Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise anhand von Durchschnittswerten vergleichbarer Arztgruppen. Wirtschaftlichkeitsprüfung und statistischer Vergleich (hier: ärztliche Qualifikation)
Leitsatz (amtlich)
Mit der Behauptung, er weise eine höhere ärztliche Qualifikation auf als seine Fachkollegen, kann der wegen unwirtschaftlicher kassenärztlicher Verordnungen auf Schadensersatz in Anspruch genommene Vertragsarzt weder eine Einzelfallprüfung erzwingen noch - im Falle des offensichtlichen Mißverhältnisses zwischen seinen und den durchschnittlichen Aufwendungen seiner Fachkollegen - den (Anscheins-) Beweis der Unwirtschaftlichkeit entkräften.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise eines Arztes ist grundsätzlich an den durchschnittlichen Fallwerten seiner Fachkollegen zu messen (statistische Methode).
2. Besondere Behandlungs- und Untersuchungsmethoden machen nur dann eine entsprechende Auswahl der Vergleichsgruppe erforderlich, wenn die besondere Methode nach ärztlichem Berufsrecht zum Führen einer Zusatzbezeichnung berechtigt.
Orientierungssatz
Ist bei der Heranziehung des statistischen Vergleichs (als einem Mittel der Wirtschaftlichkeitsprüfung) von einer Vergleichbarkeit der Praxen dann auszugehen, wenn die (verglichenen) Ärzte derselben Fachgruppe angehören und dieselbe berufliche Zusatzbezeichnung führen, so bedeutet dies auf der anderen Seite, daß eine weitere Spezialisierung und Qualifikation grundsätzlich nicht in den Vergleich einzugehen braucht. Die gegenteilige Ansicht, daß nämlich auch weitergehende innerfachliche Besonderheiten in der persönlichen Qualifikation des Arztes eine insoweit identische Vergleichsgruppe erforderte, ist nicht haltbar.
Normenkette
RVO § 368e; EKV-Ä § 1 Nr. 5, § 2 Nr. 2, § 17 Nr. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Auf Antrag der Beigeladenen haben die Prüfungsgremien der Beklagten dem Kläger, der als Facharzt für Urologie am Arzt-Ersatzkassenvertrag (EKV) beteiligt ist, für das Quartal II/1972 eine Schadensersatzverpflichtung (zugunsten der Vertragskassen) in Höhe von 2.052,42 DM mit der Begründung auferlegt, der Vertragsarzt habe bei der Verordnung von Medikamenten das Wirtschaftlichkeitsgebot verletzt. Die Aufwendungen des Klägers lagen pro Behandlungsfall um 117 % über den entsprechenden Durchschnittsaufwendungen seiner Fachkollegen. Von dem dadurch verursachten Mehrbetrag (rd 10.264,- DM) wurden 20 % als Schadensersatzsumme festgelegt. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Der Kläger hat geltend gemacht, aufgrund von Spezialkenntnissen sei er besser (als andere Urologen) in der Lage, eine Pyelonephritis (- bakterielle Entzündung des Nierenbeckens und der Nierenzellen -) zu erkennen, was einen entsprechend höheren Medikamentenaufwand mit sich bringe. Demgegenüber hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, es müsse davon ausgegangen werden, daß die zum Vergleich herangezogenen Urologen bei ihrer Verordnung nach den Regeln der ärztlichen Kunst das Maß des Ausreichenden und Notwendigen nicht unterschritten.
Zur Begründung der Revision hat der Kläger vorgebracht: Das Berufungsgericht hätte die bei ihm vorliegende Praxisbesonderheit, daß er nämlich in einer wesentlich größeren Anzahl von Fällen als bei anderen Urologen die Pyelonephritis richtig behandele, berücksichtigen müssen. Das LSG hätte im Rahmen der Amtsermittlung den Sachverhalt hierzu erforschen und gegebenenfalls die notwendigen Beweise erheben müssen. Eine solche Aufklärungspflicht bestehe auch dann, wenn wegen Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts von mehr als 100 % der Anschein der Unwirtschaftlichkeit gegeben sei.
Der Kläger beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Februar 1980 - L 7 Ka 2/79 - und des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 1979 - S 71 Ka 18/77 - sowie den Bescheid der Prüfungskommission der Beklagten vom 18. Mai 1973 in der Gestalt des Bescheides der Beschwerdekommission der Beklagten vom 8. September 1977 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Berufungsurteil für zutreffend. Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die angegriffene Entscheidung des Landessozialgerichts läßt keinen Rechtsfehler erkennen.
Der Vertragsarzt ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den er den Kassen schuldhaft durch eine unwirtschaftliche Verordnung zugefügt hat (vgl § 1 Ziff 5; § 2 Ziff 2; § 17 Ziff 4 Arzt/Ersatzkassenvertrag vom 20. Juli 1963). Die von den Prüforganen der Beklagten angewandte statistische Methode zum Nachweis der Unwirtschaftlichkeit (durch Gegenüberstellung der Fallkosten des geprüften Arztes mit den Fallkosten seiner Fachkollegen) ist vom Bundessozialgericht (BSG) in zahlreichen Entscheidungen gebilligt worden (vgl ua BSGE 11, 102; 17, 79; 19, 123; 46, 136). Das Bundesverfassungsgericht hat sie verfassungsrechtlich nicht beanstandet (Beschluß vom 29. Mai 1978 - 1 BvR 951/77 - SozR 2200, § 368e Nr 3).
Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß beim Kläger mit der hier streitigen Überschreitung der entsprechenden Durchschnittsaufwendungen seiner Fachkollegen um 117 % ein derart offensichtliches Mißverhältnis gegeben ist, daß ohne weiteres auf eine unwirtschaftliche Verordnungsweise geschlossen werden kann (BSG 17, 79; 46, 136, 139f; 145, 149). Mit diesem Schluß auf die Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise ist zwar nur der Beweis des ersten Anscheins erbracht (vgl BSGE 17, 79, 87; Baader, Honorarkürzung und Schadensersatz im Kassenarztrecht, 1983, S 18). Die hiergegen erhobenen Einwendungen des Klägers sind rechtlich aber nicht geeignet, diesen Beweis zu entkräften.
Der Kläger hat vorgebracht, er habe (im Quartal II/1972) in mehr Fällen eine Pyelonephritis diagnostizieren können und dadurch höhere Verordnungskosten als seine Fachkollegen verursacht. Damit will er offenbar nicht sagen, seine Patienten wiesen einen höheren Anteil an Pyelonephritis-Erkrankten auf als die Patienten seiner Fachkollegen. Vielmehr trägt er weiter vor, daß seine Diagnose in jedem Fall richtig gewesen sei und die übrigen Berliner Urologen im Quartal II/1972 auch nicht annähernd so häufig diese Krankheit festgestellt hätten, wobei dahingestellt bleiben könne, ob die starken Abweichungen auf Fehlleistungen der Mehrzahl der Berliner Urologen oder auf seinen - des Klägers - besonders hervorragenden Leistungen beruhten. Damit wendet sich der Kläger aber gegen die Auslegung des (ungeschriebenen) Begriffs der Vergleichbarkeit der Praxen, wie sie vom LSG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG vorgenommen wurde. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß zur Gleichartigkeit der Praxen in erster Linie derselbe Fachbereich gehört, daß die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise des Arztes daher grundsätzlich an den durchschnittlichen Fallkosten seiner Fachkollegen zu messen ist. Die Frage, ob darüberhinaus auch besondere Behandlungs- bzw Untersuchungsmethoden eine entsprechende Auswahl der Vergleichsgruppen erforderlich macht, wurde vom Senat dahin entschieden, daß dies dann der Fall ist, wenn die Methode nach ärztlichem Berufsrecht zum Führen einer Zusatzbezeichnung berechtigt (BSGE 50, 84). Ist bei der Heranziehung des statistischen Vergleichs (als einem Mittel der Wirtschaftlichkeitsprüfung) von einer Vergleichbarkeit der Praxen daher dann auszugehen, wenn die (verglichenen) Ärzte derselben Fachgruppe angehören und dieselbe berufliche Zusatzbezeichnung führen, so bedeutet dies aber auf der anderen Seite, daß eine weitere Spezialisierung und Qualifikation grundsätzlich nicht in den Vergleich einzugehen braucht. Die gegenteilige Ansicht, daß nämlich auch weitergehende innerfachliche Besonderheiten in der persönlichen Qualifikation des Arztes eine insoweit identische Vergleichsgruppe erforderte, ist nicht haltbar. Solche Besonderheiten, die nach der Rechtsprechung des Senats der Vergleichbarkeit nicht entgegenstehen, sind regelmäßig gar nicht faßbar, so daß es schon praktisch kaum durchführbar erscheint, eine ausreichende Zahl von Ärzten mit denselben individuellen Qualifikationsmerkmalen zum Vergleich heranzuziehen. Da die Leistungsbedingungen des überprüften Arztes nur mit sich selbst voll identisch sind und andere Praxen immer in gewissem Grade davon abweichen werden, würde dies letztlich darauf hinauslaufen, bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung auf den statistischen Vergleich ganz zu verzichten. In dieser Konsequenz liegt auch das Vorbringen des Klägers. Während der schlüssige Einwand der Praxisbesonderheit darauf abzielt, daß andere Ärzte als die bisherigen zur Vergleichsgruppe herangezogen werden (vgl Baader, aaO, S 16), will der Kläger mit seinem Vorbringen, er diagnostiziere die Pyelonephritis besser als seine Fachkollegen, den einmaligen Charakter seiner Leistungen und damit doch auch ihre Unvergleichbarkeit in dem beschriebenen Sinne hervorheben. Auch sein Hinweis, es genüge festzustellen, daß seine Diagnosen richtig gewesen seien und daß die übrigen Berliner Urologen in viel weniger Fällen eine Pyelonephritis festgestellt hätten, geht in diese Richtung.
Aber auch unabhängig von dieser praktischen Konsequenz vermag der Kläger mit seinem Einwand nicht durchzudringen. Eine Einzelfallprüfung - auf die das Begehren des Klägers letztlich gerichtet ist - braucht dann nicht vorgenommen zu werden, wenn der Arzt die durchschnittlichen Fallkosten der Vergleichsgruppe derart überschreitet, daß, wie hier, von einem offensichtlichen Mißverhältnis gesprochen werden kann. Eine solche Einzelfallprüfung ist nach der Rechtsprechung des Senats in beschränktem Umfang zwar selbst dann noch vorzunehmen, wenn die Überschreitungen des Arztes in der Zone zwischen dem Bereich normaler Streuung und dem Bereich einer offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegen; denn hier ist der Schluß auf die Unwirtschaftlichkeit nur dann gerechtfertigt, wenn anhand einer ausreichenden Zahl von Einzelbeispielen der Nachweis der Unwirtschaftlichkeit erhärtet wird (BSGE 19, 123, 128). Daß aber im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses auf solche konkreten Einzelnachweise verzichtet werden kann, findet seine Rechtfertigung in der auffällig überproportionalen Überschreitung der durchschnittlichen Kosten. Sicher wird es unter den verglichenen Ärzten auch gewisse Abweichungen hinsichtlich der praktischen und wissenschaftlichen Arzt-Qualifikation geben. Daß bei einer statistisch hinreichenden Anzahl von vergleichbaren - also über die gleiche Berufsausbildung verfügenden - Ärzten aber durchschnittlich eine im Verhältnis zum geprüften Arzt derartige Minderqualifikation besteht, wie sie der Kläger (direkt oder indirekt) behauptet, widerspricht jeder Erfahrung.
Da das LSG den Einwand des Klägers demnach mit Recht als unschlüssig angesehen hat, konnte die Revision keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen