Orientierungssatz

Während der Zeit der Vorbereitung auf die beiden Verwaltungsprüfungen für den mittleren und gehobenen Dienst (hier: für Dienstordnungs-Angestellte) besteht kein Anspruch auf Waisenrente, wenn die Ausbildung sich im Rahmen einer Berufstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt der Waise sichert (hier: Vergütung nach Bundesangestellten-Tarif).

 

Normenkette

RVO § 1267 Fassung: 1965-06-09; BAT

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 31. März 1971 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger nach der Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente wegen Berufsausbildung aus der Arbeiterrentenversicherung zusteht (§ 1267 Satz 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der im November 1940 geborene Kläger durchlief vom April 1958 bis Dezember 1960 bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Delmenhorst eine Lehre zum Verwaltungsangestellten. Anschließend bereitete er sich für den mittleren Dienst und danach für den gehobenen Dienst als Dienstordnungsangestellter (DO-Angestellter) vor. Während der Vorbereitungszeit für den mittleren Dienst hatte der Kläger vom Juli 1961 bis zum Dezember 1962 den Grundwehrdienst in der Bundeswehr geleistet. Im Juni 1967 legte der Kläger die zweite Verwaltungsprüfung ab. Am 1. Dezember 1967 wurde er zum Verwaltungsinspektor ernannt. Während der Vorbereitungszeiten hatte der Kläger Angestelltengehalt nach dem Bundesangestelltentarif (BAT) bezogen, und zwar vom Januar 1961 bis Juni 1961 nach Gruppe IX, vom Januar 1963 bis Dezember 1964 nach Gruppe VII, vom Januar 1965 bis April 1967 nach Gruppe VI b und danach bis November 1967 nach Gruppe V c. Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1953 bis zum Abschluß der Lehre am 31. Dezember 1960 Waisenrente aus der Versicherung seiner verstorbenen Mutter (Bescheide vom 25. März und 10. Dezember 1968).

Mit der Klage begehrt der Kläger Waisenrente für die Zeiten der Vorbereitung zum mittleren und gehobenen Dienst. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31. März 1971). Zur Begründung hat es ausgeführt, Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO wegen Berufsausbildung stünde nur solchen Waisen zu, die infolge der Ausbildung daran gehindert seien, sich selbst den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Kläger habe jedoch die seinem Ausbildungsstand entsprechende volle Vergütung eines Berufstätigen erhalten, die seinen Unterhalt sichergestellt habe.

Der Kläger hat mit Einverständnis der Beklagten an Stelle der von SG zugelassenen Berufung Sprungrevision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO durch das SG.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie die Bescheide der Beklagten vom 25. März und 10. Dezember 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, für die Zeit vom 1. Januar 1961 bis 30. Juni 1961 und vom 1. Januar 1963 bis 31. Mai 1967 Waisenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II

Die frist- und formgerecht erhobene und nach § 161 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Sprungrevision ist nicht begründet.

Das SG hat einen Anspruch des Klägers auf Waisenrente wegen Berufsausbildung i.S. von § 1267 Satz 2 RVO mit zutreffenden Gründen für den streitbefangenen Zeitraum verneint. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits mit Urteil vom 26. Juli 1963 (BSG 19, 252) entschieden, daß ein nach Abschluß der Lehrzeit von einer AOK tarifmäßig beschäftigter Angestellter, der sich - wie hier der Kläger - der A- und B-Prüfung für den Krankenkassenverwaltungsdienst unterzieht und nach Vollendung des 27. Lebensjahres als Inspektor dienstordnungsmäßig angestellt wird, nach Abschluß der Lehrzeit nicht mehr in einer Berufsausbildung steht. In der für den Bereich der Unfallversicherung ergangenen Entscheidung wird dies - unter Übernahme der vom BSG zu § 1267 Satz 2 RVO ausgesprochenen Grundsätze - damit begründet, daß vom Abschluß der Verwaltungslehre bis zur Anstellung als Inspektor jahrelang nahezu ausschließlich eine selbstverantwortliche Tätigkeit als Tarifangestellter ausgeübt und hierfür ein entsprechendes Gehalt bezogen worden ist, das geeignet war, den Lebensunterhalt des Angestellten sicherzustellen. Wenngleich im vorliegenden Fall Art und Inhalt der Beschäftigung des Klägers während der Vorbereitungszeit vom SG nicht näher aufgeklärt worden ist, hat sich die Ausbildung des Klägers jedenfalls im Rahmen einer entgeltlichen Berufstätigkeit vollzogen, die - wie auch die Revision einräumt - den vollen Unterhalt des Klägers gewährleistet hat.

Ein Anspruch auf Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus besteht nach § 1267 Satz 2 RVO aber nur dann, wenn die Waise infolge ihrer Ausbildung daran gehindert ist, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Einschränkung folgt aus dem allgemeinen sozialpolitischen Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz und aus dem Vergleich mit den anderen Alternativen in § 1267 Satz 2 RVO (freiwilliges soziales Jahr, Erwerbsunfähigkeit wegen Gebrechen). Danach soll die Regelung einer zeitlich verlängerten Waisenrente nur diejenigen Fälle erfassen, in denen ein Kind - anders als im angenommenen Regelfall des § 1267 Satz 1 RVO - auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen wäre, weil es sich nicht selbst durch Erwerbstätigkeit - und zwar aus den im Gesetz angeführten Gründen - unterhalten kann (vgl. BSG 21, 185, 187). Die Gewährung der Waisenrente infolge Gebrechlichkeit wird in § 1267 Satz 2 RVO auch ausdrücklich an die Voraussetzung geknüpft, daß die Waise außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Dies gilt jedoch auch für die Waisenrente wegen Berufsausbildung. Andernfalls würde das Gesetz die Einkünfte aus eigener Tätigkeit unterschiedlich bewerten, je nach dem, ob die Waise in Berufsausbildung steht oder gebrechlich ist. Für eine solche unterschiedliche Regelung ist indes ein rechtfertigender Grund nicht zu erkennen. Es besteht daher auch kein Anhalt dafür, daß die Waisenrente wegen Berufsausbildung von minderen Voraussetzungen abhängen soll als die Waisenrente infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen. Dementsprechend hat das BSG eine Berufsausbildung i.S. von § 1267 Satz 2 RVO jedenfalls dann nicht mehr angenommen, wenn das Kind während der Ausbildung bereits volle Dienstbezüge oder volles Gehalt erhält (vgl. BSG in SozR Nr. 15, 31 und 44 zu § 1267 RVO; BSG 25, 289, 290 und BSG in Mitt. Bundeskn. 1970, 112).

Im vorliegenden Fall kann nichts anderes gelten. Der Kläger hat während seiner Ausbildung zum Verwaltungsinspektor nicht nur - wie er meint - einen Unterhaltszuschuß, sondern die volle Vergütung eines berufstätigen Verwaltungsangestellten erhalten. Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des SG ist der Kläger im streitbefangenen Zeitraum von seinem Arbeitgeber sogar mehrmals in jeweils höhere Vergütungsgruppen nach dem Bundesangestelltentarif eingestuft worden. Mit diesem seinem jeweiligen Ausbildungsstand entsprechenden Gehalt konnte der Kläger die Kosten seines Lebensunterhalts ebenso bestreiten, wie andere Angestellte, die nach den jeweils gleichen Vergütungsgruppen zu entlohnen waren. Ob im Falle der Zahlung eines bloßen (echten) Unterhaltszuschusses, der den vollen Unterhalt der Waise gerade nicht sichern kann, anders zu entscheiden wäre (vgl. hierzu BSG 9, 196; 25, 276, 278) kann hier dahinstehen.

Schließlich steht dem Kläger die Waisenrente im streitigen Zeitraum auch nicht deshalb zu, weil - wie die Revision vorträgt - der Tod der Versicherten ihn daran gehindert habe, Arzt zu werden. Es mag zutreffen, daß die Berufswahl des Klägers durch den Tod seiner Mutter beeinflußt worden ist. Waisenrente kann nach § 1267 Satz 2 RVO aber nur für eine Ausbildung gewährt werden, welche die Waise nach dem Tode des Versicherten aufnimmt oder fortsetzt, nicht aber für eine Ausbildung, die wegen des Todes des Versicherten unterblieben ist.

Nach alledem erweist sich die Sprungrevision des Klägers als unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669924

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