Leitsatz (amtlich)
Zum Ausschluß des Versicherungsschutzes durch Alkoholgenuß bei Barmusikern.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. April 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin war als Musiker in der Tanzbar "Q..." in B... beschäftigt. In der Nacht zum Pfingstsonntag (6. Juni) 1954 war seine Arbeitszeit um 4.30 Uhr beendet. Auf dem Heimweg, den er auf einem Fahrrad mit Hilfsmotor zurücklegte, stieß er gegen 5 Uhr, vom H.-damm kommend, beim Überqueren der Bundesallee, einer Vorfahrtstraße, mit einem Omnibus der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG.) zusammen. Dabei wurde er tödlich verletzt. Eine seiner Leiche um 8.00 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,58 ‰. Der Omnibusfahrer wurde durch Urteil des Schöffengerichts Tiergarten in Berlin vom 1. November 1954 von der Anklage der fahrlässigen Tötung aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte die Entschädigungsansprüche der Klägerin und ihrer im Jahre 1943 geborenen Tochter S... T... durch Bescheid vom 19. Januar 1955 mit der Begründung ab, es fehle am ursächlichen Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Fahrt und der Betriebstätigkeit des Verstorbenen, weil dieser infolge übermäßigen Alkoholgenusses nicht mehr imstande gewesen sei, verkehrssicher zu fahren.
Die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage ist vom Sozialgericht (SG.) Berlin abgewiesen worden. Auch die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin, welches die Strafakten gegen den Omnibusfahrer D... zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hatte, hat in seinem Urteil vom 5. April 1956 ausgeführt: Autofahrer und Motorradfahrer seien bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 ‰ und mehr absolut fahruntüchtig. Für den Lenker eines Fahrrades mit Hilfsmotor gelte dies nicht ohne weiteres, weil ein solches Fahrzeug nur eine Geschwindigkeit von 20 km/Std. entwickele und deshalb weniger hohe Anforderungen an die Reaktionsfähigkeit des Fahrers stelle. In vorliegenden Falle sei für die Beurteilung der Fahrtüchtigkeit das Verhalten des Ehemannes der Klägerin unmittelbar vor dem Zusammenstoß mit dem Omnibus aufschlußgebend. Der Ehemann der Klägerin habe schon von weither einen guten Ausblick auf die Bundesallee gehabt und hätte bei einiger Aufmerksamkeit sehen müssen, daß der Omnibus der BVG. sich mit hoher Geschwindigkeit der Stelle genähert habe, an der er die vorfahrtberechtigte Bundesallee überqueren wollte. Sein Versuch, noch vor dem Omnibus über die Kreuzung hinwegzukommen, sei ein so vernunftwidriges Verhalten gewesen, daß dieses nur durch die auf den Alkoholgenuß zurückzuführende starke Überlegungs- und Reaktionshemmung erklärbar sei. Hinzu komme, daß der Zeuge D... im Strafverfahren gegen D... bekundet habe, der Verunglückte habe sich sehr unsicher auf seinem Rade bewegt. Demnach sei der Ehemann der Klägerin infolge des festgestellten Blutalkoholgehalts von 1,58 ‰ nicht mehr in der Lage gewesen, sein Fahrrad mit Hilfsmotor sicher zu lenken und auf Gefahrenmomente schnell und richtig zu reagieren. Deshalb entfalle der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Betriebsbedingt sei der Alkoholgenuß des Verunglückten nicht gewesen. Als Musiker habe er nicht trinken müssen. Weder der Wirt noch die Gäste einer vornehmen Bar im Stile der "Q... " seien an einem hohen Alkoholkonsum der Musikkapelle interessiert; denn dieser mindere die Leistungen der Musiker.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 5. Mai 1956 zugestellte Urteil am 5. Juni 1956 Revision eingelegt und diese am 28. Juni 1956 begründet. Sie führt aus: Es sei rechtlich bedenklich und eine unbillige Härte, daß schlechthin die Feststellung eines bestimmten Alkoholgehalts ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zum Ausschluß des Versicherungsschutzes führen solle. Als entlastend für den Verunglückten müsse berücksichtigt werden, daß sein Verschulden an dem Verkehrsunfall erheblich geringer gewesen sei als dasjenige des Omnibusfahrers und daß von ihm auch nur eine sehr geringe Verkehrsgefährdung ausgegangen sei. Daß das LSG. den Wegfall des Versicherungsschutzes u.a. mit dem Verschulden des Verunglückten begründet habe, widerspreche dem Grundsatz, daß verbotswidriges Handeln die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht ausschließt (§ 542 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Für den Ehemann der Klägerin habe zwar keine Rechtspflicht bestanden, während des Musizierens Alkohol zu sich zu nehmen, es sei aber üblich, daß Musiker eines Nachtlokals auf Aufforderung zum Trinken bereit seien, besonders in einer zur Feierfreudigkeit führenden Pfingstnacht. Deshalb müsse der Alkoholgenuß bei dem - im übrigen an Alkohol gewöhnten - Ehemann der Klägerin als berufsbedingt angesehen werden. Zugunsten des Verunglückten müsse auch berücksichtigt werden, daß die Nachtarbeit besonders starke Ermüdungserscheinungen nach sich ziehe, also die Betriebsgefahr erhöhe.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr aus Anlaß des tödlichen Unfalles ihres Ehemannes Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist, weil zugelassen, statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG. hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Ehemann der Klägerin habe sich auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstätte in einem Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit befunden. Diese Feststellung hat das LSG. nicht allein, wie die Revision meint, auf den Blutalkoholwert von 1,58 ‰ gegründet, sondern auch auf die vernunftwidrige Verhaltensweise des Ehemannes der Klägerin unmittelbar vor dem Zusammenstoß mit dem Omnibus der BVG. Die Feststellung des LSG., daß der Ehemann der Klägerin nicht mehr verkehrssicher habe fahren können, hat die Revision nur mit der Behauptung angegriffen, er sei als Musiker an den Genuß von Alkohol gewöhnt gewesen. Damit soll offenbar dargetan werden, daß die Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens von einem anderen wertenden Standpunkte aus zu dem Ergebnis hätte führen können, der Ehemann der Klägerin sei noch fahrtüchtig gewesen. Das Vorbringen der Revision richtet sich demnach gegen die Beweiswürdigung des LSG. In der Beweiswürdigung ist das Gericht aber grundsätzlich frei; es muß sich nur innerhalb der Grenzen halten, die der richterlichen Überzeugungsbildung gesetzt sind. Daß diese Grenzen überschritten worden seien, hat die Revision nicht gerügt; sie hat auch keine sonstigen zulässigen Revisionsgründe gegen die angeführte Feststellung vorgebracht (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Infolgedessen steht für das Revisionsgericht bindend fest, daß der Ehemann der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls infolge übermäßigen Alkoholgenusses nicht in der Lage war, sein Fahrrad mit Hilfsmotor verkehrssicher zu lenken. Führt ein Versicherter in einem solchen Zustand ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr, so treten die hiermit erfahrungsgemäß verbundenen Gefahren so sehr in den Vordergrund und der Zusammenhang einer so risikoreichen Verhaltensweise mit der vorangegangenen versicherten Tätigkeit so sehr zurück, daß der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wie der Senat wiederholt entschieden hat, entfällt, sofern der die Fahruntüchtigkeit verursachende Alkoholgenuß auf unternehmensfremden Gründen beruht (vgl. z.B. BSG. 3 S. 116 und Urteil vom 22.10.1958 - 2 RU 234/57 -).
Diese Rechtsauffassung des erkennenden Senats wird jedenfalls für Fälle, in denen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Alkoholbeeinflussung besteht, in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte - soweit ersichtlich - einhellig gebilligt (LSG. Hamburg vom 18.12.1956, BG. 1957 S. 394; LSG. Baden-Württ. vom 12.10.1955, BG. 1956 S. 216 und vom 14.2.1957, Breith. 1957 S. 904; LSG. Nordrhein-Westfalen vom 19.2.1957, Breith. 1957 S. 1003 und vom 20.2.1957 BG. 1957 S. 538; LSG. Rheinland-Pfalz vom 4.11.1954, Breith. 1956 S. 25 und vom 14.3.1957, Breith. 1957 S. 803; Hess. LSG. vom 26.2.1957, BG. 1957 S. 346 und vom 25.4.1957, Breith. 1957 S. 900; Bayer. LSG. vom 31.3.1955, Bayer. Amtsbl. 1955 S. 128 B; LSG. Niedersachsen vom 5.11.1957, Nieders.MinBl. 1958, Rechtspr. Beil. Nr. 13 S. 68; LSG. Schleswig vom 30.12.1957, Breith. 1958 S. 415). Auch im Schrifttum hat die angeführte Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. Mai 1956 (BSG. 3 S. 116) zumindest insoweit durchweg Zustimmung erfahren, als eine für den Eintritt des Unfalls ursächliche Alkoholeinwirkung den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließen soll (Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl. Anm. II, o; Niedermeier, Betriebsberater 1957 S. 82; Sperling, BG. 1956 S. 115 und Betriebsberater 1958 S. 121; Podzun, WzS. 1957 S. 109; Maisch, Sozialgerichtsbarkeit 1957 S. 292; Sauer, Sozialgerichtsbarkeit 1958 S. 233; Thiel, Der Sozialversicherungs-Beamte und -Angestellte 1957 S. 143; Cremerius, DVZ. 1959 S. 109; vgl. auch Drefahl, Sozialgerichtsbarkeit 1957 S. 294; a.A. Klink, WzS. 1957 S. 244 und ZfS. 1957 S. 260). Da nach der vom LSG. getroffenen, das Bundessozialgericht (BSG.) bindenden Feststellung die Fahruntüchtigkeit des Ehemannes der Klägerin auf seinen übermäßigen Alkoholgenuß ursächlich zurückzuführen ist, bot der zu entscheidende Fall keinen Anlaß zur Prüfung, ob der Versicherungsschutz auch dann entfällt, wenn es an jenem ursächlichen Zusammenhang fehlt.
Soweit die Revision ausführt, es stehe im Widerspruch zu § 542 Abs. 2 RVO, wenn das Fahren im Zustand der verschuldeten alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließe, so verkennt sie, daß der Erhalt des Versicherungsschutzes trotz verbotswidrigen Handelns einen ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit voraussetzt; im vorliegenden Falle fehlt es aber, wie dargelegt wurde, an diesem Zusammenhang.
Die Auffassung des LSG., daß der Alkoholgenuß des Verunglückten unternehmensfremd gewesen sei, läßt keinen Rechtsirrtum erkennen. Sie gründet sich auf die tatsächliche Feststellung: Für den Alkoholgenuß des Ehemannes der Klägerin hätten keine besonderen betrieblichen Gründe vorgelegen, weder der Wirt noch die Gäste der "Q..." seien an einem besonders hohen Alkoholverbrauch der Musiker interessiert gewesen. Diese Feststellung ist für den erkennenden Senat bindend; denn die Revision hat sie nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffen (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ihr allgemein gehaltenes Vorbringen, Musiker eines Nachtlokals müßten auf Aufforderung zum Trinken bereit sein, reicht hierzu nicht aus. Eine geeignete Rüge hätte beispielsweise vorgelegen, wenn die Revision - unter Beachtung der weiteren Erfordernisse des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG - vorgebracht hätte, die Musiker einer Nacht-Tanzbar könnten sich im Interesse des Betriebes dem Alkoholgenuß nicht entziehen, und zwar auch dann nicht, wenn ihr Blutalkoholgehalt schon so hoch ist, daß die Verkehrstüchtigkeit für den Heimweg in Frage gestellt ist. Eine solche oder ähnliche Rüge hat die Revision jedoch nicht erhoben. Einer dahingehenden Rüge hätte es allerdings nicht bedurft, wenn ein allgemeiner Erfahrungssatz des angeführten Inhalts bestände; ein solcher wäre von Amts wegen anzuwenden und deshalb auch von dem Revisionsgericht zu berücksichtigen (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 527, 528; Stein-Jonas, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl. § 549 Anm. III, B 2; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 25. Aufl., § 550 Anm. 2 S. 875). Ein so weit gehender Erfahrungssatz besteht jedoch nicht; dies konnte der erkennende Senat, ohne daß es einer Beweiserhebung hierüber bedurft hätte, seiner eigenen Sachkunde entnehmen. Das LSG. hat somit ohne Rechtsirrtum den Alkoholgenuß des Ehemannes der Klägerin als unternehmensfremd und deshalb den ursächlichen Zusammenhang zwischen der zum Unfall führenden Heimfahrt und der vorangegangenen Betriebstätigkeit als ausgeschlossen erachtet.
Die Revision der Klägerin war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen