Leitsatz (amtlich)
1. Der Anspruch eines Versicherten auf eine satzungsmäßige Mehrleistung gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung wird von RVO § 1531 erfaßt (Anschluß an RVA in AN 1919, 312, 313).
2. RVO § 187 Nr 4 ermächtigt den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, in seiner Satzung eine Maßnahme zur Verhütung von Erkrankungen der einzelnen Kassenmitglieder nicht nur als Pflichtleistung, sondern auch als Kannleistung vorzusehen.
3. Zur Richtlinienkompetenz des Vorstandes eines Sozialversicherungsträgers.
4. Zur Auslegung des Rechtsbegriffs "Kuraufenthalt für eigene Rechnung" in § 66 Abs 3 der Satzung der Bundesknappschaft.
Leitsatz (redaktionell)
Ermessensbestimmungen eines Krankenversicherungsträgers, die zur Folge haben, daß der in BSHG § 2 festgelegte Nachrang der Sozialhilfeleistungen für Ermessensentscheidungen umgangen würde, sind unbeachtlich.
Normenkette
RKG §§ 20, 154 Abs. 2, § 155 Nrn. 7, 12; BKnSa § 66 Abs. 3 Sätze 1-2; RVO § 179 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1924-12-15, § 187 Nr. 4 Fassung: 1924-12-15, § 321 Nr. 2 Fassung: 1924-12-15, § 1531 S. 1 Fassung: 1924-12-15; BSHG § 2
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 31. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der klagende Landschaftsverband begehrt in seiner Eigenschaft als überörtlicher Träger der Sozialhilfe von der beklagten Bundesknappschaft teilweisen Ersatz von Kosten, die ihm dadurch entstanden sind, daß er einer knappschaftlich Versicherten eine Sanatoriumskur gewährt hat.
Die bei der Beklagten krankenversicherte Rentnerin Elisabeth R (R.) befand sich im Jahre 1971 auf Kosten des Klägers mehrere Wochen zu einer ärztlich verordneten Sanatoriumskur. Die vom Kläger verlangte Beteiligung an den Kurkosten lehnte die Beklagte ab: Nach den von ihrem Vorstand zu § 66 ihrer Satzung erlassenen Richtlinien leiste sie unter bestimmten Voraussetzungen bei Kuraufenthalt nur "für eigene Rechnung" einen Kurmittelzuschuß bis zu 100,- DM; ein Kuraufenthalt für eigene Rechnung liege nur vor, wenn der Berechtigte mehr als die Hälfte der Kurkosten aus eigenen Mitteln bestreite.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit der angefochtenen Entscheidung vom 31. Juli 1974 verurteilt, 100,- DM zu zahlen. In der Begründung heißt es: Der Anspruch des Klägers sei nach §§ 1531, 1532 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 66 Abs. 3 der Satzung der Beklagten begründet. Nach dieser Vorschrift habe die Versicherte einen Anspruch gegen die Beklagte auf einen Kurmittelzuschuß von 100,- DM gehabt. Ein Kuraufenthalt für eigene Rechnung liege auch dann vor, wenn ein Dritter die Kurkosten trage, gegenüber dem der Versicherte einen Kostentragungsanspruch habe. Das sei im Verhältnis der Versicherten zum Kläger aufgrund des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) der Fall gewesen. Die anderslautenden Richtlinien des Vorstandes der Beklagten und § 66 Abs. 3 Satz 2 ihrer Satzung seien unwirksam, weil sie der gesetzlichen Ermächtigung des § 187 Nr. 4 RVO widersprächen. Außerdem stelle die Beklagte mit der beanstandeten Regelung die wirtschaftlich schwachen Kassenmitglieder gesetzwidrig schlechter als die wirtschaftlich gut gestellten Mitglieder. Im übrigen verstoße die genannte Regelung gegen die in § 2 BSHG angeordnete Subsidiarität der Sozialhilfeleistungen. Trotz Nichtigkeit der Satzung müsse die Beklagte leisten, weil davon auszugehen sei, daß sie grundsätzlich eine Mehrleistung gemäß § 187 Nr. 4 RVO gewähren wolle.
Das SG hat in diesem Urteil die Berufung zugelassen.
Mit dem schriftlichen Einverständnis des Klägers hat die Beklagte statt der Berufung die Sprungrevision eingelegt. Sie trägt vor: Statthafterweise seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines Kurmittelzuschusses nach § 66 der bis zum 31. März 1972 geltenden Satzung in Richtlinien des Vorstandes festgelegt. Im übrigen sei bereits in der Satzung normiert, daß es einen Kurmittelzuschuß nur bei "Kuraufenthalt für eigene Rechnung" gebe; die Richtlinien des Vorstandes interpretierten allein diesen Begriff. Nach den bis 31. März 1972 geltenden Richtlinien gelte die Forderung der Satzung nur als erfüllt, wenn der Berechtigte mit mehr als der Hälfte der Kurkosten belastet bleibe. Die Frage des Nachrangs der Sozialhilfe spiele keine Rolle, weil es sich beim Kurmittelzuschuß um keine Ermessensleistung handele; die Richtlinien seien für die Verwaltung bindend. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz scheide aus, da derjenige, der eine Kur vom Sozialhilfeträger erhalte, nicht Personen gleichgestellt werden könne, die eine Kur aus eigenen Mitteln finanzierten.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verweist auf das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Nach § 1531 RVO kann der Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Sozialhilfeempfänger für eine Zeit unterstützt, für den er Anspruch nach diesem Gesetz hatte oder hat, bis zur Höhe dieses Anspruches nach den §§ 1532 bis 1537 RVO Ersatz beanspruchen. Der klagende Landschaftsverband hat die an Arthrose leidende Versicherte Elisabeth R. durch Gewährung der ärztlich verordneten Kur im Jahre 1971 nach gesetzlicher Pflicht, nämlich im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß § 43 i. V. m. §§ 39, 40 BSHG unterstützt. Ihm steht gegen die Beklagte ein Ersatzanspruch zu, weil die Versicherte im Jahre 1971 wegen der Arthrose einen entsprechenden Leistungsanspruch gegen die Beklagte hatte.
Ein Anspruch der Versicherten gegen die Beklagte im Sinne des § 1531 Satz 1 RVO ist nicht schon deswegen zu verneinen, weil ein in einer Satzungsbestimmung eines Versicherungsträgers wurzelnder Anspruch etwa kein "Anspruch nach diesem Gesetz" wäre. Der Anspruch auf die durch die Satzung eines Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmten Mehrleistungen (§ 179 Abs. 3 RVO) fällt hierunter, da er über die im Gesetz enthaltene Ermächtigung mittelbar auf der RVO beruht (so schon RVA in AN 1918, 424, 425). Auch auf Leistungen, die vom pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers abhängen (sogenannte Kann-Leistungen) kann ein Anspruch im Sinne der genannten Bestimmung bestehen (vgl. BSGE 9, 112, 123; 14, 261, 264 = SozR Nr. 11 zu § 205 RVO).
Für eine Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) am 1. Oktober 1974 sahen die - gemäß § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) auch für die knappschaftliche Krankenversicherung der Rentner geltenden - einschlägigen Bestimmungen der RVO nicht unmittelbar die Möglichkeit der Gewährung einer Sanatoriumskur oder eines Zuschusses hierzu vor. Indessen war die Behandlung in Kureinrichtungen als satzungsgemäße Mehrleistung möglich: § 187 Nr. 4 RVO bestimmte schon damals, daß die Satzung mit Zustimmung der Rechtsaufsichtsbehörde Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen der einzelnen Kassenmitglieder vorsehen könne. Diese Ermächtigung ist dahin zu verstehen, daß der Versicherungsträger in seiner Satzung sowohl eine entsprechende Pflichtleistung wie auch eine Kann-Leistung vorsehen kann. Der Senat hat die Frage geprüft, ob die Vertreterversammlung durch § 187 Nr. 4 RVO ermächtigt war, einen Kurmittelzuschuß nicht als Pflichtleistung, sondern nur als Ermessensleistung vorzusehen. Er hat die Frage bejaht. Wenn es die RVO dem freien Ermessen der Vertreterversammlung überläßt, von einer Bestimmung über die Gewährung eines Kurmittelzuschusses völlig abzusehen, so muß es ihr gestattet sein, einen solchen Zuschuß wenigstens als Kann-Leistung vorzusehen (vgl. dazu auch RVA in AN 1919, 312, 313).
Gestützt auf die Ermächtigung des § 187 Nr. 4 RVO hat die Satzung der Beklagten in der bis zum 31. März 1972 geltenden Fassung in § 66 Abs. 3 bestimmt:
Bei Kuraufenthalt für eigene Rechnung kann für den Versicherten und die familienhilfeberechtigten Angehörigen ein Kurmittelzuschuß bis zum Höchstbetrag von je 100,- DM gewährt werden. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Kurmittelzuschusses legt der Vorstand der Bundesknappschaft in Richtlinien fest.
Diese Satzungsbestimmung räumt dem Versicherten einen Anspruch gegen die Beklagte ein, nach pflichtgemäßem Ermessen über die Gewährung eines Kurmittelzuschusses zu befinden. Dies folgt nicht allein aus der in Satz 1 der Bestimmung getroffenen Formulierung, daß die Knappschaft einen Kurmittelzuschuß gewähren "kann". Die Normierung eines Kurmittelzuschusses als einer vom Ermessen abhängigen Kann-Leistung ergibt sich aus dem Zusammenhalt der Sätze 1 und 2: Die in Satz 2 vorgesehenen Richtlinien des Vorstandes der Bundesknappschaft über die Gewährung eines Kurmittelzuschusses sollen offenkundig die gleichmäßige Übung eines in Satz 1 eingeräumten Ermessens sichern (über die Funktion von Verwaltungsvorschriften im engeren Sinne zur Konkretisierung des der Verwaltung eingeräumten Ermessens vgl. z. B. BVerwGE 19, 48, 55; 36, 313, 315; H. J. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., S. 118, 119, mit zahlreichen Nachweisen). Auch die Tatsache, daß die Satzung der Beklagten in Satz 2 aaO davon spricht, der Vorstand lege in Richtlinien "die Voraussetzungen" für die Gewährung eines Kurmittelzuschusses fest, steht der Annahme nicht entgegen, daß die Beklagte eine Ermessensleistung normiert hat. Würden in § 66 Abs. 3 Satz 2 der Satzung der Beklagten unter "Voraussetzungen" die Tatbestandsmerkmale verstanden, deren Vorliegen den Ermessensbereich erst eröffnen, so wäre die Bestimmung mangels einer gesetzlichen Grundlage unwirksam: § 187 Nr. 4 RVO gestattet die Normierung der dort vorgesehenen Mehrleistungen nur durch die "Satzung", ermächtigt also ausschließlich die Vertreterversammlung der Bundesknappschaft, durch Setzung autonomen Körperschaftsrechts gemäß §§ 154 Abs. 2, 155 Nr. 12 RKG eine entsprechende Regelung zu treffen. Eine Ermächtigung, den der Vertreterversammlung erteilten Rechtssetzungsauftrag auf ein Verwaltungsorgan des Versicherungsträgers weiter zu übertragen, fehlt. § 155 Nr. 7 RKG (vgl. §§ 179 Abs. 3, 321 Nr. 2 RVO) schreibt im Gegenteil ausdrücklich vor, daß die Satzung, d. h. die Vertreterversammlung im Rahmen und im Zuge des Erlasses autonomer Körperschaftsnormen, Art und Umfang der nicht durch Gesetz festgelegten Leistungen der knappschaftlichen Krankenversicherung bestimme. Was u. a. für die Festlegung des Umfangs dieser Leistungen gilt, muß erst recht für deren Voraussetzungen Rechtens sein. Jedoch nötigt § 66 Abs. 3 der Satzung nicht zu einer Auslegung, die seine Ungültigkeit zur Folge hätte. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, daß die Vertreterversammlung der Beklagten in Satz 2 aaO unter "Voraussetzungen" ganz allgemein die Bedingungen verstanden wissen wollte, die für eine gleichmäßige Übung des der Verwaltung durch Satz 1 aaO eingeräumten Ermessens maßgeblich sein sollen.
Nach alledem enthält § 66 Abs. 3 Satz 1 der Satzung der Beklagten die Normierung eines Kurmittelzuschusses als Ermessensleistung; Satz 2 aaO ermächtigt den Vorstand der Beklagten, durch Verwaltungsvorschriften mit verwaltungsinterner Wirkung eine gleichmäßige Übung des Ermessens zu gewährleisten.
Was nun die - im vorliegenden Fall allein streitige - Auslegung des in § 66 Abs. 3 Satz 2 der Satzung der Beklagten verwendeten Rechtsbegriffs "Kuraufenthalt für eigene Rechnung" betrifft, ist für den erkennenden Senat die in den Richtlinien der Beklagten gegebene Interpretation nicht maßgebend. Rechtsauslegende Verwaltungsvorschriften binden die Gerichte nicht (vgl. z. B. BVerwGE 34, 278; 36, 313, 315; 37, 59). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob unter Kuraufenthalt für eigene Rechnung nicht - als Gegenstück zu den von der Beklagten nach § 66 Abs. 1 und 2 der Satzung gewährten Kuren - jede ohne Mitwirkung der Beklagten beschaffte Kur fällt oder ob zumindest Kuren, hinsichtlich derer der Versicherte gegen Dritte Kostentragungsansprüche hat, wie Kuren auf eigene Rechnung zu behandeln sind. Im konkreten Fall konnte die Beklagte der Versicherten den Kurmittelzuschuß schon deshalb nicht mit der Begründung versagen, sie habe die Kur nicht auf eigene Rechnung, sondern auf Rechnung des Klägers ausgeführt, weil sie hierdurch den in § 2 BSHG - auch für Ermessensleistungen - festgelegten Nachrang der Leistungen der Sozialhilfe umgehen würde.
Hiernach hat das SG zu Recht den vom Kläger gemäß § 1531 RVO erhobenen Ersatzanspruch bejaht. Die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1650725 |
BSGE, 20 |