Leitsatz (amtlich)
1. Mit Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine geringfügige Beschäftigung im Sinne des AVAVG 1927 § 75a Abs 2 vereinbar (AVAVG 1927 § 87a Abs 3), sondern auch eine sonstige Tätigkeit entsprechenden Umfangs (AVAVG 1927 § 112). Die Zeitdauer der Beschäftigung oder Tätigkeit ist ohne Bedeutung, ebenso, ob sie mit oder ohne Unterbrechung ausgeübt wird.
2. Ein stellungsloser Friseur, der in seinem ländlichen Wohnort für eigene Rechnung eine unbedeutende Anzahl von Kunden mit einfachen Fachleistungen bedient, ist kein selbständiger Gewerbetreibender im Sinne des AVAVG 1927 § 87a Abs 1 S 1. Unberührt bleibt die Frage, ob etwa nach berufsständischer Auffassung "Schwarzarbeit" vorliegt.
Normenkette
AVAVG § 75a Abs. 2; AVAVG 1927 § 75a Abs. 2; AVAVG § 87; AVAVG 1927 § 87; AVAVG § 87a Abs. 1 S. 1; AVAVG 1927 § 87a Abs. 1 S. 1; AVAVG § 87a Abs. 3; AVAVG 1927 § 87a Abs. 3; AVAVG § 112; AVAVG 1927 § 112
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 22. März 1955 sowie die vorausgegangenen Entscheidungen, nämlich die Verfügung des Arbeitsamts Hildesheim vom 29. Mai 1952, die Entscheidung des Spruchausschusses des Arbeitsamts vom 10. Februar 1955 und die Entscheidung des Oberversicherungsamts Hannover vom 28. Oktober 1953, aufgehoben.
Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung bzw. Arbeitslosenfürsorgeunterstützung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die im Berufungs- und im Revisionsverfahren erwachsenen Kosten zu erstatten.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts des Klägers vor dem Bundessozialgericht wird auf 100,- DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I Der Kläger, der 1928 geboren und gelernter Friseur ist, bezog seit 1949 mit verschiedenen Unterbrechungen durch versicherungspflichtige Beschäftigungen in seinem Beruf zeitweise Arbeitslosenunterstützung (Alu) und zeitweise Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu).
Im Mai 1952 ermittelte das Arbeitsamt Hildesheim, daß der Kläger, der seit 1948 in dem Dorf B. wohnt, dort auf eigene Rechnung Friseurleistungen gegen Entgelt verrichtete, ohne das Gewerbe anzumelden und ohne die Einnahmen aus dieser Tätigkeit anzuzeigen. Er hatte in B., wo sich überhaupt kein Friseurgeschäft befand, etwa 30 Einwohner laufend als Kunden für den Haarschnitt, einige auch für Rasuren. Diese Kundschaft bediente er in seiner Wohnung, die ohne besondere fachliche Aufmachung oder betriebliche Ausstattung war.
Daraufhin entzog das Arbeitsamt Hildesheim (Verfügung vom 29. Mai 1952) dem Kläger die Unterstützung rückwirkend vom 25. Juni 1949 und forderte die Rückerstattung von DM 2.223,55 (Verfügung vom 2. August 1952), da er in seiner Wohngemeinde während der Unterstützungszeiten selbständig als Friseur tätig gewesen sei.
Das Amtsgericht Bockenem verurteilte auf Anzeige hin den Kläger am 30. Juli 1952 wegen Betrugs in zwei Fällen, begangen jeweils in fortgesetzter Handlung, zu einer Geldstrafe von je 30,- DM, weil er sein Nebeneinkommen aus der Friseurtätigkeit nicht gemeldet habe. Der Strafrichter verneinte jedoch, daß der Kläger ein selbständiges Gewerbe betrieben habe. Das Strafurteil wurde rechtskräftig, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Berufung zurückgezogen hatte.
II Der Einspruch des Klägers gegen die Verfügung des Arbeitsamts wurde durch den Spruchausschuß (Entscheidung vom 10. Februar 1953) mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß auf Rückzahlung eines Betrages von 1.223,55 DM verzichtet und der Kläger nur zur Rückerstattung von 1.000,- DM verpflichtet wurde.
Die hiergegen eingelegte Berufung wurde vom Oberversicherungsamt (OVA.) Hannover (Entscheidung vom 28. Oktober 1953) zurückgewiesen, weil durch die vom Kläger geleisteten Arbeiten die Tätigkeitsmerkmale eines selbständigen Gewerbes erfüllt seien. Das OVA. bezeichnete seine Entscheidung nach § 180 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) als endgültig.
Die vom Kläger mit Schriftsatz vom 16. Dezember 1953 beim Oberverwaltungsgericht (OVerwG.) Lüneburg erhobene Klage wurde durch Beschluß dieses Gerichts vom 13. Januar 1954 an das Landessozialgericht (LSG.) Celle verwiesen.
Das LSG. Celle, das nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Rechtsmittel des Klägers als Berufung behandelte, wies diese (Urteil vom 22. März 1955) mit der Begründung zurück, daß der Kläger selbständiger Gewerbetreibender sei, da er in unabhängiger Stellung für eigene Rechnung bei einem Kundenstamm von 30 Personen selbständige handwerkliche Arbeit geleistet habe. Unerheblich bleibe, daß die gewerberechtlichen Vorschriften nicht erfüllt seien. Auch komme es nicht auf den Umfang der Tätigkeit und die Höhe des Einkommens an.
Die Revision wurde zugelassen.
III Der Kläger legte gegen dieses ihm am 24. Juni 1955 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 21. Juli 1955 - beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 22. Juli - Revision ein und begründete sie gleichzeitig damit, nicht Abs. 1 Satz 1 des § 87a AVAVG, sondern vielmehr dessen Absatz 3 sei für die Beurteilung der Rechtslage maßgebend. Der Kläger müsse, da er nur eine geringfügige Beschäftigung im Sinne des § 75a Abs. 2 AVAVG ausgeführt habe, als arbeitslos gelten. Der Revisionsantrag des Klägers war wie folgt formuliert:
"Wir werden beantragen, unter Abänderung des angefochtenen Urteils und der Entscheidung des Oberversicherungsamts Hannover vom 28.10.1953 den Rückzahlungsbescheid des Arbeitsamts Hildesheim vom 2.8.1952 und den Einspruchsbescheid des Arbeitsamts Hildesheim vom 10.2.1953 auch in Höhe des Restbetrages von 1000,- DM, auf den noch nicht verzichtet ist, aufzuheben und der Beklagten die Kosten aufzuerlegen".
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen, gegebenenfalls die Sache zur nochmaligen Verhandlung an das LSG. zurückzuverweisen.
Sie machte geltend, die Revision enthalte keinen bestimmten Antrag im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG. Im übrigen hätte das LSG. bereits die Berufung als unzulässig verwerfen müssen, weil die Entscheidung des OVA. mit keinem weiteren Rechtsmittel angefochten werden konnte. Materiell-rechtlich verwies die Beklagte auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die sie für zutreffend erachtet.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
Das Armenrecht war dem Kläger durch Beschluß des BSG. vom 29. November 1955 bewilligt worden.
Entscheidungsgründe
IV Die Revision ist statthaft, da sie das LSG. gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat.
Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Es bestehen keine Bedenken, trotz der von dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers gewählten Formulierung "wir werden beantragen" den in der Revisionsschrift enthaltenen Antrag als ordnungsgemäß anzuerkennen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 21. März 1956 - 7 RAr 124/55 - entschieden hat, ist dem Erfordernis des bestimmten Antrags im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG noch genügt, wenn der sonst ausreichende Antrag in der Zukunfts- statt zutreffend in der Gegenwartsform gestellt wird.
V Die Revision ist auch begründet.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das Berufungsgericht mit Recht in der Sache entschieden. Der Rechtsstreit war beim Inkrafttreten des SGG (1.1.1954) beim OVerwG. Lüneburg, also einem allgemeinen Verwaltungsgericht des zweiten Rechtszuges, rechtshängig. Die schwebende Streitsache ist dann gemäß § 215 Abs. 8 SGG auf das LSG. Celle als Berufung übergegangen, und deren Zulässigkeit richtet sich fortan ausschließlich nach diesem Gesetz. Zutreffend hat das LSG. im vorliegenden Fall angenommen, daß die Berufung nach § 143 SGG stattfindet, weil es sich beim Anspruch des Klägers weder um Leistungen nach § 144 SGG handelt noch Beginn oder Höhe der Unterstützung nach § 147 SGG betroffen werden. Auch soweit die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sich darüber auslassen, daß das OVerwG. zulässigerweise sowie form- und fristgerecht angerufen wurde, ergeben sich gegen die Feststellungen des Vorderrichters keine rechtlichen Bedenken.
VI Materiell-rechtlich kann aber die Entscheidung des LSG. nicht Bestand haben. Der Vorderrichter hat allein aus der Tatsache, daß der Kläger in unabhängiger Stellung und für eigene Rechnung handwerkliche Arbeiten gegen Entgelt verrichtete, geschlossen, daß er selbständiger Gewerbetreibender im Sinne des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG gewesen und demzufolge nicht als arbeitslos anzusehen sei.
Der erkennende Senat hat die Begriffe des "selbständigen Gewerbetreibenden" und der "Arbeitslosigkeit" eingehend in seinem Urteil vom 21. März 1956 - 7 RAr 7/54 - (vgl. BSG. 2 S. 67) behandelt. Auf die dort dargelegten Einzelheiten wird Bezug genommen. Der Senat hat dabei als wesentliche Voraussetzung für die Anwendung des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG bezeichnet, daß das Gewerbe ein "Vollgewerbe" darstellt, d.h. ein Gewerbe, das nach allgemeiner Anschauung die Lebensgrundlage bildet. Er ist ferner von der Auffassung ausgegangen, daß ein bisheriger Vollarbeitnehmer nicht allein dadurch zum selbständigen Gewerbetreibenden wird, daß er in der Zeit seiner Nichtbeschäftigung gewerbliche Tätigkeiten ausübt. Alsdann ist vielmehr für die Feststellung, ob Arbeitslosigkeit im Sinne des AVAVG vorliegt, jeweils zu prüfen, ob der Antragsteller etwa durch die persönlichen oder vertraglichen Bindungen aus seinem Gewerbebetrieb verhindert ist, zeitlich andere als nur geringfügige Beschäftigungen im Sinne des § 75a Abs. 2 auszuüben, ob er also dem Arbeitsmarkt für nicht mehr als 24 Arbeitsstunden zur Verfügung steht. In diesem Falle gilt er nicht als arbeitslos. Ist er dagegen für mehr als 24 Arbeitsstunden arbeitsbereit, so hat er unter den sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen den Unterstützungsanspruch.
VII Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG. waren die handwerklichen Leistungen, die der Kläger in seinem Wohnort als Friseur ausübte, zwar nicht der wöchentlichen Arbeitszeit nach fest abgegrenzt oder sonst in der Zeitdauer näher zu bestimmen. Er bediente seinen dörflichen Kundenkreis von Fall zu Fall und mit Unterbrechungen. Nach der Gesamtzahl seiner Kunden, die sich auf etwa 30 Ortsbewohner belief, muß aber davon ausgegangen werden, daß im Durchschnitt je Person monatlich nur ein Haarschnitt und darüber hinaus wenige Rasuren anfielen. Da der Kläger in seiner Wohnung keine fachübliche Einrichtung zur Verfügung hatte, konnte es sich lediglich um einfache Fachleistungen handeln, die nur geringfügige Arbeitsverdienste einbrachten. Zwar ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bei einem "Vollgewerbe" der tatsächliche Ertrag ohne Bedeutung. Jedoch ergibt sich schon aus dem Fehlen einer Geschäftseinrichtung, daß mit der Tätigkeit des Klägers nach allgemeiner Anschauung keine Lebensgrundlage zu gewinnen war. Er übte also tatsächlich kein "Vollgewerbe" aus und befand sich auch nicht im Übergang aus der gewohnten Beschäftigung als Arbeitnehmer in eine unabhängige Tätigkeit. Sein Wille war offensichtlich darauf gerichtet, weiterhin Arbeitnehmer zu bleiben, und er stand, da er seine Tätigkeit jederzeit zugunsten einer neuen Arbeitnehmerbeschäftigung aufzugeben bereit und in der Lage war, dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung. Bei ihm ist demnach die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit erfüllt.
Diese Schlußfolgerung wird auch durch § 87a Abs. 3 in Verbindung mit § 112 AVAVG bestätigt. § 87a Abs. 3 AVAVG besagt zwar unmittelbar nur, daß die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung im Sinne des § 75a Abs. 2, also einer Arbeitnehmerbeschäftigung, der Annahme von Arbeitslosigkeit nicht entgegensteht. Aber auf dem Wege über § 112 AVAVG ist er zu erweitern. § 112 regelt, wie Verdienst aus geringfügiger Beschäftigung und aus "sonstiger Tätigkeit entsprechenden Umfanges", den ein Empfänger von Arbeitslosenunterstützung hat, auf deren Höhe einwirkt. Obwohl also § 112 nur eine Anrechnungsvorschrift darstellt, zeigt er trotzdem deutlich, daß das Gesetz nicht nur "Arbeitslose" im Auge hat, die Verdienst aus geringfügiger Beschäftigung beziehen, sondern auch - sonst wäre die Anrechnungsvorschrift sinnwidrig - "Arbeitslose" mit Verdienst aus "sonstiger Tätigkeit entsprechenden Umfanges". Mit der letzteren kann, zumal angesichts der Gegenüberstellung der Begriffe "Beschäftigung" und "Tätigkeit", aber nur eine selbständige Betätigung gemeint bzw. mitgemeint sein. Auch eine selbständige Tätigkeit, wie sie der Kläger während seiner Arbeitslosigkeit ausgeübt hat, ist demnach für seine Eigenschaft als "Arbeitsloser" unschädlich. Ob diese Tätigkeit dauernd oder nur gelegentlich oder einmalig ausgeübt wird, ist mangels gegenteiliger gesetzlicher Anhaltspunkte ohne Bedeutung, ebenso, ob sie unterbrochen wird oder nicht.
VIII Unter diesen Umständen hat der Kläger Anspruch auf Alu.
Außer Betracht zu bleiben hatte die Frage, ob bei der handwerklichen Tätigkeit des Klägers etwa nach berufsständiger Auffassung "Schwarzarbeit" vorlag oder nicht.
Nach alledem mußten das Urteil des LSG. vom 22. März 1955 und die Entscheidung des OVA. vom 28. Oktober 1953 sowie die vorausgegangenen Verfügungen der Arbeitsverwaltung aufgehoben werden.
Da ausreichende Feststellungen des Arbeitsamts über die Berechnung der jeweils zuständigen Alu oder Alfu nicht vorlagen, mußte die Beklagte dem Grunde nach verurteilt werden, dem Kläger diese Unterstützungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren (§§ 130 Satz 1, 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten ergeht gemäß § 193 SGG.
Die Festsetzung der Gebühr für die Berufstätigkeit des Prozeßbevollmächtigten des Klägers beruht auf § 196 SGG.
Fundstellen