Leitsatz (amtlich)

1. Ist ein Vorbescheid ergangen, so gilt die Frist für den Antrag auf mündliche Verhandlung (SGG § 105 Abs 2) nicht als gewahrt, wenn der Antrag innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht bei einer der in SGG § 91 Abs 1 bezeichneten Stellen eingegangen ist.

2. Der Antrag nach SGG § 105 Abs 2 ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des zuständigen Sozialgerichts zu stellen.

3. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Vorbescheid ist unrichtig, wenn sie nicht den Hinweis enthält, daß der Antrag auf mündliche Verhandlung schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts zu stellen ist.

 

Normenkette

SGG § 66 Fassung: 1953-09-03, § 91 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 105 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1962 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 12. Mai 1960 werden aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Das Versorgungsamt (VersorgA) Bielefeld stellte mit Bescheid vom 22. Juli 1958 die Versorgungsbezüge des Klägers neu fest; es gewährte dem Kläger - anstatt der bisherigen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. - nur noch eine Rente nach einer MdE von 30 v. H.. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) wies den Widerspruch des Klägers am 31. Dezember 1958 zurück. Die Klage wies der Vorsitzende der zuständigen Kammer des Sozialgerichts (SG) Detmold durch Vorbescheid vom 11. August 1959 als offenbar unbegründet ab; der Vorbescheid enthielt die Rechtsmittelbelehrung "Gegen diesen Vorbescheid kann binnen eines Monats seit der Zustellung die mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht beantragt werden", er wurde dem Kläger am 20. August 1959 zugestellt. Mit Schreiben vom 19. September 1959 "an das Sozialgericht Detmold durch die Amtsverwaltung Ennigloh" beantragte der Kläger mündliche Verhandlung. Dieser Antrag ging bei der Amtsverwaltung Ennigloh am Montag, dem 21. September, beim SG Detmold am 26. September 1959 ein. Das SG wies den Antrag auf mündliche Verhandlung mit Urteil vom 12. Mai 1960 wegen Fristversäumnis als unzulässig zurück. Es vertrat die Auffassung, der Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei nur dann rechtzeitig gestellt, wenn er binnen eines Monats nach Zustellung des Vorbescheids bei dem SG eingehe; der Eingang bei einer anderen inländischen Behörde innerhalb der Antragsfrist wahre die Frist des § 105 Abs. 2 SGG nicht.

Der Kläger legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ein. Er trug vor, der Antrag auf mündliche Verhandlung sei rechtzeitig gestellt, weil er innerhalb der Monatsfrist bei einer anderen inländischen Behörde (§ 91 Abs. 1 SGG) eingegangen sei. Das LSG wies die Berufung mit Urteil vom 12. Mai 1960 zurück. Es führte aus, das SG habe den Antrag des Klägers auf mündliche Verhandlung zu Recht wegen Fristversäumnis als unzulässig angesehen. Die Auffassung des Klägers, ein Antrag auf mündliche Verhandlung sei auch dann fristgerecht gestellt, wenn er innerhalb der Rechtsbehelfsfrist statt beim SG bei einer anderen inländischen Behörde (§ 91 Abs. 1 SGG) eingegangen sei, treffe nicht zu; § 91 Abs. 1 SGG gelte nur für die Frist zur Erhebung der Klage, auf den Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 2 SGG sei diese Vorschrift nicht anzuwenden. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 11. Juli 1962 zugestellt.

Der Kläger legte am 27. Juli 1962 Revision ein. Er beantragte,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Rente nach einer MdE von 40 v. H. zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger begründete seine Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 6. Oktober 1962. Er machte geltend, das LSG habe die Vorschriften der §§ 105 Abs. 2, 91, 94 Abs. 1 SGG unrichtig angewandt. Das LSG habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, die Frist für den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG sei nicht gewahrt, wenn dieser Antrag vor Fristablauf nicht beim SG, sondern bei einer anderen inländischen Behörde eingegangen sei; § 91 SGG sei auf den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG entsprechend anzuwenden; im übrigen sei die Rechtsmittelbelehrung des Vorbescheids unvollständig, da sie weder das Gericht noch den Sitz des Gerichts, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen sei, noch die Form des Rechtsbehelfs (schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten des SG) enthalte; der Antrag sei daher nicht verspätet gestellt, weil die Rechtsbehelfsfrist erst nach einem Jahr abgelaufen sei (§ 66 Abs. 2 SGG). Der Beklagte stellte keinen Antrag. Soweit in der Revision geltend gemacht ist, das SG habe in dem Vorbescheid eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt, widersprach er den Ausführungen des Revisionsklägers nicht.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 i. V. m. den §§ 153 Abs. 1 und 165 SGG).

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, der Kläger hat sie form- und fristgerecht eingelegt; sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Die Auffassung des LSG, das SG habe den Antrag des Klägers auf mündliche Verhandlung zu Recht wegen Fristversäumnis für unzulässig gehalten, trifft nicht zu.

Der Kläger hat zwar die Frist des § 105 Abs. 2 SGG nicht dadurch gewahrt, daß er den Antrag vor Ablauf der Monatsfrist bei der Amtsverwaltung Ennigloh eingereicht hat; § 91 Abs. 1 SGG, der bestimmt, daß die Frist für die Erhebung der Klage auch dann als gewahrt gilt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei einer anderen inländischen Behörde eingegangen ist, ist auf den Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 2 SGG nicht anzuwenden. Die Vorschrift des § 91 Abs. 1 SGG enthält eine "Ausnahmeregelung", "eine Unterstellung für die Wahrung der Klagefrist" (vgl. für die Wahrung der Berufungsfrist Urteil des BSG vom 14. Januar 1958, SozR Nr. 7 zu § 151); ihr Sinn und Zweck ist es, dem Rechtsuchenden den Weg zum Gericht zu erleichtern; sie kann auch der Beschleunigung des Verfahrens in den Fällen dienen, in denen der Kläger die Klage bei der Behörde einreicht, deren Verwaltungsakt er anficht, und diese Behörde die Klage zugleich mit ihrer Stellungnahme und den Akten an das SG weiterleitet (vgl. auch Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 1 zu § 91 SGG); sie läßt sich aber nicht auf Rechtsbehelfe und Rechtsmittel ausdehnen, die einzulegen sind, nachdem die Klage bereits erhoben und damit die Streitsache beim Gericht rechtshängig geworden ist. Wenn § 105 Abs. 2 SGG keine Vorschrift über die Form des Antrags auf mündliche Verhandlung enthält, so ist daraus nicht zu schließen, daß für diesen Antrag keine "strengeren Vorschriften" als für die Klageerhebung gelten und deshalb auch die "Erleichterung" des § 91 Abs. 1 SGG entsprechend anzuwenden ist (aM Urteil des LSG Niedersachsen vom 16. Dezember 1955, Die SGb 1957, 55, ferner Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG, Anm. 6 zu § 105); eine entsprechende Anwendung des § 91 Abs. 1 SGG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Vorschrift eindeutig auf die "Situation" des Rechtsuchenden vor der Klageerhebung abgestellt ist und erkennbar eine Ausnahmeregelung darstellt. Die Beteiligten haben im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich ihre Rechtsbehelfe und Rechtsmittel beim Gericht anzubringen, und zwar bei dem Gericht, das über diese Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel entscheidet (§§ 90 Abs. 1, 151 Abs. 1, 164 SGG); dieser Grundsatz gilt auch für den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG.

Indes hat der Kläger im vorliegenden Falle die Antragsfrist nach § 105 Abs. 2 SGG aus einem anderen Grunde nicht versäumt.

Nach § 66 Abs. 2 SGG, 1. Halbs., ist die Einlegung eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs - von den hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen des § 66 Abs. 2 Halbs. 2 SGG abgesehen - noch innerhalb eines Jahres von der Zustellung, Eröffnung oder Verkündung einer Entscheidung an zulässig, wenn die Belehrung nach § 66 Abs. 1 SGG unterblieben oder unrichtig erteilt worden ist. Innerhalb der Frist von einem Jahr seit der Zustellung des Vorbescheids ist der Antrag auf mündliche Verhandlung bei dem SG eingegangen. Der Kläger kann sich auch auf die Frist des § 66 Abs. 2 SGG berufen, weil ihm das SG keine richtige Belehrung erteilt hat. Zur Richtigkeit einer Belehrung gehört, daß sie vollständig ist; vollständig ist sie, wenn sie die Beteiligten über die für sie wesentlichen Einzelheiten des Rechtsbehelfs unterrichtet (BSG 1, 194). Zu den wesentlichen Einzelheiten, über die die Beteiligten belehrt werden müssen, gehört auch die für den Rechtsbehelf vorgeschriebene Form (BSG 7, 16). Das SGG enthält zwar keine ausdrückliche Vorschrift über die Form des Antrags nach § 105 Abs. 2 SGG; daraus folgt jedoch nicht, daß dieser Antrag überhaupt keiner Form bedarf. Das SG bestimmt im § 90 SGG für die Klageerhebung als Regelweg, daß die Klage bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben ist; es bestimmt in § 151 Abs. 1 SGG für die Berufung ebenfalls als Regelweg, daß die Berufung beim LSG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des LSG einzulegen ist. Daraus ist zu entnehmen, daß auch der Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu stellen ist; insoweit kann für den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG nichts anderes gelten als für die Klage und Berufung; die Formvorschriften für die Klage und die Berufung dienen der Rechtsklarheit; im Interesse der Rechtsklarheit ist es geboten, daß Klage und Berufung nicht mündlich erhoben werden; dieses Interesse besteht auch, wenn nach Erlaß eines Vorbescheids mündliche Verhandlung beantragt wird. Die Formvorschriften der §§ 90 und 151 Abs. 1 SGG sind daher insoweit auf den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG entsprechend anzuwenden. Die Belehrung, die das SG im vorliegenden Falle erteilt hat, ist deshalb nicht vollständig; sie bezeichnet zwar den Rechtsbehelf (Antrag auf mündliche Verhandlung), aus ihr ergibt sich auch hinreichend deutlich das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist und der Sitz des Gerichts (SG Detmold), ebenso die Antragsfrist (1 Monat); dagegen ist über die Form des Antrags (schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten des SG) nichts gesagt. Die Belehrung ist nicht nur deshalb unvollständig und damit unrichtig, weil sie nicht erwähnt, daß der Antrag "schriftlich" zu stellen ist, sondern auch deshalb, weil sie nicht auch auf die Möglichkeit hinweist, daß der Antrag zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG gestellt werden kann. Wie im Falle des § 90 SGG bei der Klageerhebung und des § 151 Abs. 1 SGG bei der Einlegung der Berufung, stellen auch bei dem Antrag auf § 105 Abs. 2 SGG die beiden Möglichkeiten "schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle" zwei Alternativen dar, die selbständig nebeneinander stehen (vgl. BSG 7, 16). Die Möglichkeit, den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG zu stellen, ist keine "Auch-Möglichkeit", über die nicht belehrt werden muß (vgl. BSG 7, 16); er ist vielmehr eine der beiden Formen des Regelweges. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Vorbescheid ist deshalb nur vollständig, wenn sie beide zugelassenen Formen des Antrags enthält (vgl. auch BSG 7, 1).

Erfüllt hiernach die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Vorbescheid nicht die Voraussetzung des § 66 Abs. 1 SGG, so ist auch die Antragsfrist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht in Lauf gesetzt worden und der Antrag somit nicht verspätet gewesen. Der Vorbescheid gilt deshalb nach § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG als nicht ergangen. Das LSG hat danach zu Unrecht angenommen, das SG habe nicht in der Sache selbst entscheiden müssen.

Die Revision ist somit begründet. Die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben. Das BSG kann nicht in der Sache selbst entscheiden; die Sache ist daher nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2375175

NJW 1963, 1644

DVBl. 1963, 867

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