Leitsatz (amtlich)
1. Die Gleichstellung von Beitragszeiten nach FRG § 15 Abs 1 S 1 gilt auch - wie früher SVFAG § 4 Abs 1 S 1 vom 1953-08-07 - für das Recht auf freiwillige Versicherung.
2. Ein Vertriebener kann, auch wenn er erst nach Vollendung des 40. Lebensjahres (vgl RVO § 1243 aF) die Selbstversicherung bei einer mitteldeutschen Sozialversicherungsanstalt begonnen hat, die Versicherung in der Bundesrepublik fortsetzen.
Normenkette
FRG § 15 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25; SVFAG § 4 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-08-07; ArVNG Art. 2 § 4 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1243 Fassung: 1937-12-21; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. August 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die im Jahre 1902 geborene Klägerin flüchtete gegen Ende des zweiten Weltkrieges von Ostpreußen nach Mitteldeutschland. Sie war zu keiner Zeit versicherungspflichtig beschäftigt, aber von September 1950 bis Februar 1953 bei der Sozialversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt und anschließend bis Dezember 1958 bei der Deutschen Versicherungsanstalt (DVA) insgesamt 100 Monate freiwillig für den Fall der Invalidität, des Alters und des Todes versichert. Vom 1. Januar 1959 an bezog sie Rente von der Sozialversicherungskasse Stendal. Am 3. April 1961 kam sie in die Bundesrepublik Deutschland; sie ist Inhaberin des Ausweises A für Vertriebene und Flüchtlinge. Die beklagte Landesversicherungsanstalt bewilligte ihr durch Bescheid vom 20. Februar 1964 mit Wirkung vom 1. Januar 1963 an eine nach § 1253 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF berechnete Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von monatlich 16,60 DM.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) in Verbindung mit Art. 6 § 13 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) durchzuführen. Neun Monatsbeiträge für das Jahre 1962 hat sie im Laufe des Verfahrens nachentrichtet, nachdem sie sich hierzu von September 1961 an mehrmals schriftlich bereit erklärt hatte.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klage durch Urteil vom 1. Juni 1966 mit der Begründung abgewiesen, die Entrichtung der neun Monatsbeiträge für 1962 sei unwirksam, weil die Klägerin bei Beginn ihrer Selbstversicherung in Stendal älter als 40 Jahre gewesen sei und deshalb nach der Rentenreform von 1957 in der Bundesrepublik jene Selbstversicherung nicht nach § 1233 RVO, Art. 2 § 4 ArVNG habe fortsetzen können. Auf die Berufung der Klägerin hin hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) am 1. August 1967 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Vergleichsberechnung gemäß Art. 2 § 42 ArVNG durchzuführen und der Klägerin die günstigere Rente zu gewähren. Es hat die neun Monatsbeiträge für 1962 als wirksam entrichtet angesehen, weil die von der Klägerin in Mitteldeutschland zurückgelegten Beitragszeiten wie im Bundesgebiet zurückgelegte Versicherungszeiten zu behandeln seien, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie nach Bundesrecht anrechenbar gewesen wären; deshalb sei die Fortsetzung der in Stendal begonnenen Versicherung noch nach 1957 in der Bundesrepublik zulässig gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt und - sinngemäß - beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückzuweisen. Zur Begründung bezieht sie sich im wesentlichen auf die Rechtsausführungen des SG.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Dem LSG ist darin beizupflichten, daß die Klägerin auf Grund des Art. 6 § 13 FANG einen Anspruch auf die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG hat. In § 13 aaO wird Art. 2 § 42 ArVNG - mit noch zu erörternden Besonderheiten - für anwendbar erklärt auf "Personen, die nach dem Fremdrentengesetz gleichstehende Zeiten zurückgelegt haben". Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin. Sie fällt unter das Fremdrentengesetz (FRG), weil sie Vertriebene im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes und als solche im Geltungsbereich des Fremdrentengesetzes (GdG) anerkannt ist (§ 1 Buchst. a FRG). Nach § 15 FRG stehen die von ihr in den Jahren 1950 bis 1958, also nach dem 30. Juni 1945, in Mitteldeutschland zurückgelegten Beitragszeiten den bundesrechtlichen Beitragszeiten gleich, wenn es sich bei den genannten mitteldeutschen Versicherungsanstalten um "deutsche Träger der gesetzlichen Rentenversicherung" handelt oder gehandelt hat. Diese rechtliche Charakterisierung trifft, wie das LSG richtig erkannt und die Beklagte auch nicht in Zweifel gezogen hat, sowohl auf die Sozialversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt als auch auf die DVA zu (§ 15 Abs. 1 bis 3 FRG in Verbindung mit § 1 der Verordnung über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen vom 11. November 1960 idF der Änderungsverordnung vom 8. April 1963 - BGBl I 194; vgl. BSG 15, 197). Dem entspricht es, daß die Beklagte die 100 Beitragsmonate der Klägerin aus den Jahren 1950 bis 1958 bei der nach §§ 1253 ff RVO vorgenommenen Rentenberechnung unter Gleichstellung mit bundesrechtlichen Beitragszeiten angerechnet hat.
Für die Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG auf die Klägerin als eine Person, die nach dem FRG gleichstehende Zeiten zurückgelegt hat, gelten nach Art. 6 § 13 Abs. 1 Buchst. a und b FRG folgende Besonderheiten: Abgesehen davon, daß die Anwartschaft zum 1. Januar 1957 erhalten sein muß, wird vorausgesetzt, daß der Versicherungsfall in der Zeit vom 1. Januar 1959 bis zum 31. Dezember 1963 eingetreten ist und jeweils neun Monatsbeiträge für die Jahre nach 1959 bzw. nach dem Jahr der ständigen Aufenthaltnahme im GdG bis zum Ende des Kalenderjahres vor dem Versicherungsfall entrichtet worden sind. Daß die Klägerin die Anwartschaft zum 1. Januar 1957 aus den bis dahin entrichteten Beiträgen erhalten hatte, steht nach den vom LSG getroffenen Feststellungen außer Zweifel. Weiter steht fest, daß der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit in der angeführten Zeitspanne - im Jahre 1963 - eingetreten ist und die Klägerin für das einzige hierfür in Betracht kommende Kalenderjahr 1962 neun Monatsbeiträge entrichtet hat. Gegen diese Feststellungen hat die Beklagte keine Revisionsrügen erhoben. Sie wendet sich lediglich - jedoch zu Unrecht - gegen die Rechtsauffassung des LSG, die für das Jahr 1962 entrichteten freiwilligen Beiträge der Klägerin seien wirksam entrichtet und somit geeignet, die Voraussetzung für die Vergleichsberechnung nach dem vor 1957 geltenden Recht zu schaffen.
Die Klägerin konnte die in Mitteldeutschland begonnene Selbstversicherung freilich nicht auf Grund des § 1233 Abs.1 RVO freiwillig fortsetzen, weil sie zu keiner Zeit Beiträge "für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" entrichtet hatte. Wohl aber stand ihr dieses Recht nach der Übergangsvorschrift des Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG zu. Die Voraussetzung der ersten Alternative, daß "durch Entrichtung eines Beitrages vor dem 1. Januar 1956 die Selbstversicherung (§ 1243 RVO aF) begonnen" worden sein muß, hat die Klägerin durch ihre Beitragsleistung zur Sozialversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt und zur DVA erfüllt. Der Klammerhinweis auf § 1243 RVO aF wirft allerdings die Frage auf, ob die Selbstversicherung i.S. des Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG nur - wie es in jener Vorschrift heißt - bis zum vollendeten 40. Lebensjahr begonnen werden konnte. Diese Frage ist für die Zeit bis zum Inkrafttreten des FANG - 1. Januar 1959 -, wie sich aus § 4 Abs. 1 des damals geltenden, nach dem Entschädigungsprinzip ausgerichteten Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FremdRG) ohne weiteres ergibt, zu verneinen. Nach dieser Vorschrift wurden nämlich die bei einem mitteldeutschen Versicherungsträger zurückgelegten "Versicherungszeiten (Beitrags- und Ersatzzeiten) für Wartezeit und Anwartschaft, für die Rentenberechnung und das Recht auf freiwillige Versicherung wie die in den Rentenversicherungen im Bundesgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten angerechnet"; für Beitragszeiten galt dies sogar "ohne Rücksicht darauf, ob sie nach Bundesrecht anrechenbar wären". Darüber hinaus sollte, weil dies in vielen Fällen nicht möglich gewesen wäre, von einer Nachprüfung der Anrechenbarkeit der Beitragszeiten nach dem Recht des Herkunftslandes abgesehen und jede Beitragszeit so behandelt werden, als wäre sie nach Bundesrecht anrechenbar (vgl. Begründung zu § 4 FremdRG, BT-Drucks. I 4201 S. 17).
Die Beklagte meint zu Unrecht, mit dem Inkrafttreten des FANG habe sich die Rechtslage hinsichtlich der Anrechenbarkeit von mitteldeutschen Beitragszeiten für das Recht auf freiwillige Versicherung geändert, weil das neue Fremdrentenrecht auf dem Eingliederungsprinzip beruhe, es aber mit diesem unvereinbar sei, daß Fremdrentner im Unterschied zu Altbürgern der Bundesrepublik Deutschland noch nach Vollendung des 40. Lebensjahres in die Selbstversicherung hätten eintreten können. Der an die Stelle des § 4 Abs. 1 FremdRG getretene § 15 Abs. 1 FRG idF des FANG stellt in seinem ersten Satz ganz allgemein Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen oder nach dem 30. Juni 1945 bei einem außerhalb des GdG befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt worden sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, ohne im einzelnen anzuführen, in welcher Hinsicht die Gleichstellung gelten soll; deshalb erwähnt er auch nicht ausdrücklich das Recht auf freiwillige Versicherung. Das bedeutet aber nicht, daß nunmehr freiwillige Beitragszeiten, die bei einem deutschen Versicherungsträger außerhalb des GdG zurückgelegt worden sind, nur dann bundesrechtlichen Beitragszeiten gleichgestellt werden könnten, wenn auch die altersmäßigen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen in der Bundesrepublik Deutschland vor 1957 der Eintritt in die Selbstversicherung möglich war. Für die dahingehende Auffassung der Beklagten könnte allenfalls sprechen, daß man bei der Neuregelung des Fremdrentenrechts im Jahre 1960 grundsätzlich vom Entschädigungsprinzip auf das Eingliederungsprinzip übergegangen ist. Das hat beispielsweise dazu geführt, daß nur noch Beitragszeiten - nicht dagegen Ersatzzeiten - des Herkunftslandes den entsprechenden bundesrechtlichen Zeiten gleichgestellt sind; für die Anrechnung von Ersatzzeiten müssen die nach dem FRG berechtigten Personen nunmehr alle Voraussetzungen der RVO erfüllen. Das Eingliederungsprinzip gilt aber nach dem neuen Fremdrentenrecht nicht ausnahmslos. Soweit § 15 FRG fremde Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten ohne Einschränkung gleichstellt, enthält die Regelung noch einen Bestandteil des Entschädigungsgedankens. Der Gesetzgeber des Jahres 1960 scheute davor zurück, die durch das FremdRG von 1953 geschaffene Rechtslage für den Personenkreis des § 1 FRG wesentlich zu verschlechtern. So wird beispielsweise, soweit ersichtlich, von niemandem - auch nicht von der Beklagten - in Zweifel gezogen, daß fremde Beitragszeiten aus einer Pflichtversicherung nach § 15 FRG auch dann bundesrechtlichen Beitragszeiten gleichgestellt sind, wenn die zugrunde liegende Beschäftigung zwar im Herkunftsland, nicht aber in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig war oder ist. Wollte man die Gleichstellung nicht gelten lassen, wenn es sich um Beitragszeiten aufgrund einer freiwilligen, aber nur im Herkunftsland zulässigen Versicherung handelt, so wäre dies nicht folgerichtig und mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Der Hinweis der Beklagten auf den Klammerzusatz "(§ 1243 RVOaF)" in Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG vermag ihre Auffassung nicht entscheidend zu stützen. Hat dieser Zusatz vom Inkrafttreten des ArVNG bis zum Jahre 1959 die damalige Rechtsstellung der Fremdrentner, wie dargelegt wurde, nicht berührt, so kann ihm die von der Beklagten beigelegte Bedeutung auch nicht mit der Neuregelung des Fremdrentenrechts im Jahre 1960 zugewachsen sein. Demgemäß wird im Schrifttum die Gleichstellung nach § 15 FRG einhellig in dem Sinne verstanden, daß die gleichgestellten Beitragszeiten - wie schon früher nach § 4 Abs. 1 FremdRG - in allen Beziehungen wie Beitragszeiten zu behandeln sind, und zwar sowohl für die Wartezeit und die Rentenberechnung als auch für das Recht auf freiwillige Versicherung (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2.Aufl., § 15 FRG Anm. 2 und 7; Haensel/Lippert, Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz, Handkommentar, § 15 FRG Anm. 3; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrentengesetz, § 15 Abs. 1 FRG Anm. 2 S. 164 und 7 S. 165; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, Viertes und Fünftes Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Band II, § 15 FRG Anm. 3; RVO-Gesamtkommentar, § 15 FRG Anm. 3; Ludwig, Wege zur Sozialversicherung 1962, 108). Von dieser Rechtsauffassung scheint auch der 12. Senat des BSG in seinem Urteil vom 13. Oktober 1967 - 12 RJ 412/65 - ausgegangen zu sein.
Hiernach konnte die im Jahre 1961 in die Bundesrepublik Deutschland gekommene Klägerin, obwohl sie erst nach Vollendung des 40. Lebensjahres die Selbstversicherung bei einer mitteldeutschen Sozialversicherungsanstalt begonnen hatte, im Jahre 1962 die Versicherung in der Bundesrepublik fortsetzen.
Das angefochtene Urteil des LSG, mit welchem der Klägerin ein Anspruch auf die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG zuerkannt worden ist, entspricht somit dem Gesetz. Die Revision der Beklagten muß als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen