Orientierungssatz
Zur Frage des Teilzeitarbeitsmarktes für ungelernte Frauen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. November 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Klägerin berufsunfähig ist und deshalb Rente beanspruchen kann.
Die Klägerin, geboren 1912, war nach kurzer Tätigkeit als Hausmädchen von 1930 bis 1957 mit Unterbrechungen als Büglerin versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte lehnte ihren Antrag auf Versichertenrente mit Bescheid vom 8. Mai 1972 ab, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig oder erwerbsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) Mainz hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) verurteilt (Urteil vom 5. Oktober 1972). Im Verfahren über die Berufung der Beklagten befragte das Landessozialgericht (LSG) die Bundesanstalt für Arbeit (BA) unter Beschreibung der noch vorhandenen Leistungsfähigkeit der Klägerin darüber, wieviel Teilzeitarbeitsplätze bei solchen Leistungsbeschränkungen, frei oder besetzt, vorhanden seien, wieviel Bewerber sich um solche Arbeitsplätze bemühten und ob der Arbeitsmarkt insoweit praktisch verschlossen sei. Die BA antwortete, der Mikrozensus sähe keine Erfassung nach Berufen und nach der Schwere der Arbeiten vor; das Verhältnis 75 : 100 der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten könne zur Zeit nicht ermittelt werden. Aus den allgemeinen Arbeitsmarktbeobachtungen und ergänzenden Informationen müsse festgestellt werden, daß auch bei Teilzeitstellenangeboten für Frauen die Arbeitgeber die übliche Leistungsfähigkeit voraussetzten. Körperlich leichte Arbeiten böten sich für Frauen vor allem in der industriellen Fertigung durch Bedienen bzw. Beaufsichtigen von Maschinen, Teilautomaten, Automaten, in der Kontrolle und zu einem geringen Teil in der Versandfertigung, je nach Art und Größe der hergestellten Teile und Waren. Gefordert würden vor allem Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit, normales, zum Teil auch Feinsehvermögen, Handgeschick, Belastungsfähigkeit für zeitgebundene Arbeiten, da die einfachen, körperlich leichten Arbeiten für Frauen nahezu ausschließlich im Einzel- oder Gruppenakkord, am Fließband oder an Automaten mit vorbestimmtem Arbeitstempo verrichtet würden. Die Leistungsminderungen bei der Klägerin ließen Arbeiten in einem unbefristeten Teilzeitarbeitsverhältnis so gut wie nicht mehr zu. Den Anforderungen durch Technisierung, Automatisierung, Rationalisierung der Produktion seien ältere und leistungsgeminderte Frauen nicht mehr gewachsen; für sie bestehe vielfach auch keine andere Beschäftigungsmöglichkeit mehr. Die in geringer Zahl vorhandenen Arbeitsplätze für leistungsgeminderte Hilfsarbeiterinnen stünden dem freien Wettbewerb praktisch kaum noch zur Verfügung, weil sie für langjährige Betriebsangehörige und nach dem Mutterschutzgesetz benötigt würden.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 19.11.1973).
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin noch in der Lage sei, täglich vier Stunden leichte körperliche Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen in geschlossenen, trockenen und heizbaren Räumen ohne Einwirkung von Staub, Dämpfen und übermäßigem Lärm zu verrichten, wobei Arbeiten, die ein Anlernen erfordern oder am Fließband, im Akkord oder in Nachtschicht zu leisten sowie mit häufigem Heben und Bücken und Tragen von Lasten verbunden sind, ausscheiden müßten. Außerdem kämen keine Arbeiten in Betracht, die an Konzentration, Verständnis und Gedächtnis für Arbeitsanweisungen oder allgemein an die geistigen Fähigkeiten mehr als nur geringe Anforderungen stellten.
Das LSG hat sinngemäß ausgeführt, daß es keine oder kaum Arbeitsstellen gebe, die für die Klägerin in Betracht kämen. Sie sei auf ungelernte Arbeiten, die nicht einfacher Art seien, zu verweisen. Der Arbeitsmarkt sei für sie nach der Auskunft der BA verschlossen; diese Auskunft reiche aus.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte rügt Verstöße des LSG gegen § 103 SGG und § 1246 Abs. 2 RVO. Sie bezieht sich auf den Beschluß des Großen Senats (GS) vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69, Abschnitt C V 2 a, b, bb. Danach sei der Arbeitsmarkt für die Klägerin offen.
Das LSG habe nicht klargestellt, ob sie außer den zeitlichen Einschränkungen noch zusätzlichen starken Einschränkungen unterliege und gegebenenfalls worin diese beständen. Solche weiteren Einschränkungen lägen nicht vor. Ein notwendiger Wechsel der Körperhaltung sei kein zusätzlicher leistungseinschränkender Umstand. Bezüglich der Anforderungen an Muskelarbeit seien die meisten Frauenarbeitsplätze in der Industrie so gestaltet, daß nur noch leichte körperliche Belastungen gefordert würden. Arbeitsplätze mit genügender körperlicher Bewegungsfreiheit seien nichts ungewöhnliches. Fließband- und Akkordarbeiten und Arbeiten unter Einwirkungen von Staub, Dampf und übermäßigem Lärm würden in weiten Bereichen des Frauenarbeitsmarktes nicht gefordert. Für die Klägerin kämen zahlreiche Teilzeitarbeiten in Industrie, Gewerbe und im Dienstleistungsbereich in Frage, z. B. leichte Pack- und Sortierarbeiten, Auszeichnen von Waren mit Preisschildern, Tätigkeiten in der gewerblichen und industriellen Fertigung, Tätigkeiten hausfraulicher Art in Großküchen, Kantinen und im Gaststättengewerbe, Beaufsichtigung von Kindern in Privathaushalten, Tätigkeiten in Beherbergungsbetrieben, wie z. B. Ausbessern von Wäsche. Nach den Grundsätzen in den Entscheidungen SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO und Nr. 24 zu § 1247 RVO hätte das LSG die dort benannten Sachverständigen mit weiteren Erhebungen beauftragen müssen.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist infolge Zulassung statthaft. Sie ist aber nicht begründet. § 1246 Abs. 2 RVO ist nicht verletzt.
Die Rüge einer Verletzung des § 103 SGG durch die Beklagte entspricht nicht § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. In der Revisionsbegründung ist nicht im einzelnen, bezogen auf den hier zu entscheidenden Fall, dargelegt, zu welchen besonderen Ermittlungen das LSG sich nach Erhalt der Auskunft der BA noch hätte gedrängt fühlen müssen, um diese Auskunft zu ergänzen oder zu widerlegen. Es sind nicht die Stellen und Sachverständigen angegeben, die gerade hier im Falle der Klägerin Sachdienliches über das Vorhandensein zumutbarer Teilzeitarbeitsplätze hätten bekunden können. In der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juli 1970 4 RJ 497/67 (= SozR Nr. 24 zu § 1247 RVO) sind allgemein und beispielhaft verschiedene Stellen genannt, die für Ermittlungen in Frage kommen können. Dies kann aber lediglich als Anregung für gezielte Ermittlungen in den jeweiligen Einzelfällen verstanden werden.
Falls die Beklagte Ausführungen des LSG über mögliche Tätigkeiten der Klägerin im Dienstleistungsbereich vermißt, so beachtet sie nicht, daß die BA, wie sich aus ihrer Auskunft ergibt, Frauenarbeitsplätze hauptsächlich in der industriellen Fertigung behandelt hat, weil dort am ehesten körperlich leichte Arbeiten im Sitzen zu finden sind. Die BA hat sich aber nicht auf diesen Sektor beschränkt. Soweit die Beklagte meint, das LSG hätte nicht klargestellt, ob die Klägerin auf dem Arbeitsmarkt "starken" Einschränkungen unterliege, läßt sie außer Acht, daß das LSG die Leistungseinschränkungen, die bei der Klägerin zu der zeitlichen Einschränkung hinzukommen, als qualitäts- und quantitätsmäßige Leistungseinschränkungen angesehen hat. Wenn die Beklagte meint, ein Teil dieser Einschränkungen werde bei industriellen Frauenarbeiten wegen der Gestaltung der Arbeitsplätze ohnehin nicht praktisch, so übersieht sie, daß die Auskunft der BA sich nicht ausschließlich auf industrielle Arbeitsplätze bezieht und daß die festgestellten Einschränkungen geistiger Art für alle Arten von Tätigkeiten gelten. Es bestehen keine Bedenken, wenn das LSG bei der Vielzahl der zur zeitlichen Leistungseinschränkung hinzukommenden Behinderungen, besonders in Verbindung mit dem Alter der Klägerin, insgesamt auch eine qualitäts- und quantitätsmäßige Leistungseinschränkung angenommen und den Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen hat. Die Revision beanstandet insoweit die Beweiswürdigung des LSG, legt aber nicht dar, daß das LSG sein Recht der freien Beweiswürdigung überschritten hätte.
Zwar hat das LSG nicht den örtlichen Teilzeitarbeitsmarkt erforscht um festzustellen, ob das für den Wohnbereich der Klägerin zuständige Arbeitsamt ihr einen Teilzeitarbeitsplatz hätte vermitteln können, wenn sie sich darum bemüht hätte (siehe die Entscheidung des Senats vom 22.8.1973 12 RJ 106/72 = SozR Nr. 115 zu § 1246 RVO; vergl. auch SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO). Indes ist hier § 1246 Abs. 2 RVO nicht in der Richtung verletzt, daß nicht alle für die Bejahung von BU nach dem Gesetz erforderlichen Umstände herangezogen worden wären. Unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin konnte das LSG hier bei der eingehenden, auf den konkreten Fall abgestellten Auskunft der BA ohne Gesetzesverletzung Berufsunfähigkeit bejahen, ohne zusätzlich zu der Auskunft der BA noch bei dem für die Kläger zuständigen Arbeitsamt nach dem Vorhandensein von für die Klägerin noch zumutbaren Teilzeitarbeitsplätzen zu forschen. Die Revision ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Fundstellen