Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 22.03.1983) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. März 1983 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Streitig ist dabei, ob der Kläger bei Einsetzen der gegen ihn gerichteten Verfolgungsmaßnahmen in einem Beschäftigungsverhältnis stand, seinerzeit Beiträge entrichtet wurden und ob uU auch die Unterbrechung einer Beschäftigungszeit iS des § 16 des Fremdrentengesetz (FRG) zur Nachentrichtung von Beiträgen berechtigt.
Der Kläger (geboren 1898) lebte seit 1929 in S…/G…. Nach seinen Angaben endete seine Erwerbstätigkeit im September 1939. Er wurde aus rassischen Gründen zur Zwangsarbeit herangezogen und zunächst in Arbeitslagern, ab 1941 im Ghetto untergebracht. 1943 flüchtete er aus dem Ghetto S… nach Ungarn und gelangte im Herbst 1944 nach Rumänien. Ende 1944 wanderte er nach Palästina aus. Seit 1948 ist er israelischer Staatsangehöriger.
Zu seiner Erwerbstätigkeit vor der Verfolgung gibt er an, daß er von Juni 1933 bis August 1933 als Lager- und Verkaufsleiter bei W… in S… beschäftigt gewesen sei und ca. 300 Zloty monatlich verdient habe. Es seien Beiträge zur Kassa C… in Polen entrichtet worden.
Im Dezember 1975 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung eines Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Außerdem stellte er ua einen Antrag, ihm die Nachentrichtung von Beiträgen gem § 10 WGSVG zu gestatten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 9. August 1977, Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1978). Sie war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der Auffassung, daß der Kläger in der Zeit vor der Verfolgung nicht in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Berlin – SG – vom 4. Februar 1981; Urteil des Landessozialgerichts Berlin – LSG – vom 22. März 1983).
Das LSG ist zu der Auffassung gelangt, daß die Unterbrechung einer Beschäftigung des Klägers aus Verfolgungsgründen zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG berechtigen könnte; denn der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 20 WGSVG. Es ist aber ebenso wie die Beklagte aufgrund der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Anwendung des § 10 WGSVG entfalle, weil keine Beitragszeiten in Polen angerechnet werden könnten. Im Rahmen der Beweiserhebung, auf die sich das LSG stützt, hat das SG ua eine schriftliche Zeugenaussage des in B… lebenden H… B… eingeholt, nachdem sich die Beteiligten mit einer schriftlichen Zeugenvernehmung einverstanden erklärt hatten. Die daraufhin von dem Zeugen abgegebene schriftliche Erklärung enthält keine eidesstattliche Versicherung ihrer Richtigkeit. Dennoch hat das LSG den Antrag des Klägers, den Zeugen B… in B… vernehmen zu lassen, abgelehnt. Es hat, entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – (SozR Nr 31 zu § 103 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –), dazu die Auffassung vertreten, daß sich der Kläger auf den Mangel der eidesstattlichen Versicherung nicht mehr berufen könne, nachdem er diesen bereits in erster Instanz bekannten Mangel vor dem SG nicht gerügt habe (§ 295 Abs 1 der Zivilprozeßordnung -ZPO-).
Zur Anrechnung von Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG und zu ihrer Bedeutung für das Nachentrichtungsrecht nach § 10 WGSVG hat das LSG nicht Stellung genommen.
Mit der Revision macht der Kläger die unterlassene Vernehmung des Zeugen B… als Verfahrensmangel geltend, ferner rügt er Fehler der Beweiswürdigung.
Materiell rügt er, daß das LSG § 16 FRG und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen nicht geprüft und erörtert hat.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. August 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 1978 zu verurteilen, dem Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Sache nimmt sie im Hinblick auf die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels (Beschluß des Senats vom 28. Februar 1984 – 12 BK 13/83 –) nicht Stellung.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Wie bereits im Beschluß über die Zulassung der Revision ausgeführt worden ist, liegt in der Ablehnung des Antrags auf Vernehmung des Zeugen B… ein wesentlicher Verfahrensmangel.
Die Beteiligten hatten sich zwar mit der schriftlichen Befragung des Zeugen einverstanden erklärt (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 377 Abs 4 ZPO). Eine solche Befragung ist aber nicht erfolgt, denn der Zeuge hat die Richtigkeit seiner Angaben nicht eidesstattlich versichert; ohne eine solche Versicherung ist eine schriftliche Erklärung aber unvollständig und deshalb mangelhaft.
Das Gericht durfte die Erklärung des Zeugen auch nicht urkunden-beweislich verwerten, und zwar schon deshalb nicht, weil der Kläger dem nicht zugestimmt hatte (vgl Baumbach ua, ZPO, 43. Aufl, § 377 Anm 3, ferner Urteil des Senats vom 15. Dezember 1983 – 12 RK 57/82 –, SozR 1500 § 117 Nr 3, S 4 f).
Der Verfahrensmangel ist nicht dadurch geheilt worden, daß der Kläger ihn nicht in der nächsten mündlichen Verhandlung vor dem SG gerügt hat; denn § 295 Abs 1 ZPO, der eine solche Heilung vorsieht, ist zwar grundsätzlich auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (BSG SozR ZPO § 295 Nrn 3, 4, 8). Das gilt jedoch nicht, wenn infolge des Verfahrensmangels das Gericht seine Pflicht verletzt hat, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (BSG SozR Nr 31 zu § 103 SGG; zweifelnd Meyer-Ladewig, SGG, § 103 RdNr 20). Dies ist hier der Fall, weil die bisherigen Erklärungen des Zeugen unklar bzw ergänzungsbedürftig sind. Unklar ist insbesondere die in einer schriftlichen “Bestätigung” des Zeugen vom 19. November 1977 gebrauchte Formulierung “jeder Arbeiter war versichert”. Aus ihr hat das LSG gefolgert, daß der Zeuge nur Arbeiter im Rechtssinne gemeint habe, obwohl dies nach dem Gesamtzusammenhang der Erklärung zweifelhaft ist.
Bei dieser Sachlage war der Kläger nicht gehindert, seine – vor dem SG erteilte – Zustimmung zur schriftlichen Befragung des Zeugen in der zweiten Instanz zurückzunehmen und eine mündliche Vernehmung des Zeugen zu beantragen. Sie durfte vom LSG aus den von ihm dafür angegebenen Gründen nicht abgelehnt werden. Schon deshalb muß das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden Auf eine Prüfung, ob die übrigen Rügen des Klägers formgerecht erhoben wurden und durchgreifen, kommt es danach nicht mehr an.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG zu berücksichtigen haben, daß auch nicht mit Beiträgen belegte Beschäftigungszeiten geeignet sind, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 9 und 10 WGSVG zu erfüllen, und daß die verfolgungsbedingte Unterbrechung einer solchen Beschäftigungszeit ein Nachentrichtungsrecht nach § 10 WGSVG begründen kann.
Der erkennende Senat hat allerdings entschieden, daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 9 und 10 WGSVG (60 Monate Versicherungszeit) nur vorliegen, wenn mindestens ein Beitrag zur deutschen Sozialversicherung geleistet worden ist (SozR 5070 § 10a Nr 4). Diese Entscheidung bezog sich aber nur auf Personen mit ausländischen Versicherungszeiten. Beim Kläger geht es indes um eine Beschäftigungszeit, die uU nach dem FRG der deutschen Rentenversicherung als Versicherungszeit zuzurechnen ist; denn nach § 16 FRG steht eine nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung verrichtete Beschäftigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes, für die Beiträge entrichtet sind, gleich, sofern die Beschäftigung nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätte, wenn sie im Bundesgebiet verrichtet worden wäre.
Dementsprechend sind auch verfolgungsbedingte Unterbrechungen solcher (nach § 16 FRG anrechenbarer) Beschäftigungszeiten Unterbrechungen einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung iS von §§ 9 und 10 WGSVG. Dem steht das Urteil des erkennenden Senats vom 16. April 1985 – 12 RK 4/83 – nicht entgegen. Danach setzt zwar eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung iS der §§ 9 und 10 WGSVG voraus, daß für sie Beiträge entrichtet worden sind. Das Urteil betraf jedoch einen Fall, in dem während der streitigen Zeit eine Beitragsentrichtung im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung unterblieben war; eine Anrechnung als Beschäftigungszeit nach § 16 FRG kam damals nicht in Betracht.
Die Rechtslage ist hier im übrigen nicht deswegen anders zu beurteilen, weil der Kläger nur über § 20 WGSVG in den Genuß der Vorschriften in §§ 15 oder 16 FRG kommen kann. Auch für Verfolgte gilt § 16 FRG, sofern sie zu den Vertriebenen gehören.
Das LSG hat deshalb nach Zurückverweisung der Sache nicht nur zu prüfen, ob seinerzeit für den Kläger Beiträge entrichtet wurden, sondern, wenn dies nicht überwiegend wahrscheinlich ist, auch festzustellen, ob eine Beschäftigung vorlag, für die nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bestanden hätte, sofern sie im Bundesgebiet verrichtet worden wäre; dabei sind Vorschriften über die Beschränkung der Versicherungspflicht nach der Höhe des Arbeitsverdienstes nicht anzuwenden. Darüber hinaus hat das LSG – soweit noch nicht geschehen – alle erforderlichen Feststellungen zur Anwendbarkeit von § 20 WGSVG zu treffen.
Die Kostenentscheidung bleibt den abschließenden Urteil vorbehalten .
Fundstellen