Leitsatz (amtlich)
Bei der Bemessung des Unterhalts der geschiedenen Frau sind bei der Scheidung bereits voraussehbare, mit gewisser Sicherheit eintretende Einkommensveränderung (Verbesserungen und Verschlechterungen) mit zu berücksichtigen. Umstände wie der Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes in mehr als 8 Jahren und der Empfang des Altersruhegeldes nach RVO § 1248 Abs 1 in mehr als 5 Jahren gehören nicht dazu.
Normenkette
EheG § 58 Abs. 1 Fassung: 1946-02-20, § 59 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1946-02-20; RVO § 1248 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1265 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1971 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin aus der Rentenversicherung ihres am 11. Januar 1969 verstorbenen früheren Ehemannes Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten, aus der die am 8. Juni 1947 geborene Tochter M hervorgegangen ist, wurde am 6. April 1960 rechtskräftig aus Verschulden des Versicherten geschieden. Die Klägerin und der Versicherte sind keine weiteren Ehen eingegangen.
Der Versicherte verdiente im Jahre 1959 während 11 Monaten 4.422,83 DM brutto und im Jahre 1960 während 12 Monaten 3.941,14 DM brutto. Vom 1. Mai 1965 an bezog er Altersruhegeld von zuletzt 577,90 DM monatlich. Die Klägerin bezog seit dem 1. November 1951 Invalidenrente, die im Zeitpunkt der Ehescheidung 99,10 DM betrug und sich bis 1969 auf 168,50 DM monatlich erhöhte. Das Sozialamt der Stadt F gewährte der Klägerin eine Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 77,30 DM; dieser Betrag errechnete sich auf der Grundlage eines Gesamtbedarfs der Klägerin von 245,80 DM abzüglich des anzurechnenden Renteneinkommens in Höhe von 169,50 DM. Wegen dieser zum Lebensunterhalt der Klägerin gezahlten Hilfe des Sozialamts erklärte sich der Versicherte am 24. Januar 1968 bereit, monatlich 20,- DM an das Sozialamt zu zahlen; der Versicherte tat dies bis zu seinem Tode.
Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin die Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO zu gewähren, weil eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber der Klägerin aufgrund ihrer eigenen Einkommensverhältnisse nicht bestanden habe und der vom Versicherten an das Sozialamt gezahlte Betrag von 20,- DM monatlich zu gering sei, um als Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO gelten zu können (Bescheid vom 11. November 1969).
Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg (Urteile vom 16. Oktober 1970 und 19. Oktober 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1265 RVO und des § 58 des Ehegesetzes (EheG).
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1971 und des Sozialgerichts Frankfurt vom 16. Oktober 1970 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. November 1969 abzuweisen.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Das LSG ist bei seiner Entscheidung, mit der es der Klägerin als geschiedener Frau einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO zuerkannt hat, von § 58 EheG ausgegangen. Es hat u. a. ausgeführt, der Unterhaltsanspruch der Klägerin bemesse sich nach dem Lebenszuschnitt der Ehegatten zur Zeit der Scheidung. Zu dieser Zeit sei der angemessene Unterhalt der Klägerin niedriger gewesen als ihr Anspruch auf Unterhalt zur Zeit des Todes des Versicherten (11. Januar 1969), da sich dessen Einkommensverhältnisse voraussehbar besser als die der Klägerin entwickelt hätten; bei der Scheidung voraussehbare Einkommensverbesserungen seien bei der Bemessung des Unterhalts zu beachten. Mit Sicherheit sei bei der Scheidung (6. April 1960) voraussehbar gewesen, daß die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber seiner damals dreizehnjährigen Tochter spätestens wegfallen werde, wenn sie am 8. Juni 1968 ihr 21. Lebensjahr vollenden werde. Zum anderen sei voraussehbar gewesen, daß der Versicherte vom Zeitpunkt der Gewährung des Altersruhegeldes an ein gleichmäßigeres und insbesondere wegen seiner bisher zur Rentenversicherung geleisteten Beiträge und der zu erwartenden allgemeinen regelmäßigen Rentenerhöhung ein höheres Einkommen, als während der letzten Jahre seiner Erwerbstätigkeit haben werde. Das LSG hat daraus den Schluß gezogen, der Berechnung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten seien nicht die Verhältnisse im Zeitpunkt der Scheidung, sondern diejenigen des Todes des Versicherten zugrunde zu legen.
Diese Feststellungen des Berufungsgerichts halten einer Überprüfung nicht stand. Schon zu dem zunächst zu prüfenden gesetzlichen Erfordernis "zur Zeit seines Todes" der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO, das in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als "letzter wirtschaftlicher Dauerzustand" verstanden wird (BSG 14, 255 = SozR Nr. 8 zu § 1265 RVO; Nr. 9, 15, 22, 46 zu § 1265 RVO), hat das LSG ausdrücklich nichts festgestellt, insbesondere fehlt eine genaue zeitliche Begrenzung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes. Freilich mag das, was das LSG zur Berechnung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin ausführt (Seite 6 des angefochtenen Urteils) - es nennt hier das Altersruhegeld des Versicherten in Höhe von 577,90 DM monatlich, ferner die Versichertenrente der Klägerin von 168,50 DM monatlich - dafür sprechen, daß als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand die Zeit gelten soll, in der die geschiedenen Eheleute vor dem Tode des Versicherten die genannten Renten bezogen haben. Das LSG wird seiner neuen Entscheidung in dieser Hinsicht klare Feststellungen zugrunde legen müssen.
Daß das Berufungsgericht § 58 Abs. 1 EheG zum Ausgangspunkt seiner Erwägungen gemacht hat, ist nicht zu beanstanden. Nach dieser Vorschrift hat u. a. der allein für schuldig erklärte Mann - hier der Versicherte - der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Die Lebensverhältnisse der Ehegatten richten sich nach Stand und Beruf sowie nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen beider Parteien zur Zeit der Scheidung (Palandt/Lauterbach, 31. Auflage, § 58 Anm. 3; Hoffmann/Stephan, Ehegesetz, 2. Auflage 1968, § 58 Anm. 30 bis 32, 34; Wüstenberg/Koeniger in BGB/RGRK, 10./11. Auflage 1968, § 58 EheG Anm. 31; BSG SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO). Bei der Bemessung des Unterhalts der geschiedenen Frau sind bei der Scheidung bereits voraussehbare Einkommensveränderungen, also sowohl -verbesserungen als auch -verschlechterungen mit zu berücksichtigen (Wüstenberg/Koeniger, aaO, § 58 Anm. 33; Hoffmann/Stephan, aaO, § 58 Anm. 32). Damit sind jedoch nur solche Veränderungen in der Einkommens- und Vermögenslage gemeint, die mit gewisser Sicherheit eintreten werden, z. B. eine anstehende Gehaltserhöhung oder sonstige Steigerung des Einkommens einerseits oder eine bevorstehende Gehaltseinbuße wegen beamtenrechtlicher Pensionierung andererseits (RGZ 75, 127; RG Warn-RSpr. 1912 Nr. 265; RG DJ 1942, 627). Bei dieser am Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit orientierten Auslegung wird vermieden, den von der Veränderung betroffenen geschiedenen Ehegatten alsbald nach der Scheidung auf eine Änderungsklage gemäß § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu verweisen, mit deren Hilfe regelmäßig auf wesentliche Änderungen in den Verhältnissen hin eine Änderung in der Bemessung des Unterhalts in einem Urteil oder einem gerichtlichen Vergleich herbeigeführt werden kann. Nicht gemeint sind aber, was das LSG verkennt, solche Tatbestände, die zwar zeitlich bestimmbar sind, die aber noch in so weiter Ferne liegen, daß wegen der zwischenzeitlich vielfältig möglichen Ereignisse im Zeitpunkt der Scheidung nicht mit Sicherheit vorauszusehen ist, ob der jeweils gemeinte Tatbestand tatsächlich eintreten wird. Sollte dies der Fall sein, wäre allein Anlaß für eine Änderungsklage nach § 323 ZPO gegeben.
Indem das LSG schlechterdings jedes zukünftige, zeitlich im voraus festlegbare Ereignis als sicher voraussehbar den Lebensverhältnissen der Ehegatten zur Zeit der Scheidung zugerechnet hat, hat es den Kreis der insoweit zu berücksichtigenden zukünftigen Tatbestände zu sehr ausgeweitet. Daher sind sowohl der Eintritt der Volljährigkeit der Tochter der geschiedenen Eheleute als auch der Bezug des späteren Altersruhegeldes keine Sachverhalte, die die Bemessung des Unterhalts der Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung beeinflussen konnten. Abgesehen davon, daß im Zeitpunkt der Scheidung nicht mit gewisser Sicherheit voraussehbar gewesen ist, daß die Tochter das 21. Lebensjahr erreichen werde, lagen doch zwischen der Scheidung (6. April 1960) und dem Eintritt der Volljährigkeit (8. Juni 1968) mehr als 8 Jahre, war es auch denkbar, daß zwar die Unterhaltspflicht des Versicherten wegen der eigenen günstigen Einkommens- und Vermögenslage der Tochter entfallen war, durch einen unvorhergesehenen Umstand wie Krankheit oder Unfall aber erneut entstanden wäre. Im Zeitpunkt der Scheidung ließ sich ebensowenig mit gewisser Sicherheit sagen, daß der Versicherte einmal das Altersruhegeld erhalten würde, weil die Gewährung des Altersruhegeldes (§ 1248 Abs. 1 RVO) u. a. voraussetzt, daß der Versicherte das 65. Lebensjahr - hier der 11. Mai 1965 - vollendet hat, was im Zeitpunkt der Scheidung erst nach mehr als 5 Jahren der Fall sein konnte. Über die Höhe des erst in mehr als 5 Jahren zu erwartenden Altersruhegeldes konnte eine auch nur einigermaßen gesicherte Zukunftsberechnung im Zeitpunkt der Scheidung nicht aufgestellt werden.
Indes ist dem Unterhaltsanspruch der Klägerin für den Zeitpunkt der Scheidung nicht nur § 58 Abs. 1 EheG zugrunde zu legen. Nach § 58 EheG sind die Verhältnisse der Ehegatten untereinander zu berücksichtigen, nach § 59 Abs. 1 Satz 2 EheG aber auch der Kindesunterhalt. Das LSG hat nicht berücksichtigt, daß § 59 EheG die Vorschrift des § 58 EheG allgemein ergänzt, wenn außer der Unterhaltspflicht gegenüber dem geschiedenen Gatten noch sonstige Verpflichtungen bestehen, die zusammen den eigenen angemessenen Unterhalt des Unterhaltspflichtigen gefährden (vgl. Hoffmann/Stephan, aaO., § 59 Anm. 3, 26 bis 33). Zu dieser Rechtslage fehlen Feststellungen.
Da maßgebliche Feststellungen fehlen, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Daher ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Es wird vor seiner neuen Entscheidung klare Feststellungen zu dem letzten wirtschaftlichen Dauerzustand, zur Bemessung des Unterhalts zur Zeit der Scheidung und über die Höhe der damaligen Nettoeinkünfte der Eheleute treffen müssen. Abgesehen davon, daß sich hierzu zunächst die eingehende Anhörung der Klägerin und die Beiziehung der Akten des Ehescheidungsverfahrens, möglicherweise auch des Vormundschaftsgerichts und des Sozialamtes anbieten, wird es sein Augenmerk auch darauf zu richten haben, ob der Versicherte oder die Klägerin Nebenverdienste gehabt haben, inwiefern die Beklagte in ihrem Bescheid vom 11. November 1969 (S. 2) von einem monatlichen Verdienst des Versicherten zur Zeit der Scheidung in Höhe von 291,- DM ausgehen konnte und wie der Lebenszuschnitt der Eheleute zur Zeit der Scheidung im einzelnen gewesen ist. Wenn das Berufungsgericht auf solche Weise den Unterhalt der Klägerin zur Zeit der Scheidung bemessen hat, wird es unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die am 8. Juni 1968 volljährig gewordene Tochter wegen eigener ausreichender Erwerbstätigkeit zu einem noch zu ermittelnden Zeitpunkt nicht mehr unterhaltsbedürftig gewesen ist und insofern die Unterhaltspflicht des Versicherten davon betroffen sein kann, und unter weiterer Berücksichtigung der in der Zeit von der Scheidung bis zum Tode des Versicherten allgemein gestiegenen Lebenshaltungskosten den Unterhaltsanspruch der Klägerin im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand feststellen müssen (vgl. BSG SozR Nr. 16, 47 zu § 1265 RVO). Ernst dann wird sich die Frage beantworten lassen, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO zusteht.
Sollte die Überprüfung ergeben, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes nicht verpflichtet war, der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten, wird das LSG prüfen müssen, ob - ein Anspruch nach der 2. oder 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO scheidet nach der Sachlage ohnehin aus - der Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO begründet ist (vgl. BSG SozR Nr. 50 zu § 1265 RVO).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen