Leitsatz (amtlich)

Zur Selbstbindung des Verwaltungsermessens in bezug auf die Gewährung zusätzlicher Leistungen nach RVO § 1307, wenn der durch Verwaltungsanordnungen abgesteckte Rahmen in der ständigen gesetzmäßigen Verwaltungsübung nicht voll ausgeschöpft wird.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für Rentner, die wegen altersbedürftiger Hinfälligkeit der Obhut in einem Heim bedürfen, können die Rentenversicherungsträger im Rahmen ihrer Grundsätze Zuschüsse zu den Kosten in einem Altersheim oder einer ähnlichen Einrichtung gewähren.

2. § 1307 Abs 1 RVO wendet sich nicht an den Rentenberechtigten, sondern nur an den Träger der Rentenversicherung.

3. Zur Bindung des Versicherungsträgers an von ihm erlassene "Grundsätze".

 

Normenkette

RVO § 1307 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1968 wird aufgehoben. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. März 1966 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Träger der Arbeiterrentenversicherung (ArV) zu den Kosten beizutragen hat, die für den Aufenthalt einer an Schizophrenie leidenden Rentenempfängerin in einer geschlossenen Anstalt aufzubringen sind. Bislang wurden diese Kosten, soweit sie nicht durch die Rente gedeckt waren, aus Mitteln der Sozialhilfe bestritten.

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) hat es abgelehnt, zu den Unterbringungskosten einen Zuschuß zu gewähren, weil sie sich dazu nicht für befugt hält. Sie meint, zusätzliche Leistungen aus der Rentenversicherung nach § 1307 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) kämen - im Rahmen ihrer Verwaltungsgrundsätze - für Rentner in Betracht, die wegen altersbedingter Hinfälligkeit der Obhut in einem Heim bedürften. Dagegen obliege es der Rentenversicherung nicht, die Verwahrung Geisteskranker mitzufinanzieren.

Die Klage ist von dem Sozialgericht (SG) abgewiesen worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen. Es hat angenommen, die Beklagte habe die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens zu eng gezogen; sie habe den Begriff der "ähnlichen Anstalt" im Sinne des § 1307 Abs. 1 RVO unrichtig ausgelegt. Nach dieser Vorschrift sei der Träger der Rentenversicherung ermächtigt, Mittel der Versicherung für alle Fälle aufzuwenden, in denen die betreffenden Personen sich nicht selbst versorgen könnten und dauernd der Pflege bedürften. Mit einem solchen Sachverhalt habe man es bei der Klägerin zu tun; diese habe den Kontakt zur Außenwelt verloren und könne außerhalb einer geschlossenen Anstalt kein geordnetes Leben führen.

Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Ihres Erachtens ist das Merkmal der "ähnlichen Anstalt" (§ 1307 Abs. 1 RVO) eingeengt zu verstehen. Nur solche Einrichtungen zählten zu den "ähnlichen Anstalten", die speziell der altersbedingten Fürsorge dienten.

Die Klägerin ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.

Die Beigeladene beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die einengende Interpretation, die die Beklagte dem Begriff der "ähnlichen Anstalt" gibt, für willkürlich. Alte Menschen, die bei ihrem unheilbaren psychischen Leiden in einem Altersheim nicht oder nicht mehr die erforderliche Pflege finden können, müßten in Landeskrankenhäusern versorgt werden. Warum solche Krankenhäuser den Altersheimen nicht "ähnlich" sein sollten, sei nicht verständlich.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist begründet.

Das Berufungsgericht hat den mit der Klage angegriffenen Verwaltungsakt beanstandet, weil die Beklagte die Grenzen ihrer Entschließungsfreiheit für enger gehalten habe, als sie durch Gesetz gezogen seien. So habe die Beklagte rechtsirrig angenommen, sie dürfe die Unterbringung eines Rentenberechtigten in eine Anstalt nur dann fördern, wenn es sich dabei um die Hilfe für alte Menschen handele, nicht aber, wenn die Einweisung des Betreffenden - wie im Falle der Klägerin - durch Krankheit oder Gebrechen nötig geworden sei.

In dieser Weise wäre eine Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsermessens zu begründen, wenn § 1307 Abs. 1 RVO eine vom Gericht unmittelbar anzuwendende Norm wäre. Das Berufungsgericht hat sich nicht erkennbar die Frage gestellt, ob § 1307 Abs. 1 RVO überhaupt und unvermittelt ein Einzelfallermessen eröffnet, auf dessen fehlerfreie Ausübung der Staatsbürger ein subjektives öffentliches Recht hätte. Das LSG hat den Verwaltungsakt unmittelbar am Gesetz geprüft und darauf das Hauptgewicht seiner Entscheidung gelegt; es hat angenommen, die Rechtsgrundlage für einen Zuschuß zu einer Anstaltsunterbringung liege in § 1307 RVO und nicht in den "Grundsätzen", in denen der Vorstand der Beklagten der Gesetzesvorschrift greifbare Gestalt gegeben hat (Grundsätze über die Gewährung von Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und von zusätzlichen Leistungen aus der Versicherung, aufgestellt vom Verband der LVA Rheinprovinz).

Damit verkennt das Berufungsgericht den Rechtsgehalt des § 1307 Abs. 1 RVO. Diese Vorschrift wendet sich nicht an den Rentenberechtigten. In ihr heißt es nicht, der Rentner "erhält" etwas oder - wie bei Zuteilungen, die in das Ermessen der Verwaltung gestellt sind - ihm "kann" etwas "gewährt werden". Vielmehr wendet sich § 1307 Abs. 1 RVO ausdrücklich nur an den Träger der Rentenversicherung. Aus dem Wortlaut ("kann Mittel der Versicherung aufwenden") erhellt, daß diese Norm in Verbindung mit § 25 Abs. 1 RVO zu lesen ist. Dort ist angeordnet, daß der Versicherungsträger nur gesetzlich vorgeschriebene oder zugelassene Zwecke finanzieren darf. In Beachtung dieser Regel wird es den Versicherungsträgern durch § 1307 Abs. 1 RVO gestattet, Gelder für Aufgaben bereitzustellen und auszugeben, die nicht zu den Regelleistungen der Versicherung gehören. Die Verwirklichung solcher Vorhaben ist dem Entschließen des Versicherungsträgers anheimgegeben; ein bindender Gesetzesauftrag ist ihm dazu nicht erteilt. Erst wenn der Einsatz von Versicherungsgeldern im Haushaltsplan ausgewiesen und in Verwaltungsanordnungen aktualisiert worden ist, bahnt sich die Möglichkeit für eine dem einzelnen zugute kommende Ermessensbetätigung an (hierzu Hans Klein, Rechtsqualität und Rechtwirkung von Verwaltungsnormen, Festgabe für Ernst Forsthoff, 1967, 163, 172, 174).

Infolgedessen könnten allenfalls die erwähnten "Grundsätze" der Versicherungsanstalt Maßstäbe liefern, an denen die ablehnende Stellungnahme der Beklagten zu messen wäre. Diese "Grundsätze" sind jedoch lediglich interne Verhaltensregeln, welche die Verwaltung sich selbst gegeben hat. Sie sehen für Rentenempfänger "Zuschüsse zu den Kosten der Unterbringung in einem Altersheim oder einer ähnlichen Anstalt" (§ 74 der "Grundsätze") vor. Die "Grundsätze" sollen aber nicht allgemein-verbindlich Rechte und Pflichten begründen. Daß dem so ist, folgt einmal aus der Art ihrer Publikation; sie sind nicht wie Rechtssätze in einem Gesetz und Verordnungsblatt verkündet, sondern lediglich in die "Amtlichen Mitteilungen der LVA Rheinprovinz" aufgenommen worden. Sie sind auch nicht von der Vertreterversammlung - dem Legislativorgan der Versicherungsanstalt -, sondern vom Vorstand erlassen worden. In die gleiche Richtung deutet die Bezeichnung "Grundsätze" hin. Vor allem aber sind der Wille und das Ziel zu beachten, welche die Versicherungsanstalt damit verfolgt. Sowenig wie § 1307 Abs. 1 RVO unmittelbar Rechtsansprüche verleiht, hat die Versicherungsanstalt mit ihren davon abgeleiteten Bestimmungen beabsichtigt, solche Rechte zu erzeugen. Ihre "Grundsätze" gehen zwar über eine bloße Anweisung für den inneren Verwaltungsbetrieb hinaus und sehen, weil die Gesetzeswohltat nur unbestimmt möglich ist, genauer umrissene, nach Inhalt und Voraussetzungen festgelegte Leistungen vor. Sie dienen auch den Belangen der Rentenberechtigten. Alte hinfällige Rentner, die in ihrer Familie und Häuslichkeit nur mangelhaft betreut werden, sollen in die Obhut eines Heimes genommen werden können. Dadurch wird ihrer Lage besser als durch Rentenzahlung entsprochen (Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes - IVG -, Begründung zu § 13 a, Reichstagsdrucksache Nr. 93 - 1898/9 - S. 298; sowie Begründung zum Entwurf einer RVO § 1260, Reichstagsdrucksache 340/1910 S. 403). Damit nimmt die Rentenversicherung über ihre Verpflichtungen aus der Versicherung hinausgehende Aufgaben sozial-fürsorgerischer Art wahr.

Dazu sind die Versicherungsträger jedoch nur insoweit ermächtigt, als "ihnen dies nach ihren Verhältnissen angezeigt erscheint" und solange ihnen ihre Finanzkraft dies gestattet (Begründung zu dem Entwurf eines JVG aaO). Mögen Verwaltungsversprechungen der hier in Rede stehenden Art allgemein von der Tendenz begleitet sein, sich zu Leistungsansprüchen zu verdichten, so müssen doch die zusätzlichen Maßnahmen der Rentenversicherungsträger in Grenzen gehalten werden. Dies ist nur zu erreichen, wenn die Verwaltung an ihre eigenen Vorschriften nicht wie an Rechtssätze gebunden ist (hierzu Ossenbühl, Die Verwaltungsvorschriften in der verwaltungsgerichtlichen Praxis, Archiv des öffentlichen Rechts, 92. Band, 1967, 1, 19, 20).

Die - nach außen wirkende - Bindung, welche die Verwaltung mit solchen "Grundsätzen" trifft, ist weniger intensiv als die Bindung an die gesetzliche Gewährleistung von Rechtsansprüchen. Die ständige Anwendung von Verwaltungsvorschriften kann allerdings die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) gebieten und eine Selbstbindung der Verwaltung hervorrufen. Daraus kann die Verpflichtung erwachsen, daß von der durch die Verwaltungsvorschriften gesteuerten Übung nicht ohne triftigen Grund abgewichen werden darf. Für die Selbstbindung sind aber nicht die Verwaltungsvorschriften als solche und ohne weiteres, sondern die an ihnen ausgerichtete ständige Gleichbehandlung gleichliegender Fälle maßgebend (Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Band II 1967 Nrn 265, 266). Zwar werden in jüngerer Zeit als Anknüpfungspunkt für die Frage, ob der Gleichheitsgrundsatz verletzt sei, nicht mehr die Verwaltungspraxis, sondern die Verwaltungsvorschriften selbst genannt (vgl. Ossenbühl, AcP 92, Band, 15). Inwieweit sich darin ein Wandel der Rechtsauffassung oder nur eine abkürzende Ausdrucksweise spiegelt, kann dahinstehen. Von einer Bindung des Verwaltungsermessens allein durch Verwaltungsvorschriften mag vielleicht gesprochen werden können, wenn mit solchen Vorschriften eine Zentralinstanz die ihr unterstellten Dienststellen zur einheitlichen Praxis anhält. Dann mag es auch angebracht sein, die Anweisungen der übergeordneten Stelle nach objektiven Gesichtspunkten auszulegen. Diese Überlegungen sind jedoch nicht ebenso gerechtfertigt, wenn eine Versicherungsanstalt Grundsätze fixiert, nach denen sie selbst von ihrem Ermessen Gebrauch machen wird. Sofern eine solche Anstalt ihre "Grundsätze" stets in einem bestimmten Sinne auslegt und anwendet, wird sie durch den Gleichheitsgrundsatz nur in den dadurch vorgezeichneten Bahnen und nicht darüber hinaus gebunden (vgl. Bachof aaO. Nr. 218).

Das Berufungsgericht durfte also die Antwort auf die Frage, ob der Beklagten bei ihrer ablehnenden Stellungnahme ein Ermessensfehler unterlaufen war, nicht von derjenigen Interpretation abhängig machen, die es in bezug auf § 1307 RVO für richtig hielt und mit der seines Erachtens die "Grundsätze" der Beklagten übereinzustimmen hatten. Zu untersuchen war vielmehr, ob sich die Beklagte im Falle der Klägerin an ihre Verwaltungsübung gehalten hatte. Das war geschehen. Daß die Beklagte vielleicht die ihr durch § 1307 Abs. 1 RVO erteilte Ermächtigung nicht voll ausschöpfte, vielleicht sogar mit ihren Leistungen hinter ihren eigenen - möglicherweise weitherziger zu interpretierenden - "Grundsätzen" zurückblieb, ist hier nicht entscheidungserheblich.

Hiernach ist der Revision der Beklagten stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2284862

BSGE, 246

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