Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufungsausschluß. Übergangsgeld. Zusammenrechnung von Bezugstagen. Beschwer

 

Orientierungssatz

1. Auch wenn die Anspruchsvoraussetzungen für jeden Tag, für den Übergangsgeld gewährt werden soll, gegeben sein müssen, gehört der Anspruch auf Übergangsgeld seinem Wesen nach zu den wiederkehrend aus einem einheitlichen Rechtsverhältnis fließenden Leistungen, die sich nicht in einer einzigen Gewährung erschöpfen, denn das Übergangsgeld wird kalendertäglich gezahlt, solange der Anspruchsberechtigte an der in der Regel länger dauernden Maßnahme der beruflichen Bildung teilnimmt (§ 59 Abs 1 und 2 AFG).

2. Die Regel, daß die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen ist, gilt nicht uneingeschränkt, insbesondere nicht im Falle des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Statthaftigkeit der Berufung von einer bestimmten Beschwer abhängig gemacht, die durch die Länge des Zeitraums, für den wiederkehrende Leistungen streitig sind, zum Ausdruck gebracht ist. Sind gleichartige wiederkehrende Leistungen streitig, dh in ihrer Grundstruktur gleiche Einzelansprüche, die auf einem einheitlichen Stammrecht beruhen und für die das Moment zeitlicher Dauer typisch ist, wird die Beschwer von der Länge des Zeitraums bestimmt, für den die Leistungen streitig sind. Daher ist in diesen Fällen eine Zusammenrechnung der Zeiträume zulässig, wenn mehrere Ansprüche zu gleichartigen wiederkehrenden Leistungen führen und auf den gleichen Entstehungsgrund zurückgehen (vgl BSG vom 24.1.1974 6 RKa 2/73 = SozR 1500 § 144 Nr 1).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 2; AFG § 59 Abs 1; AFG § 59 Abs 2 S 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.02.1988; Aktenzeichen L 9 Al 233/86)

SG München (Entscheidung vom 11.04.1986; Aktenzeichen S 05 Al 0410/84)

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem Kläger für eine Umschulung zum Wirtschaftsinformatiker in der Zeit vom 6. Oktober 1980 bis zum 30. September 1982 Leistungen zur beruflichen Rehabilitation, ua Übergangsgeld (Übg) und die Erstattung von Reisekosten. Durch den angefochtenen Bescheid vom 8. August 1983 in der Gestalt des Bescheides vom 2. Februar 1984 und des Widerspruchsbescheides vom 10. April 1984 hob die Beklagte die Bewilligung des Übg für 246 bestimmte Tage in Höhe von 10.914,66 DM auf, weil der Kläger an diesen Tagen ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes an der Unterweisung nicht teilgenommen habe, und verlangte die Erstattung des genannten Betrages. Durch weiteren Bescheid vom 8. August 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 1984 bewilligte die Beklagte Reisekosten in Höhe von 1.463,17 DM und forderte die Erstattung der Differenz zu geleisteten Abschlagszahlungen von 2.092,13 DM abzüglich 9,81 DM in Höhe von 619,15 DM. Vor dem Sozialgericht (SG) beschränkte die Beklagte die Aufhebung der Bewilligung des Übg zunächst auf die im Bescheid vom 8. August 1983 festgestellten Tage (Erklärung vom 15. November 1985) und schließlich auf 200 im Schriftsatz vom 28. Februar 1986 genannte Tage in Höhe von 8.833,85 DM (Erklärung vom 11. April 1986; Ausführungsbescheid vom 30. April 1987).

Das SG hat die im übrigen aufrechterhaltene Klage abgewiesen, weil der Kläger an den noch streitigen Tagen unentschuldigt gefehlt habe (Urteil vom 11. April 1986). Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) verworfen, soweit sie die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen betrifft, und im übrigen als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 25. Februar 1988).

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Berufung unterfalle, soweit sie die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen betreffe, der Vorschrift des § 144 Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), nach der eine Berufung nicht statthaft sei, wenn Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (3 Monaten) streitbefangen seien. Der Kläger mache einen Anspruch auf Unterhaltsgeld und Fahrkostenerstattung, also eine Forderung auf laufende Leistungen, geltend. Diese seien für die von der Beklagten angegebenen unentschuldigten Fehltage streitig, die zwar nicht in jedem Falle als Einzeltage, sondern teilweise auch zusammenhängend aufgetreten seien. Immer bildeten diese Fehltage aber zeitliche Gruppen von kürzeren Zeiträumen als 13 Wochen oder 3 Monaten. Voneinander zeitlich getrennte Fehlabschnitte seien aber bei der Frage der Zulässigkeit der Berufung nicht insgesamt zusammenzurechnen, sondern getrennt, dh füreinander selbständig anzusetzen (BSGE 22, 181, 186). Das SG habe die Berufung nicht zugelassen. Auch habe der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt hingewiesen worden sei, keinen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt; ein solcher sei auch nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Rückforderung sei die Berufung zwar zulässig, weil sie den Beschwerdewert von 1.000,-- DM erreiche (§ 149 SGG); die Berufung sei insoweit jedoch unbegründet, da die Verpflichtung des Klägers zur Erstattung ohne weiteres aus der bindenden Aufhebung der Leistungsbewilligung folge.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG. Die Berufung habe nach dieser Vorschrift nicht teilweise als unzulässig behandelt werden dürfen. Bei dem umstrittenen Übg handele es sich zwar um wiederkehrende Leistungen, die Fehltage überschritten aber insgesamt 13 Wochen. Auf der Verletzung des § 144 SGG beruhe das Urteil auch, soweit die Berufung als unbegründet zurückgewiesen worden sei; denn dieser Teil der Entscheidung sei nur eine zwingende Folge der Unzulässigkeit der Berufung gewesen. Hätte das LSG die Zulässigkeit der Berufung nicht verkannt, hätte es entscheiden müssen, ob die Fehltage entschuldigt gewesen seien und ob die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) vorgelegen hätten.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG und des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben,

und hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Sie hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Zu Recht rügt die Revision eine Verletzung des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG durch das LSG.

Nach § 143 SGG findet die Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte statt, soweit sich aus den Vorschriften der §§ 143 - 159 SGG nichts anderes ergibt. Betrifft ein Rechtsmittel, wie das hinsichtlich der Berufung des Klägers der Fall ist, ein Urteil, das über mehrere selbständige prozessuale Ansprüche entschieden hat, ist nach einer auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Regel die Zulässigkeit des Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen (vgl für viele BSGE 8, 228, 231 f). Zu Recht hat das LSG daher geprüft, ob die Berufung § 144 Abs 1 Nr 2 SGG unterfällt, soweit sich der Kläger gegen die "Aufhebung der Bewilligung von Leistungen" wendet. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist dies jedoch nicht der Fall. Insoweit betrifft die Berufung nicht auf einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (drei Monaten) beschränkte Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen.

Allerdings sind Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen im Streit. Von der Anfechtung der Erstattung abgesehen, ist Gegenstand des Rechtsstreits, soweit es um Übg geht, die Rechtsbehauptung des Klägers, die Aufhebung der Bewilligung sei rechtswidrig. Damit betrifft der Rechtsstreit wiederkehrende Leistungen. Auch wenn die Anspruchsvoraussetzungen für jeden Tag, für den Übg gewährt werden soll, gegeben sein müssen, gehört der Anspruch auf Übg seinem Wesen nach zu den wiederkehrend aus einem einheitlichen Rechtsverhältnis fließenden Leistungen, die sich nicht in einer einzigen Gewährung erschöpfen. Das Übg wird nämlich kalendertäglich gezahlt, solange der Anspruchsberechtigte an der in der Regel länger dauernden Maßnahme der beruflichen Bildung teilnimmt (§ 59 Abs 1 und 2 AFG).

Soweit die Berufung hiernach wiederkehrende Leistungen betrifft, sind diese nicht nur für 13 Wochen (3 Monate) streitig. Das LSG hat zwar nicht verkannt, daß dann, wenn die 200 Tage zusammengezählt werden, für die die Beklagte dem Kläger das Übg entzogen hat, 13 Wochen (3 Monate) bei weitem überschritten werden. Es hat indessen unter Berufung auf BSGE 22, 181, 186 gemeint, nur zusammenhängend verlaufene Tage, für die das Übg bestritten wird, seien zusammenzurechnen, andere nicht. Dem vermag der Senat im vorliegenden Falle nicht zu folgen.

Die erwähnte Regel, daß die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen ist, gilt nicht uneingeschränkt, insbesondere nicht im Falle des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Statthaftigkeit der Berufung von einer bestimmten Beschwer abhängig gemacht, die durch die Länge des Zeitraums, für den wiederkehrende Leistungen streitig sind, zum Ausdruck gebracht ist. Sind gleichartige wiederkehrende Leistungen streitig, dh in ihrer Grundstruktur gleiche Einzelansprüche, die auf einem einheitlichen Stammrecht beruhen und für die das Moment zeitlicher Dauer typisch ist, wird die Beschwer von der Länge des Zeitraums bestimmt, für den die Leistungen streitig sind. Daher ist in diesen Fällen eine Zusammenrechnung der Zeiträume zulässig, wenn mehrere Ansprüche zu gleichartigen wiederkehrenden Leistungen führen und auf den gleichen Entstehungsgrund zurückgehen (BSGE 11, 102, 108 = SozR Nr 16 zu § 144 SGG; SozR Nr 21 zu § 144 SGG; SozR 1500 § 144 Nr 1). Infolgedessen hat der Senat die Zusammenrechnung der Bezugszeiten für geboten angesehen, wenn die Berufung Arbeitslosengeld (Alg) oder Arbeitslosenhilfe während einer streitigen Sperrzeit und zugleich für die Zeit nach dem streitigen Ende einer Sperrzeit betraf (SozR 4100 § 119 Nr 12 und 1500 § 144 Nr 18); als unzulässig ist die Zusammenrechnung dagegen angesehen worden, wenn zwei, auch hinsichtlich der Anwartschaftszeiterfüllung materiell-rechtlich selbständige Ansprüche auf Alg im Streit sind (SozR 4100 § 118 Nr 10).

Hiernach ist im vorliegenden Falle eine Zusammenrechnung der 200 Tage geboten. Denn mit dem Übg sind in ihrer Grundstruktur gleiche Einzelansprüche streitig, die auf einem einheitlichen Stammrecht beruhen, nämlich dem mit Erfüllung aller Anspruchsvoraussetzungen entstanden Recht des Klägers auf Förderung seiner Teilnahme an der konkreten Rehabilitationsmaßnahme durch die Beklagte. Für das hier streitige Übg ist auch das Moment zeitlicher Dauer typisch. Daß die 200 Tage, für die die Beklagte nachträglich einen Anspruch auf Übg bestreitet, nicht zusammenhängend verlaufen, ist unerheblich. Denn weil allein die Länge des Zeitraums, für den die Leistungen streitig sind, die Beschwer ausmacht, von der die Statthaftigkeit des Rechtsmittels abhängt, kann es keinen Unterschied machen, ob die wiederkehrenden Leistungen durch einen oder durch mehrere prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden müssen bzw ob die streitigen Bezugszeiten durch unstreitige Bezugszeiten unterbrochen sind oder nicht (vgl BSG SozR 1500 § 144 Nr 18). Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß ein zusammenhängend verlaufener Leistungszeitraum vorliegt, innerhalb dessen lediglich die streitigen Bezugstage mit unstreitigen Bezugszeiten abwechseln, anders also, als dies in dem in BSGE 22, 181 = SozR Nr 26 zu § 144 SGG (vgl auch BSGE 46, 271 f) entschiedenen Fall gewesen ist, auf den sich das LSG bezogen hat.

Nicht die Höhe (§ 147 SGG), sondern wiederkehrende Leistungen für mehr als 13 Wochen (3 Monate) betrifft die Berufung des Klägers ferner, soweit es um Reisekosten geht; denn insoweit macht der Kläger geltend, daß ihm die wiederkehrend anfallenden Reisekosten, die die Beklagte nach der Dauer der Maßnahme unter Berücksichtigung der streitigen Fehlzeiten berechnet hat (§ 56 Abs 3 Nr 4 AFG, § 34 Rehabilitations-Anordnung), für mindestens 200 Tage mehr zustehen, als ihm die Beklagte zugebilligt hat. Auch insoweit ist eine Zusammenrechnung der Tage, für die Reisekosten geltend gemacht werden, aus den oben angegebenen Gründen geboten.

Unterfällt die Berufung des Klägers hiernach, soweit sie die Aufhebung der Übg-Bewilligung und Reisekosten betrifft, nicht § 144 Abs 1 Nr 2 SGG, durfte das LSG sie nicht als unzulässig verwerfen. Es hätte vielmehr diesbezüglich in eine sachliche Überprüfung des SG-Urteils eintreten müssen. Wie die Revision zutreffend hervorhebt, beruht das Urteil des LSG auf der gerügten Verletzung des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG auch insoweit, als es die Berufung im übrigen, nämlich hinsichtlich des Erstattungsbetrages zwar als zulässig angesehen, aber als unbegründet zurückgewiesen hat. Denn es hat angenommen, die Verpflichtung zur Erstattung folge ohne weiteres aus der bindenden Aufhebung der Leistungsbewilligung.

Hiernach erweist sich die Revision des Klägers als begründet. In Ermangelung ausreichender Feststellungen, die das LSG von seiner Rechtsauffassung her nicht zu treffen brauchte, kann der Senat allerdings in der Sache selbst nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil des LSG ist daher insgesamt gemäß § 170 Abs 2 S 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das nunmehr in der Sache zu prüfen haben wird, inwieweit die Beklagte Leistungsbewilligungen aufheben bzw dem Kläger Reisekosten versagen und die Erstattung von Überzahlungen verlangen durfte.

Bei seiner erneuten Entscheidung, die auch die Kosten des Revisionsverfahrens (einschließlich der des Beschwerdeverfahrens) mitumfassen wird, sollte das LSG beachten, daß die Bewilligung von Leistungen nur dann aufgehoben werden kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür gegeben sind (§§ 45, 47, 48 SGB 10). Auch sollte das Berufungsgericht nicht unberücksichtigt lassen, daß die Reisekosten erstmalig durch den Bescheid vom 8. August 1983 festgesetzt sein dürften und die Verminderung von Fehltagen sich im Prinzip auch auf den Umfang der Reisekosten auswirken müßte.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660042

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