Leitsatz (amtlich)
1. Nach AVG § 14 Abs 3 S 1 Buchst b ist Prüfungsmaßstab für die Zumutbarkeit eines Umschulungsberufes allein die bisherige Berufstätigkeit. Auch diese Vorschrift bezweckt, einen wesentlichen sozialen Abstieg zu verhindern. Der Berufswechsel einer Chortänzerin zur kaufmännischen Angestellten führt zu keinem wesentlichen sozialen Abstieg.
2. Eine Umschulung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Versicherte in einem Lebensalter steht, in dem im bisherigen Beruf allgemein ein - meist zur Berufsaufgabe zwingender - "Leistungsknick" eintritt.
3. Eine Rentenversagung ist auch dann zulässig, wenn der Versicherte die nach AVG § 14 Abs 6 zur Durchführung einer Umschulungsmaßnahme erforderliche Zustimmung ohne triftigen Grund verweigert. GG Art 12 wird dadurch nicht verletzt.
4. Ein triftiger Grund, die Durchführung einer Berufsförderungsmaßnahme abzulehnen, kann sich auch aus familiären Verhältnissen (Pflichten) ergeben.
Normenkette
AVG § 14 Abs. 3 S. 1 Buchst. b Fassung: 1957-02-23, § 20 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1237 Abs. 3 S. 1 Buchst. b Fassung: 1957-02-23, § 1243 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 12 Fassung: 1968-06-24; RVO § 1237 Abs. 6 Fassung: 1957-02-23; AVG § 14 Abs. 6 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Oktober 1969 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Rentenversagung.
Die 1922 geborene Klägerin, die die Volks- und Mittelschule besucht und vom 6. Lebensjahr an Ballettunterricht erhalten hat, war von 1937 bis 1950 als Tanzelevin und von 1951 bis 1955 als Gruppentänzerin (Chortänzerin) in einem Staatstheater versicherungspflichtig beschäftigt (letzte Monatsgage 385 DM). Da sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Tänzerin tätig sein kann, wurde ihr ab Oktober 1958 von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) bewilligt. Seitdem versucht die Beklagte, die Klägerin auf eine sitzende Tätigkeit (Bürotätigkeit) mit Hilfe der Arbeitsverwaltung umzuschulen. Die Klägerin erteilte zwar (formularmäßig) ihre grundsätzliche Zustimmung, lehnte vor dem Arbeitsamt Umschulungsmaßnahmen jedoch immer wieder aus gesundheitlichen und familiären Gründen ab (sie ist verheiratet und hat zwei - 1953 und 1957 geborene - Kinder). Die Beklagte stellte deshalb die Umschulung anfangs zurück; auf den Widerspruch der Klägerin hob sie ferner einen ersten Rentenversagungsbescheid vom 24. Januar 1963 auf.
Mit Schreiben vom 25. Juni 1963 bat die Beklagte die Klägerin letztmals um Erklärung, ob sie bereit sei, sich der empfohlenen einjährigen Handelsschulausbildung zu unterziehen; sie wies darauf hin, daß die fachärztlichen Befunde die gesundheitlichen Bedenken der Klägerin nicht bestätigt hätten, und drohte zugleich eine Rentenversagung nach § 20 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) an. Als die Klägerin erneut Umschulungsmaßnahmen ablehnte, versagte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juli 1963 und Widerspruchsbescheid vom 10. September 1963 die Rente ab November 1963 für 12 Monate; sie behielt sich eine Verlängerung bei ergebnislosem Fristablauf vor. Hiervon machte sie in dem während des folgenden Klageverfahrens erlassenen weiteren Bescheid vom 21. August 1964 Gebrauch; mit ihm versagte sie die Rente für weitere drei Jahre bis Oktober 1967.
Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat durch Urteil vom 23. März 1966 der Klage stattgegeben und die Versagungsbescheide aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hingegen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Oktober 1969). Es hielt die Versagungsvoraussetzungen des § 20 Abs. 2 AVG für erfüllt. Die Klägerin habe sich ohne triftigen Grund der vorgesehenen Maßnahme der Berufsförderung - einjähriger Besuch einer Handelsschule mit täglich fünfstündigem Unterricht - entzogen. Sie sei körperlich und geistig in der Lage, sich auf den Beruf einer kaufmännischen Angestellten umschulen zu lassen. Dieser Beruf sei ihr zumutbar, weil er sozial jedenfalls nicht wesentlich geringer bewertet werde als der der Chortänzerin. Die Ausbildung sei zwar sehr unterschiedlich, für den Beruf der Tänzerin außerdem eine besondere Begabung erforderlich; das sei jedoch für die soziale Wertung nicht ausschlaggebend, ebensowenig komme es darauf an, wie die unmittelbar beteiligten Berufskreise ihre Tätigkeit bewerteten. Allein maßgeblich sei vielmehr die Ansicht aller Bevölkerungskreise, insbesondere die der im Berufsleben stehenden Versicherten; danach habe das Einkommen entscheidendes Gewicht für die soziale Bewertung; die Einkünfte in beiden Berufstätigkeiten seien hier aber annähernd gleich hoch. Durch eine mögliche und zumutbare sechsstündige Tätigkeit als kaufmännische Angestellte habe die Klägerin mindestens die Hälfte des Einkommens einer Chortänzerin erzielen können, so daß ihre Berufsunfähigkeit voraussichtlich beseitigt worden wäre. Die Forderung des Berufswechsels verstoße nicht gegen Art. 12 des Grundgesetzes (GG); ein Versicherter müsse sich auf zumutbare andere Berufe verweisen lassen, wenn er nicht finanzielle Nachteile erleiden wolle. Sonstige als triftig in Betracht kommende Gründe seien weder geltend gemacht noch ersichtlich; insbesondere habe, da die Kinder im Jahre 1963 bereits 6 bzw. 10 Jahre alt gewesen seien, von der Umschulung auch nicht mehr aus familiären Gründen abgesehen zu werden brauchen.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des Art. 12 GG, der §§ 20, 23 AVG und des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebe sich, daß der Versicherungsträger nur im Einvernehmen mit dem Versicherten einen anderen Beruf auswählen dürfe, der für diesen auch zumutbar sein müsse. Ihr gehe es in erster Linie um die Frage, ob einer Tänzerin an einem Staatstheater die Umschulung auf den Beruf der kaufmännischen Angestellten zugemutet werden dürfe. Der Begriff der Zumutbarkeit sei am vollständigsten in § 23 Abs. 2 AVG definiert; danach seien neben der bisherigen Berufstätigkeit und ihren Anforderungen Dauer und Umfang der Ausbildung entscheidend zu berücksichtigen. Damit sei die Ansicht des LSG unvereinbar. Die überaus intensive Ausbildung der Tänzerin schließe es aus, sie mit einem in kurzer Zeit auf der Handelsschule erlernbaren Beruf zu vergleichen. Die Bevölkerung erkenne die Sonderstellung der künstlerischen Berufe und das Elitebewußtsein der Künstler nach wie vor voll an. Im übrigen habe die Beklagte nur die Umschulung zur Bürohilfskraft vorgesehen. Zu beachten sei ferner, daß sie in einem Lebensalter berufsunfähig geworden sei, in welchem im Beruf der Tänzerin allgemein ein "Leistungsknick" (35 bis 40 Jahre) eintrete und ein Berufswechsel nicht mehr üblich sei. Berufsfördernde Maßnahmen dürften nicht dazu führen, allen Angehörigen einer Berufssparte am Ende ihrer Berufslaufbahn den wohlerworbenen Anspruch auf Rente zu versagen, sie müßten auf Fälle eines vorzeitigen Leistungsverfalls beschränkt sein. Vorsorglich rügt die Klägerin, das LSG habe bei Beurteilung ihrer Umschulungsfähigkeit die Feststellung im Gutachten von Dr. H vom 26. Juli 1962 nicht berücksichtigt, daß sie die üblichen fraulichen Berufsbetätigungen bis zu sechs Stunden am Tage ausführen könne; der Ausbildungsplan der Handelsschule setze aber neben einem sechsstündigen Schulunterricht zwei bis drei häusliche Übungsstunden täglich voraus. Außerdem hätte das LSG Leber- und Lungenerscheinungen noch durch Fachgutachten aufklären müssen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen ist.
Nach § 20 Abs. 2 AVG kann die Beklagte (nach vorherigem schriftlichen Hinweis) eine Rente wegen Berufsunfähigkeit ganz oder teilweise auf Zeit versagen, wenn sich der Rentenempfänger ohne triftigen Grund einer Maßnahme entzieht, die seine Berufsunfähigkeit voraussichtlich beseitigt hätte. Diese Voraussetzungen sind bis auf die des fehlenden triftigen Grundes erfüllt. Wie der Zusammenhang mit § 20 Abs. 1 AVG ergibt, gehört zu den Maßnahmen im Sinne des Abs. 2 "eine nach der bisherigen Berufstätigkeit des Versicherten zumutbare Maßnahme der Berufsförderung", also auch die in § 14 Abs. 3 Buchst. b AVG erwähnte "Ausbildung für einen nach der bisherigen Berufstätigkeit zumutbaren Beruf". Als solche Ausbildung war der einjährige Handelsschulbesuch von der Beklagten vorgesehen. "Vorgesehen" im Sinne des § 20 AVG ist eine Maßnahme nicht erst dann, wenn der Versicherungsträger sich schon durch Verwaltungsakt für ihre Gewährung entschieden hat; es genügt vielmehr, daß er dem Versicherten die Gewährungsabsicht in klar erkennbarer Weise mitgeteilt hat. Das hatte die Beklagte vor den streitigen Versagungsbescheiden getan. Die Klägerin wußte, daß sie für ein Jahr die Handelsschule besuchen sollte, um auf den Beruf der kaufmännischen Angestellten umgeschult zu werden. Die Umschulung hätte voraussichtlich ihre Berufsunfähigkeit beseitigt. Die Klägerin wäre nach den Feststellungen des LSG imstande gewesen, die für den Beruf der kaufmännischen Angestellten erforderlichen Kenntnisse zu erlernen und dann mindestens sechs Stunden täglich in diesem Beruf zu arbeiten; ihre Erwerbsfähigkeit hätte wieder mindestens die Hälfte der einer vergleichbaren gesunden Versicherten (§ 23 Abs. 2 Satz 1 AVG) erreicht; für eine Teilzeitarbeit von sechs Stunden wäre ihr der Arbeitsmarkt wahrscheinlich nicht verschlossen gewesen (BSG 30, 167, 190). Durch ihre Ablehnung, die Handelsschule zu besuchen, hat sie sich der Durchführung dieser Maßnahme entzogen.
Ob die Klägerin für ihre Weigerung einen triftigen Grund hatte, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Triftig kann jeder Grund sein, der die Entziehung rechtfertigen oder entschuldigen kann (BSG 20, 166, 167 zum triftigen Grund in § 63 BVG). Die bisherigen Feststellungen des LSG erlauben nur den Schluß, daß die meisten Gründe der Klägerin keine triftigen Gründe sind.
Das gilt zunächst für ihr Vorbringen, die Beklagte habe die vorgesehene Maßnahme überhaupt nicht gewähren dürfen, weil der Umschulungsberuf ihr nicht zumutbar gewesen sei. Hierzu ist vorab klarzustellen, daß die Klägerin nach den Vorstellungen der Beklagten später nicht als Bürohilfskraft untergeordnete Tätigkeiten verrichten, sondern als kaufmännische Angestellte vollwertig arbeiten sollte. Diese Berufstätigkeit war der Klägerin als Umschulungsberuf zumutbar.
§ 14 Abs. 3 Buchst. b AVG (vgl. auch § 20 Abs. 1 AVG) nennt als Prüfungsmaßstab für die Zumutbarkeit eines Umschulungsberufes allein die bisherige Berufstätigkeit. Der Wortlaut des Gesetzes weicht damit von dem in § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG ab (vgl. auch SozR Nr. 4 zu § 1236 RVO); es wird nicht ausdrücklich auch die Berücksichtigung von Dauer und Umfang der bisherigen Ausbildung verlangt. Nach der Meinung des Senats hat das einen guten Sinn. Eine ausdrückliche Rücksicht auf vorhandene Ausbildungen könnte Umschulungen verhindern, die heute wegen der höheren beruflichen Beweglichkeit aller Versicherten als zweckmäßig, wenn nicht als notwendig empfunden werden. Die Zumutbarkeit des Umschulungsberufes muß deshalb nicht nach den Zumutbarkeitskriterien für Verweisungstätigkeiten in § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG beurteilt werden. Dagegen spricht auch § 23 Abs. 2 Satz 3 AVG, wonach ein durch Berufsförderungsmaßnahmen erlernter Umschulungsberuf stets als Verweisungstätigkeit zumutbar ist; diese Vorschrift wäre für Umschulungen nach § 14 Abs. 3 Buchst. b AVG praktisch bedeutungslos, wenn die Zulässigkeit der Umschulung schon von den Zumutbarkeitskriterien des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG abhängig wäre.
Allerdings bezweckt auch das Zumutbarkeitserfordernis in § 14 Abs. 3 Buchst. b AVG, einen wesentlichen sozialen Abstieg des Versicherten zu verhindern. Die bisherige Berufstätigkeit und der Umschulungsberuf sind daher im sozialen Ansehen zu vergleichen. Hierbei sind die Auffassungen der beteiligten Berufskreise mit zu berücksichtigen; entscheidend kann aber letztlich nur das Gesamturteil der Versichertengemeinschaft sein. Das hat zur Folge, daß ein "Elite-Bewußtsein" einer Gruppe zurücktreten muß, zumal die gesetzliche Rentenversicherung keinen Berufsschutz für Berufsgruppen kennt.
Das Werturteil über einzelne Berufe kann durch verschiedene Faktoren beeinflußt werden, ua durch den Ausbildungsgang, die Berufsanforderungen, die erforderlichen Fähigkeiten und nicht zuletzt durch den erzielbaren Verdienst. Insoweit ist ein echter Vergleich hier nur beim Verdienst möglich, der nach den Feststellungen des LSG in beiden Berufen annähernd gleich hoch ist. Ausbildung, Berufsanforderungen und erforderliche Fähigkeiten sind dagegen in den Berufen der Chortänzerin und der kaufmännischen Angestellten ihrer Art nach schon so völlig verschieden, daß ein Vergleich praktisch entfällt. Die Verschiedenartigkeit allein führt aber noch nicht zu einem unterschiedlichen sozialen Werturteil. Das gilt auch für die Besonderheiten, die den Beruf der Chortänzerin kennzeichnen: der Ausbildungsbeginn schon im Kindesalter, das intensive körperliche Training sowie die Notwendigkeit der künstlerischen Begabung. Auch sie qualifizieren die Chortänzerin in der beruflichen Einschätzung nicht derart, daß sie sich im sozialen Ansehen über die kaufmännische Angestellte erhebt. Im übrigen könnte die Klägerin nicht vor jedem sozialen Absinken bewahrt werden; eine gewisse Einbuße in sozialer Hinsicht muß jeder Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung hinnehmen; ein wesentlicher sozialer Abstieg ist aber mit dem Berufswechsel von der Chortänzerin zur kaufmännischen Angestellten nicht verbunden.
Ein Hindernis für die Umschulung bedeutete auch nicht der Umstand, daß die Klägerin in einem Lebensalter stand, in dem bei Tänzerinnen allgemein ein "Leistungsknick" eintritt, der meist zur Berufsaufgabe zwingt, Die gesetzliche Rentenversicherung hat nicht die Aufgabe, vom Ende beruflicher Laufbahnen an Renten zu gewähren; sie geht vielmehr vom Regelfall eines bis zum 65. Lebensjahr reichenden Arbeitslebens aus und mutet dem Versicherten - wie auch die Definition der Berufsunfähigkeit in § 23 Abs. 2 AVG zeigt - bis dahin durchaus einen Berufswechsel zu. Die Umschulung nach § 14 Abs. 3 Buchst. b AVG dient gerade der Förderung dieses Wechsels; sie ist ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Bestrebens, der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben Vorrang vor der Rentenzahlung zu geben. Damit wäre es unvereinbar, wenn sich eine Berufsgruppe - und das schon im Lebensalter von 35 bis 40 Jahren und in einer Zeit, die ohnedies zu größerer beruflicher Beweglichkeit drängt - von einem Berufswechsel durch Umschulung ausschließen dürfte; eine solche generelle Ausnahme kann auch der Gruppe der Bühnenkünstler nicht zugestanden werden.
Als triftiger Grund läßt sich ferner nicht geltend machen, daß die Durchführung der vorgesehenen Umschulungsmaßnahmen nach § 14 Abs. 6 AVG überhaupt der Zustimmung der Klägerin bedurft habe. § 20 AVG läßt die Rentenversagung vielmehr auch dann zu, wenn die Zustimmung - ohne triftigen Grund - verweigert wird, zumal die Vorschrift sonst kaum eine praktische Bedeutung hätte. Die Vorschriften über die Rehabilitation dienen nicht nur den Interessen des Versicherten, sondern auch denen der Versichertengemeinschaft. Diese darf erwarten, daß jeder Versicherte alle ihm zumutbaren Möglichkeiten zur Sicherung seiner Erwerbsfähigkeit nutzt, bevor er von der Versichertengemeinschaft die Zahlung von Rente verlangt. Darin liegt kein Verstoß gegen Art. 12 GG. Dem Versicherten wird nicht die Freiheit der Berufswahl genommen, er muß nur - wegen seiner Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft der Versicherten - das Ausbleiben von Rentenzahlungen in Kauf nehmen. Die Besorgnis dieser Folge kann und soll zwar die Zustimmungsbereitschaft zu beruflichen Umschulungen mit beeinflussen; gleichwohl fehlt dem AVG insoweit jede berufsregelnde Tendenz; § 20 AVG hat allein sozial- und versicherungsrechtliche Gründe. § 14 Abs. 3 Buchst. b AVG ist auch nicht dahin zu verstehen, daß der Versicherungsträger immer nur im Einvernehmen mit dem Versicherten den Umschulungsberuf "auswählen" dürfe. Erst wenn mehrere Umschulungsberufe in gleicher Weise die Erwerbsfähigkeit wiederherstellen könnten, dürfte die Entscheidung des Versicherten für einen von ihnen den Versicherungsträger binden; die Klägerin hat jedoch nie zu erkennen gegeben, daß sie auf einen anderen Beruf als den der kaufmännischen Angestellten umgeschult werden möchte.
Nach den Feststellungen des LSG fehlten der Klägerin schließlich nicht die notwendigen geistigen und körperlichen Kräfte für eine erfolgreiche Umschulung. Die bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist vorsorglich erhobenen Verfahrensrügen (die späteren sind unbeachtlich), die die gesundheitlichen Bedenken der Klägerin gegen die Umschulung, möglicherweise aber auch gegen die spätere Ausübung des Umschulungsberufes, untermauern sollen, greifen nicht durch. Die Rüge einer unzureichenden Aufklärung von Leber- und Lungenerscheinungen ist nicht hinreichend substantiiert (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG); die Begründung dieser Rüge macht keine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG deutlich. Das LSG hat auch das Gutachten von Dr. H und dessen Schlußfolgerungen nicht übersehen; es hat das Gutachten im Tatbestand seines Urteils erwähnt und in den Entscheidungsgründen gewürdigt.
Das Vorbringen zur letzten Verfahrensrüge legt jedoch die Frage nahe, ob das LSG das Zusammentreffen von schulischen und familiären Pflichten während eines einjährigen Handelsschulbesuches genügend bedacht und rechtlich zutreffend gewürdigt hat. Die Klägerin hat auch aus familiären Gründen sich der Umschulung widersetzt. Insoweit steht fest, daß sie einen ehelichen Haushalt mit zwei Kindern zu betreuen hat, die im Zeitpunkt des ersten Versagungsbescheides sechs bzw. zehn Jahre alt und im Zeitpunkt des zweiten Versagungsbescheides ein Jahr älter waren (in den Akten ist dagegen mehrfach von einem sechsköpfigen Haushalt die Rede). Zu den schulischen Pflichten hat das LSG nur festgestellt, daß die tägliche Unterrichtszeit in der Handelsschule fünf Stunden betrug; hinzu kamen aber wahrscheinlich weitere Zeiten für den Hin- und Rückweg und für häusliche Übungen (die Klägerin spricht von 2 bis 3 Übungsstunden). Der bisher festgestellte Sachverhalt läßt offen, ob die Klägerin sich in zumutbarer Weise - etwa durch Mithilfe von Familienangehörigen - von familiären Pflichten entlasten konnte und wenn nicht, ob sie sowohl ihren familiären als auch ihren schulischen Pflichten ohne Vernachlässigung eines Pflichtenkreises nachkommen konnte. Wenn das LSG hierzu keine Feststellungen getroffen hat, so beruht das möglicherweise auf der Rechtsmeinung, daß familiäre Pflichten eines Versicherten einer Umschulung nur bedingt im Wege stehen dürften; hieraus erklärt es sich vielleicht, daß das LSG in einem Gutachtensauftrag vom 25. Juni 1968 bei der Frage, ob der Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes der einjährige Handelsschulbesuch zumutbar sei, den Sachverständigen darauf hingewiesen hat, daß "die familiären Verhältnisse der Klägerin (Versorgung von Kindern) unberücksichtigt bleiben" müßten. Das war offenbar auch die Auffassung der Beklagten; sie hatte sie nicht nur in den Veraltungsakten mehrfach vertreten, sondern auch dem SG ausdrücklich vorgetragen, daß "bei der Frage, ob eine Berufsunfähigkeit vorliegt oder Umschulungsmaßnahmen zweckmäßig sind, nicht die häuslichen Belastungen berücksichtigt werden können". Das ist zwar zutreffend, soweit es sich um die Berufsunfähigkeit handelt; nicht zustimmen kann der Senat jedoch der Meinung, daß auch bei einer Umschulung - wie überhaupt bei Berufsförderungsmaßnahmen bzw. allen Rehabilitationsmaßnahmen - die familiären Verhältnisse des Versicherten außer Betracht bleiben müßten. Dabei wird nämlich übersehen, daß es nicht um die Feststellung einer Umschulungsfähigkeit - entsprechend der Erwerbsfähigkeit in § 23 AVG - geht, sondern darum, ob ein Versicherter zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Maßnahme durchführen kann. Das läßt sich aber nur beantworten, wenn alle Verhältnisse dieses Versicherten berücksichtigt werden, die der Durchführung dieser Maßnahme zu dieser Zeit im Wege stehen können. Der Kreis der in Betracht zu ziehenden Hindernisse darf nicht von vornherein auf Krankheit, Gebrechen oder Kräfteschwäche wie bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit beschränkt werden.
Es bleibt daher noch zu klären, ob die Klägerin wegen des Zusammentreffens von schulischen mit familiären Pflichten einen triftigen Grund hatte, einen einjährigen Handelsschulbesuch 1963 bzw. 1964 abzulehnen. Hierzu bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen, die der Senat als Revisionsgericht nicht treffen kann. Der Rechtsstreit muß deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils an das LSG zu neuer Entscheidung zurückverwiesen werden.
Sollte das LSG wiederum einen triftigen Grund verneinen, müßte es wohl erneut die Klage gegen die Versagungsbescheide abweisen. Bei Erfüllung der Versagungsvoraussetzungen des § 20 Abs. 2 AVG stand es zwar im Ermessen der Beklagten, ob, in welchem Umfang und für welche Zeit sie von der Versagungsbefugnis Gebrauch machen wollte. Die Beklagte hat, obgleich das im allgemeinen erforderlich ist, ihre für diese Ermessensentscheidung maßgebenden Erwägungen nicht mitgeteilt; auch das LSG ist im angefochtenen Urteil darauf nicht eingegangen. Es ist jedoch zu bedenken, daß hier kaum greifbare Anhaltspunkte für eine andere Ermessensausübung gegeben waren; jedenfalls läßt sich ein Ermessensfehler nach dem bisher festgestellten Sachverhalt nicht erkennen. Ebensowenig wäre zu beanstanden, daß die Beklagte mehr als einmal von der Befugnis zur Rentenversagung Gebrauch gemacht hat. § 20 Abs. 2 AVG läßt zwar nur eine Versagung auf Zeit zu; damit ist aber nicht eine mehrmalige Versagung auf Zeit ausgeschlossen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Revisionsverfahren bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen