Orientierungssatz
Neufeststellung einer entzogenen Rente, Überzeugung des Versicherungsträgers, Unrechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides, knappschaftliche Berufsunfähigkeit im Saarland, Gleichartigkeit der Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten mit der Tätigkeit eines Gedingearbeiters.
Normenkette
RKG § 93 Abs. 1; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; RKG § 35 Fassung: 1934-05-17; SaarKnG § 38 Fassung: 1951-07-11, § 60 Fassung: 1951-07-11; RVO § 1293 Abs. 1 Fassung: 1934-05-17
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 17.04.1974; Aktenzeichen L 2 Kn 12/73) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 29.06.1973; Aktenzeichen S 7/Kn 8/70) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. April 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte nach § 93 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) verpflichtet ist, die im Jahre 1955 entzogene Knappschaftsrente alten Rechts (a. R.) neu festzustellen.
Die Saarknappschaft gewährte dem Kläger, der nach einer Tätigkeit als Gedingeschlepper im Bergbau durch Kriegsverletzung das linke Bein im Unterschenkel verloren hatte, mit Bescheid vom 29. Oktober 1948 die Knappschaftsrente a. R. nach § 35 RKG aF für die Zeit vom 1. Mai 1948 an. Diese Leistung wurde mit Bescheid vom 30. Juni 1952 mit Wirkung vom 1. Juni 1951 an in die Knappschaftsrente nach dem Saarknappschaftsgesetz vom 11. Juli 1951 (SKG) umgestellt. Die Saarknappschaft entzog dem Kläger die Knappschaftsrente mit Bescheid vom 19. Juli 1955 mit Ablauf des Monats Juli 1955, weil der Kläger, der als kaufmännischer Angestellter in einem knappschaftlichen Betrieb tätig war, aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten in der Lage sei, die seiner früheren Tätigkeit gleichwertige Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter zu verrichten. Diesen Bescheid hat der Kläger nicht angefochten.
Seinen bereits am 16. November 1963 gestellten Antrag auf Überprüfung des Entziehungsbescheides wiederholte der Kläger am 1. September 1969. Die Beklagte lehnte eine Neufeststellung der Knappschaftsrente mit Bescheid vom 20. Oktober 1969 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde von der Widerspruchsstelle der Beklagten am 19. Dezember 1969 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 29. Juni 1973 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 17. April 1974 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte brauche sich nicht von der Rechtswidrigkeit des Entziehungsbescheides zu überzeugen. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) zu § 35 RKG aF entschieden, daß die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten der Gedingetätigkeit nicht gleichartig sei (vgl. BSG 5, 73), so daß die Fähigkeit zur Verrichtung der Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten die Berufsunfähigkeit für einen Gedingearbeiter auch dann nicht ausschließe, wenn beide Tätigkeiten gleichwertig seien. Die Frage, ob die Rechtsprechung des BSG zu der nach § 35 RKG aF notwendigen Gleichartigkeit auch für § 38 SKG gelte, sei in dem Urteil des BSG vom 19. März 1969 - 5 RKn 6/66 - nur dahin entschieden worden, daß mindestens seit der Einführung des bundesdeutschen Knappschaftsrechts und der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland bei der Auslegung des § 38 SKG die im Bundesgebiet geübte Rechtsprechung zu § 35 RKG aF zu beachten sei. Für die frühere Zeit sei also eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht vorhanden. Angesichts der Rechtsentwicklung im Saarland sei die Ansicht der Beklagten vertretbar, daß ein Gedingeschlepper nach § 38 SKG auf die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten verwiesen werden könne. Der Ausschuß für Sozialpolitik des Landtages des damals autonomen Saarlandes habe in der Sitzung vom 30. Juni 1951 verbindlich festgelegt, daß alle knappschaftlichen Tätigkeiten einander gleichartig seien. Davon sei auch die Rechtsprechung im Saarland in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) ausgegangen. Die Beklagte habe im Zeitpunkt der Rentenentziehung gar nicht anders entscheiden können und brauche sich jetzt nicht davon zu überzeugen, daß sie damals unrichtig entschieden habe.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, durch die Rechtsprechung des BSG sei auch für die Auslegung des mit § 35 RKG aF übereinstimmenden § 38 SKG geklärt, daß wegen der fehlenden Gleichartigkeit ein Gedingeschlepper nicht auf die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten verwiesen werden konnte. Die Beklagte müsse sich daher von der Unrechtmäßigkeit ihrer Rentenentziehung überzeugen und die entzogene Rente neu feststellen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts und des Urteils des Sozialgerichts sowie des Bescheides der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides zu verurteilen, die dem Kläger mit Bescheid vom 19. Juli 1955 entzogene Rente (Knappschaftsrente alten Rechts) gemäß § 93 Abs. 1 RKG neu festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die entzogene Knappschaftsrente aR neu festzustellen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Rentenentziehung im Jahre 1955 rechtmäßig oder rechtswidrig war. Selbst wenn man von der Rechtswidrigkeit der Rentenentziehung ausgeht, liegen die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 RKG für eine Neufeststellung nicht vor. Nach dieser Vorschrift braucht der Versicherungsträger eine entzogene Rente nur dann neu festzustellen, wenn er sich von der Unrechtmäßigkeit der Rentenentziehung überzeugt. Lehnt der Versicherungsträger es allerdings aus nicht vertretbaren Gründen ab, sich von der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der Rentenentziehung zu überzeugen, so muß er als überzeugt gelten (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1300 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Das gilt auch und insbesondere dann, wenn die von dem Versicherungsträger vertretene Rechtsansicht zur Auslegung einer Vorschrift trotz Übereinstimmung mit der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung nach der im Zeitpunkt der Überprüfung vorliegenden und nicht einen Einzelfall betreffenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gebilligt wird (vgl. BSG 26, 89).
Durch die Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG 5, 73) ist - abweichend von der Rechtsprechung des früheren RVA - klargestellt, daß die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten der Tätigkeit eines Gedingearbeiters nicht im wesentlichen gleichartig i. S. des § 35 RKG aF ist, so daß die Knappschaftsrente aR auch dann nicht entzogen werden konnte, wenn der Gedingearbeiter nach der Rentengewährung aufgrund neuer Kenntnisse und Fähigkeiten in die Lage versetzt wurde, die gleichwertige Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten in einem knappschaftlichen Betrieb zu verrichten. Für den Geltungsbereich des § 35 RKG aF stände in solchen Fällen daher die Unrechtmäßigkeit einer Rentenentziehung fest, so daß die Beklagte nach § 93 Abs. 1 RKG zur Neufeststellung der zu Unrecht entzogenen Knappschaftsrente aR verpflichtet wäre. Anders ist jedoch die rechtliche Situation im Saarland jedenfalls für solche Rentenentziehungsfälle, die bereits vor der Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik bindend geworden sind (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 30. April 1975 - 5 RKn 33/74 -). Zwar stimmt § 38 SKG wörtlich mit § 35 RKG aF überein. Das bedeutet aber noch nicht, daß beide Vorschriften auch den gleichen Inhalt haben müssen. Die Vorschrift des § 38 SKG ist von dem autonomen Gesetzgeber des Saarlandes erlassen worden. Bei den Vorbereitungsarbeiten ist von einem am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Unterausschuß darauf hingewiesen worden, daß alle Tätigkeiten in knappschaftlichen Betrieben einander gleichartig seien (vgl. Maurer, SKG mit Erläuterungen, 1952 S. 86, 89). Die Rechtsprechung im Saarland ist dieser Ansicht gefolgt. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie zwingend ist, denn jedenfalls ist es vertretbar, die Gesetzgebungsmotive zur Auslegung des § 38 SKG heranzuziehen und zu einem von § 35 RKG aF abweichenden Ergebnis zu kommen.
Nun ist allerdings im vorliegenden Fall die Knappschaftsrente aR nicht nach § 38 SKG, sondern vor dessen Inkrafttreten nach § 35 RKG aF gewährt worden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung auch nach dem Inkrafttreten des SKG weiterhin nach dem RKG richtete. Nach § 128 Abs. 4 Satz 1 SKG galt dieses Gesetz auch für die am 1. Juni 1951 laufenden Renten, die entsprechend umgestellt wurden. Nach dem 1. Juni 1951 handelte es sich also nicht um eine Rente nach dem RKG, sondern um eine Rente nach dem SKG. Für die Rentenentziehung war deshalb § 60 SKG anzuwenden, der die entsprechende Anwendung des § 1293 RVO anordnete. An die Stelle der Invalidität i. S. des § 1293 RVO trat dabei der Begriff der Berufsunfähigkeit, wobei fraglich sein kann, ob insoweit § 35 RKG aF oder § 38 SKG maßgebend war. Diese Frage braucht nicht abschließend entschieden zu werden, denn jedenfalls darf die Beklagte mit vertretbaren Gründen der Ansicht sein, daß es sich um einen Fall handelt, in dem der Begriff der Berufsunfähigkeit nach § 38 SKG maßgebend war, der sich möglicherweise inhaltlich von dem Begriff der Berufsunfähigkeit in § 35 RKG aF unterschied. In diesem Falle wäre der Wegfall der Berufsunfähigkeit zwar nicht allein auf den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten zurückzuführen, sondern auch darauf, daß an die Stelle des für die Rentengewährung maßgebenden § 35 RKG aF der § 38 SKG getreten ist, denn nach § 35 RKG aF wäre trotz des Erwerbs neuer Kenntnisse und Fähigkeiten die Berufsunfähigkeit bestehen geblieben. Es mag fraglich sein, ob eine Rechtsänderung eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse sein kann. Jedenfalls ist die Ansicht der Beklagten vertretbar, daß die nach der Rentengewährung erworbene Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung der gleichwertigen Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten Berufsunfähigkeit i. S. des § 38 SKG ausschließt und daher die Rentenentziehung rechtfertigte. Die Beklagte braucht sich also nicht von der Unrichtigkeit der Rentenentziehung zu überzeugen und ist daher auch nicht verpflichtet, die entzogene Rente neu festzustellen.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen