 Wochen nach dem Unfall verneinte sie einen fiktiven Anspruch auf Geldleistungen aus der Unfallversicherung überhaupt, weil solche für einen Austrägler nach § 34 ihrer Satzung i. V. m. §§ 634, 635 RVO ausgeschlossen seien. Die Beklagte weigerte sich, die für die ersten 13 Wochen von der Klägerin erbrachten Leistungen - wie von der Klägerin verlangt - voll auszugleichen.
Die Klägerin hat insoweit Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 19. Dezember 1973 abgewiesen, da für die Feststellung der fiktiven Leistungen die Umstände maßgebend seien, unter denen der Verletzte nicht nur vorübergehend, sondern dauernd in gleicher Weise beschäftigt gewesen wäre. Das SG hat vorsorglich - der Streitwert wurde nicht errechnet - die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 22. April 1975 zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen u. a. ausgeführt: Bei der Festsetzung der fiktiven Leistungen sei die Person des Verletzten maßgebend. Es sei aus dem Wortlaut und dem Sinn des § 788 RVO nicht ersichtlich, daß auf den Verletzten nur abgestellt werden solle, wenn kein Vertretener vorhanden sei. In vielen Fällen würde sich schwer feststellen lassen, inwieweit und für wen jemand vertretungsweise oder zusätzlich ausgeholfen habe. Insbesondere in größeren Betrieben werde es vorkommen, daß ein landwirtschaftlicher Arbeiter im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO vertreten werde. Geschehe dies durch einen Angehörigen des Unternehmers, der bei dauernder Tätigkeit nicht nach dieser Vorschrift versichert wäre, so sei es für die landwirtschaftliche Unfallversicherung wieder vorteilhafter, daß auf den Vertreter abgestellt werde. O. hätte, wenn er dauernd in der Landwirtschaft beschäftigt gewesen wäre, auch in den ersten 13 Wochen nach dem Unfall Verletztengeld zugestanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Zwischen der Beklagten und ihr sei streitig, ob bei einem Lastenausgleich nach § 788 RVO auf die Person des Vertretenen bei der Bestimmung der Vergleichsperson abgestellt werden könne. Sinn und Zweck der Ausgleichsregelung nach dieser Vorschrift sei, die landwirtschaftliche Unfallversicherung von der besonderen Belastung freizustellen, die ihr durch die vorübergehende Tätigkeit berufsfremder Aushilfskräfte erwachse. Da die Belastung besonders groß sei, wenn anstelle des bei dauernder Beschäftigung von Familienangehörigen regelmäßig maßgebenden Durchschnittssatzes das ungleich höhere Einkommen aus dem gewerblichen Hauptberuf der Leistungsberechnung zugrunde zu legen sei, könne diese Belastung nicht unberücksichtigt bleiben. Nach Größe und Struktur des Unfallbetriebes handele es sich um einen reinen Familienbetrieb. Die Geschäftsergebnisse der Landwirtschaftlichen Krankenkasse O wiesen für das Jahr 1973 aus, daß dort 20.802 Altenteiler, 8.802 mithelfende Familienangehörige ohne Arbeitsvertrag, 1.457 in Ausbildung befindliche mithelfende Familienangehörige und 846 mithelfende Familienangehörige mit Arbeitsvertrag versichert waren. Nach anderen statistischen Angaben würden heute 90 bis 95 % aller landwirtschaftlichen Betriebe als reine Familienbetriebe ohne Arbeitskräfte im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO geführt. Nach § 34 ihrer Satzung hätten Verwandte aufsteigender und absteigender Linie des Unternehmers oder seines Ehegatten Anspruch auf Geldleistungen erst mit Beginn der 14. Woche nach dem Arbeitsunfall, wenn sie nicht selbst bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung mit Anspruch auf Krankengeld versichert seien.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. April 1975 und des Sozialgerichts München vom 19. Dezember 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Aufwendungen an Verletztengeld für die Zeit vom 27. Juli bis zum 26. Oktober 1968 in voller Höhe zu ersetzen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Bei der Feststellung des Ausgleichsbetrages im Sinne von § 788 RVO sei auf den Verletzten abzustellen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe es nicht als wesentlich angesehen, für wen der Verletzte eingesprungen sei.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen für einen Lastenausgleich nach § 788 RVO zwischen der Klägerin als der für das landwirtschaftliche Unternehmen des R. zuständigen Berufsgenossenschaft gegen die Beklagte, bei der als Träger der allgemeinen Unfallversicherung der Verletzte in seiner hauptberuflichen Tätigkeit im Zeitpunkt des Unfalls versichert war, dem Grunde nach gegeben sind. Insbesondere ist der Verletzte bei einer im Sinne des § 788 RVO vorübergehenden Tätigkeit in der Landwirtschaft verunglückt; denn nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hatte der Verletzte in dem Jahr, in dem sich der hier maßgebende Unfall ereignet hat, im landwirtschaftlichen Betrieb des R. noch nicht ausgeholfen und lediglich an 6 bis 7 Tagen in der Landwirtschaft seiner Eltern mitgearbeitet. Der Senat braucht deshalb nicht abschließend Stellung zu nehmen, welche Zahl von Tagen im Jahr als Grenze für eine nur vorübergehende Tätigkeit anzusehen wäre (s. BSG SozR Nr. 1 zu § 780 RVO).
Das LSG hat auch zutreffend entschieden, daß die Beklagte nicht einen vollen Ausgleich für die Geldleistungen beanspruchen kann, welche sie in den ersten 13 Wochen nach dem Unfall für den Verletzten erbracht hat. Die Beklagte hat der Klägerin gemäß § 788 RVO nur insoweit einen Ausgleich zu gewähren, als die Leistungen der Klägerin über das hinausgehen, was für einen mit gleichen Arbeiten dauernd in der Landwirtschaft Beschäftigten zu leisten ist. Vergleichsperson ist ein in der Landwirtschaft Beschäftigter. Das Wort "Beschäftigten" in § 788 RVO bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Beschäftigungsverhältnis, sondern auf die voraufgehenden Tatbestandsmerkmale "mit gleichen Arbeiten dauernd in der Landwirtschaft" (BSG SozR Nr. 1 zu § 788 RVO). Durch dieses Wort ist nicht zum Ausdruck gebracht, daß für die Leistungsberechtigung der in Betracht kommenden Vergleichsperson nur eine bestimmte Vorschrift - nämlich § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO - einschlägig ist (BSG aaO). Wäre ein bei vorübergehender Tätigkeit in der Landwirtschaft verletzter Familienangehöriger des landwirtschaftlichen Unternehmers im Falle seiner dauernden Beschäftigung in dessen Betrieb nach einem durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienst (s. § 780 RVO) zu entschädigen, so hat der Träger der allgemeinen Unfallversicherung, bei dem er in seiner hauptberuflichen Tätigkeit versichert ist, im Rahmen des Lastenausgleichs nach § 788 RVO die über einen nach diesem Jahresarbeitsverdienst berechneten Vergleichsbetrag hinausgehenden Leistungen zu erstatten. Maßgebend ist demnach für die Höhe dieses Ausgleichsanspruchs, welche Leistungen der Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung erbringen müßte, wenn der Verletzte dauernd in der Landwirtschaft beschäftigt wäre (ebenso Strecker, BG 1973, 533, 534; wohl auch Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 788 Anm. 6 Buchst. a; Bereiter-Hahn/Schieke, Unfallversicherung, 4. Aufl., § 788 Anm. 2). Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsprechung des 7. Senats des BSG in dem Urteil vom 28. September 1972 (aaO) zur Auslegung des § 788 RVO an. Wäre der 7. Senat des BSG der Auffassung der Klägerin gewesen, es sei wesentlich, welche dauernd in der Landwirtschaft beschäftigte Person in dem landwirtschaftlichen Unternehmen, in dem sich der Arbeitsunfall ereignet hat, sonst die Arbeiten durchgeführt hätte (so Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, Rundschreiben vom 24. April 1968 - V 11/68 -; Noell/Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, 1963, § 788 Anm. 2 Buchst. g), und es nicht auf die Person des Verletzten ankomme, hätte er in diesem Urteil es nicht als wesentlich angesehen, ob der Verletzte bei einer dauernden Beschäftigung in der Landwirtschaft zu den Familienangehörigen im Sinne des § 780 RVO gehört hätte. Vielmehr hätte der 7. Senat des BSG seine Entscheidung darauf stützen müssen, ob in dem landwirtschaftlichen Unternehmen, in dem der Verletzte verunglückte, die Arbeiten sonst von einem Familienangehörigen im Sinne des § 780 RVO verrichtet würden.
Der Entstehungsgeschichte des § 788 RVO (vgl. BT-Drucks. IV/120, hier S. 71) und des vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) am 1. Juli 1963 geltenden § 942 RVO in der Fassung des 6. Gesetzes über Änderung in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBl I 107; s. AN 1942, 194, 200) sind keine Anhaltspunkte für eine andere Entscheidung zu entnehmen.
Die Klägerin stützt ihre gegenteilige Auffassung vornehmlich darauf, daß in 90 bis 95 % der landwirtschaftlichen Unternehmen nur noch Familienangehörige dauernd mitarbeiten. Bei Inkrafttreten des § 788 RVO und vor allem des dieser Vorschrift entsprechenden § 942 RVO aF ist diese Entwicklung jedenfalls noch nicht so stark ausgeprägt gewesen. Es kann demnach nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber schon damals die erst später immer stärker eingetretene Beschränkung der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft auf mitarbeitende Familienangehörige als den für die Bestimmung der Vergleichsperson im Rahmen des § 788 RVO maßgebenden Personenkreis angesehen hat. Andernfalls hätte der Gesetzgeber in dieser Vorschrift sogleich den Unterschied zwischen den für in § 780 RVO aufgeführte Familienangehörigen aufzubringenden und den tatsächlich gewährten Leistungen als Ausgleichsbetrag festgesetzt. Es ist auch nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber die Entscheidung im Einzelfall davon abhängig machen wollte, ob der vertretene, dauernd in der Landwirtschaft Beschäftigte ein mitarbeitender Familienangehöriger im Sinne des § 780 RVO ist. Dies würde nicht nur, worauf das LSG und die Beklagte mit Recht hinweisen, oftmals - insbesondere beim Ausfall mehrerer Arbeitskräfte, die nicht alle zum Personenkreis des § 780 RVO zählen - nicht sicher festzustellen sein, sondern würde vor allem als Vergleichsmaßstab ausscheiden, wenn der Verletzte nicht in Vertretung eines sonst im Betrieb tatsächlich Beschäftigten eingesetzt wurde, sondern zusätzlich als Arbeitskraft tätig war.
Auch vom Ergebnis her erscheint es gerechtfertigt, darauf abzustellen, welche Leistungen an den Verletzten bei einer dauernden Beschäftigung in der Landwirtschaft zu erbringen gewesen wären. Zugunsten der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft wirkt sich diese Auslegung dahin aus, daß bei Zugehörigkeit des Verletzten zu den Familienangehörigen im Sinne des § 780 RVO dem Lastenausgleich die ggf. niedrigeren Leistungen an diese Personen zugrunde gelegt werden. Andererseits werden aber der Berechnung des Lastenausgleichs als Leistungen aus der gesetzlichen landwirtschaftlichen Unfallversicherung nicht geringere Beträge zugrunde gelegt, als sie von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft für den Verletzten bei einer dauernden Tätigkeit in der Landwirtschaft aufzubringen gewesen wären. Die Auffassung, daß es für die Höhe des Ausgleichsanspruchs gemäß § 788 RVO darauf ankommt, welche Leistungen der Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung erbringen müßte, wenn der Verletzte dauernd in der Landwirtschaft beschäftigt wäre, sichert somit eine ausgewogene Berücksichtigung der Interessen sowohl der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft als auch des Trägers der allgemeinen Unfallversicherung.
Der Verletzte O. hätte, wovon auch die Klägerin ausgeht, bei einer dauernden Beschäftigung in der Landwirtschaft des R. unbeschadet des § 565 RVO einen Anspruch auf Verletztengeld im Sinne des § 560 RVO in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) am 1. Oktober 1974, weil er kein mitarbeitender Familienangehöriger im Sinne des § 780 RVO wäre. Die Klägerin kann demnach, wie das SG und das LSG zutreffend entschieden haben, auch für die ersten 13 Wochen nach dem Unfall nicht gemäß § 788 RVO vollen Ersatz für die während dieser Zeit erbrachten Geldleistungen verlangen.
Die Revision der Klägerin war somit zurückzuweisen.
Eine Kostenentscheidung entfällt (s. § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen