Entscheidungsstichwort (Thema)

Ordnungsgemäße Terminsladung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Anspruch auf das verfassungsrechtlich garantierte rechtliche Gehör (GG Art 103 Abs 1 ist auch dann verletzt, wenn ein Beteiligter erkennen konnte, daß die Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht ordnungsgemäß erfolgt ist.

2. Die ordnungsmäßige Terminsladung fällt in den Verantwortungsbereich des Gerichts; es ist nicht Sache eines - noch dazu nicht vertretenen - Beteiligten, Verfahrensverstöße des Gerichts richtigzustellen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 110 Fassung: 1958-06-25

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1959 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte 1951 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Bänderschadens und Kreislaufstörungen; er führte die Gesundheitsstörungen auf einen 1942 im Wehrdienst erlittenen Unfall zurück. Der Beklagte lehnte den Antrag auf Versorgung ab, weil ein krankhafter Befund nicht zu erheben sei. Das Sozialgericht wies mit Urteil vom 3. Juni 1957 die Klage aus dem gleichen Grunde ab. Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 30. Oktober 1959 die Berufung des Klägers zurück; Folgen des 1942 erlittenen Unfalls seien nicht zurückgeblieben. Das LSG ließ die Revision nicht zu.

Mit der Revision beantragte der Kläger, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Der Kläger rügt, das LSG habe ihn nicht ordnungsgemäß zum Verhandlungstermin vom 30. Oktober 1959 geladen und dadurch gegen die Pflicht verstoßen, den Beteiligten den Verhandlungstermin mitzuteilen (§§ 153 Abs. 1, 110 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren (§§ 153 Abs. 1, 62 SGG). Nach der in Urschrift vorgelegten Terminsbenachrichtigung vom 28. September 1959 sei Termin zur mündlichen Verhandlung auf Freitag, den 28. September 1959, bestimmt worden. Mit dieser Ladung habe der Kläger nichts anzufangen gewußt, weil beim Empfang der Ladung (30.9.1959) der angezeigte Verhandlungstermin (28.9.1959) schon verstrichen gewesen sei. Zu dem vom LSG auf den 30. Oktober 1959 anberaumten Verhandlungstermin, in dem über seine Berufung verhandelt wurde, sei er nicht geladen worden. Hierdurch sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Mit Schriftsatz vom 15. Februar 1960 ergänzte der Kläger seine Revisionsbegründung dahin, das LSG habe auch seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, weil es unterlassen habe, die Akten des Arbeitsamts Bad H... beizuziehen. Diese Akten hätten bewiesen, daß der Kläger wegen einer Beckenluxation arbeitsunfähig gewesen sei und deshalb die Arbeitslosenunterstützung verloren habe.

Der Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG). Die Verfahrensrüge, dem Kläger sei das rechtliche Gehör nicht gewährt worden, ist begründet.

Nach § 110 SGG, der nach § 153 Abs. 1 SGG auf das Verfahren vor dem Berufungsgericht entsprechend anzuwenden ist, bestimmt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie in der Regel zwei Wochen vorher den Beteiligten mit. Im vorliegenden Falle hat der Senatsvorsitzende mit Verfügung vom 28. September 1959 Termin auf Freitag, den 30. Oktober 1959, anberaumt und die Ladung des Klägers gegen Postzustellungsurkunde angeordnet. In der vom Kläger vorgelegten Ladung vom 28. September 1959 ist diesem aber mitgeteilt worden, daß Termin auf Freitag, den 28. September 1959 bestimmt sei. Diese Ladung hat der Kläger am 30. September 1959 zugestellt erhalten. Er hätte zwar durch eine Anfrage beim LSG den Sachverhalt aufklären und dadurch die Terminsbestimmung auf den 30. Oktober 1959 erfahren können. Die Unterlassung dieser Anfrage kann dem Kläger jedoch nicht zugerechnet werden, weil die ordnungsgemäße Terminsladung in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt. Es ist nicht Sache eines noch dazu nicht vertretenen Beteiligten, Verfahrensverstöße des Gerichts richtigzustellen. Der Kläger ist demnach zum Verhandlungstermin vom 30. Oktober 1959 nicht geladen worden. Da er zu diesem Termin nicht erschienen ist, konnte der Mangel der unterlassenen Ladung auch nicht geheilt werden. Der Kläger konnte in dieser mündlichen Verhandlung weder zu den Anträgen des Gegners Stellung nehmen noch selbst Anträge stellen und begründen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden hat, gehört der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG) zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten beherrschen (BSG 7, 230). Aufgabe der mündlichen Verhandlung ist es, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern und damit das gewährleistete Recht auf Gehör vor Gericht zu verwirklichen (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -; § 62 SGG); denn die Beteiligten müssen in der Lage sein, die Bedeutung des vorgetragenen Streitstoffes zu erfassen und daraus verfahrensrechtlich und materiellrechtlich Folgerungen zu ziehen (SozR SGG § 62 Bl. Da 3 Nr. 11). Jeder Beteiligte hat ein Recht darauf, an der mündlichen Verhandlung persönlich oder durch einen Vertreter teilzunehmen und gehört zu werden (BSG 1, 277; 12,9). Das LSG hat dem Kläger diese Möglichkeit genommen. Damit ist sein Anspruch auf das verfassungsrechtlich garantierte rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Dieser wesentliche Verfahrensmangel macht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG die Revision statthaft.

Die Revision ist auch begründet; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei ordnungsgemäßem Verfahren anders entschieden hätte. Da dieser Verfahrensmangel bereits durchgreift, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die weitere Rüge der Revision, das LSG habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt (§ 103 SGG), begründet ist.

Das auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhende Urteil war aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil vorschriftsmäßig zustande gekommene tatsächliche Feststellungen fehlen. Der Rechtsstreit war daher an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Ausspruch über die Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304901

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