Entscheidungsstichwort (Thema)
Umgestaltung des Altersruhegeldes
Leitsatz (amtlich)
1. Die nach AVG § 25 Abs 6 (= RVO § 1248 Abs 6) mögliche Bestimmung, daß ein späterer Zeitpunkt als das im Gesetz genannte Lebensalter für die Erfüllung der Voraussetzungen des Altersruhegeldes maßgebend sein soll, ist eine einseitige Willenserklärung, die der Versicherte dem Versicherungsträger gegenüber abgibt und mit dieser Abgabe ihre Wirkungen entfaltet; sie kann noch nach dem Erlaß des Bescheides über das Altersruhegeld bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides getroffen werden (Anschluß an BSG 1974-05-22 12 RJ 8/74 = BSGE 37, 257).
2. Hat der Versicherte im Verfahren vor den Tatsacheninstanzen eine solche Bestimmung getroffen, so dürfen die Gerichte die Auswirkungen der Bestimmung nicht einer besonderen Bescheiderteilung des Versicherungsträger zuweisen; ein angefochtener ursprünglich rechtmäßiger Bescheid kann infolge der Bestimmung rechtswidrig werden.
3. Die Bestimmung nach AVG § 25 Abs 6 kann mit dem Vorbehalt bestimmter dadurch eintretender Rechtsfolgen verbunden werden.
4. Zur Frage, ob eine Bestimmung nach AVG § 25 Abs 6 bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Rentenbescheides frei abänderbar ist.
Leitsatz (redaktionell)
Das Bestimmungsrecht nach AVG § 25 Abs 6 gibt dem Versicherten die Möglichkeit, Anspruchsnormen für seinen Fall im Tatbestand umzustellen. Deshalb kann ein ursprünglich rechtmäßiger Altersruhegeldbescheid durch eine spätere Bestimmung nach AVG § 23 Abs 6, die noch im sozialgerichtlichen Verfahren vorgenommen werden darf, rechtswidrig werden.
Normenkette
AVG § 25 Abs. 6 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1248 Abs. 6 Fassung: 1972-10-16; BGB § 119 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. März 1977 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist, ob beim Altersruhegeld des Klägers gem Art 2 §§ 9a Abs 2 und 13a Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) Ersatz- und Ausfallzeiten nach Aufgabe einer selbständigen Erwerbstätigkeit anzurechnen sind.
Der 1895 geborene Kläger war seit 1948 selbständiger Edelsteinkaufmann. Im April 1973 beantragte er seine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und eine Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG. Er beantragte weiter im Juni 1973 die Gewährung von Altersruhegeld und entrichtete im November 1973 Beiträge für die Zeiten von Januar 1956 bis November 1972 und für April 1973. Im Dezember 1973 wandelte er sein Handelsgeschäft in eine Kommanditgesellschaft (KG) um, in die seine Söhne als Komplementäre und er selbst als Kommanditist mit Prokura eintraten. Am 22. April 1974 bewilligte ihm die Beklagte Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab Mai 1973; sie nahm dabei den Eintritt des Versicherungsfalles zum 30. April 1973 an.
Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Beklagte habe bei der Rentenberechnung zu Unrecht Ersatzzeiten von August 1914 bis Dezember 1918 und November 1940 bis April 1946 sowie eine Ausfallzeit von Juni 1911 bis April 1913 nicht berücksichtigt; er hat vor dem Sozialgericht (SG) laut dessen Niederschrift vom 8. September 1976 beantragt: "1. den Bescheid der Beklagten vom 22. April 1974 abzuändern, 2. das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der geltend gemachten Ersatz- und Ausfallzeiten ab 1. Januar 1974 durchzuführen, 3. die Beklagte zu verurteilen, die Aufgabe der Selbständigkeit auf den 31. Dezember 1973 festzusetzen". Das SG hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger seine selbständige Erwerbstätigkeit nicht bis zum April 1973 aufgegeben und auch nicht den Nachweis einer Aufgabe bis zum 1. Januar 1974 erbracht habe.
Der Kläger legte Berufung ein und beantragte laut der Sitzungsniederschrift des Landessozialgerichts (LSG), das Urteil des SG "sowie den Bescheid vom 22. April 1974 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Ersatzzeiten sowie die Ausfallzeit bei dem Altersruhegeld rentensteigernd zu berücksichtigen". Das LSG wies die Berufung zurück. Als Streitgegenstand sah es das Begehren an, das Altersruhegeld ab dem Rentenbeginn vom 1. Mai 1973 neu festzustellen. Erklärungen des Klägers, daß er nur Altersruhegeld ab 1. Januar 1974 begehre, enthielten keine Klagerücknahme und keine Berufungsbeschränkung. In der Sache hielt das LSG die Voraussetzungen des Art 2 §§ 9a Abs 2, 13a AnVNG nicht für erfüllt, weil der Kläger nicht, wie es diese Vorschriften verlangten, seine selbständige Erwerbstätigkeit vor Eintritt des Versicherungsfalles aufgegeben habe; dabei könne offen bleiben, ob der Versicherungsfall am 30. April oder erst mit dem Eingang der nachentrichteten Beiträge am 13. November 1973 eingetreten sei. Ebensowenig aber - fuhr das LSG fort - könne der Kläger mit der vorliegenden Klage "sein eigentliches Ziel erreichen, den Versicherungsfall auf den 31. Dezember 1973 zu verschieben". Streitbefangen sei lediglich der Rentenbescheid vom 22. April 1974. Solange die Beklagte den Antrag auf Verschiebung des Versicherungsfalles nicht beschieden habe, sei es dem Gericht verwehrt, über diesen völlig anderen Sachverhalt zu urteilen. Dieser Umstand hindere allerdings auch nicht, bereits jetzt über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. April 1974 zu entscheiden; dem Kläger entstehe dadurch kein Nachteil, weil er rechtzeitig, "spätestens in der mündlichen Verhandlung vom 8. September 1976 bereits ausdrücklich die Verschiebung des Versicherungsfalles beantragt hat, falls diese Regelung für ihn durch die Möglichkeit der Anrechnung seiner Ersatz- und Ausfallzeiten günstiger ist".
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
den Bescheid der Beklagten vom 22. April 1974 und die Urteile der Vorinstanzen abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die streitigen Zeiten beim Altersruhegeld rentensteigernd zu berücksichtigen.
Er macht geltend, daß er im Streitverfahren die Verlegung des Versicherungsfalles auf den 31. Dezember 1973 begehrt habe. Mit der Umwandlung seines Handelsgeschäftes in eine KG im Dezember 1973 habe er sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen und sei nicht mehr selbständig erwerbstätig. Das LSG habe es zu Unrecht unterlassen, dies aufzuklären und seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Im Verlauf des Revisionsverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 16. August 1977 dem "Antrag, den Versicherungsfall auf den 31. Dezember 1973 zu verlegen, entsprochen"; sie hat das Altersruhegeld neu festgestellt und den Rentenbeginn auf den 1. Januar 1974 festgesetzt. Die Anrechnung der streitigen Zeiten hat sie dabei erneut abgelehnt, weil der Kläger auch nach dem 31. Dezember 1973 noch als Kommanditist mit einer Einlage von 50.000,- DM an der KG beteiligt sei. Sie hat den Kläger zugleich aufgefordert, für Mai bis Dezember 1973 die Rentenbeträge zurückzuzahlen und Pflichtbeiträge zu entrichten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Kläger hat eine miteinander verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage erhoben. Dabei geht er, wie sein Vorbringen verdeutlicht, davon aus, daß er durch die gewünschte "Verlegung des Versicherungsfalles" eine höhere Rente für Bezugszeiten ab dem 1. Januar 1974 erreichen könnte, aber für die vorhergehende Zeit den Fortfall von Rentenbezügen in Kauf nehmen muß. Diese Anfechtungs- und Leistungsklage - und damit die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. April 1974 hinsichtlich des Beginns und der Höhe der Rente - ist allein Gegenstand des Revisionsverfahrens; der während des Revisionsverfahrens erteilte neue Bescheid vom 16. August 1977 ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens geworden (§ 171 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Bei seinem Urteil hat das LSG verkannt, daß eine Entscheidung über die erhobene Klage eine klare Feststellung hinsichtlich der Erklärungen des Klägers zur "Verlegung des Versicherungsfalles" voraussetzt. Der Kläger erhält Altersruhegeld nach § 25 Abs 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Nach § 25 Abs 6 kann der Versicherte bestimmen, daß ein späterer Zeitpunkt als das in Abs 5 genannte Lebensalter für die Erfüllung der Voraussetzungen maßgebend sein soll. Das bedeutet, daß der Versicherte die Anspruchsnorm des § 25 Abs 5 AVG für seinen Fall im Tatbestand verändern (umgestalten) kann. Der Versicherte kann das Tatbestandsmerkmal der Vollendung des 65. Lebensjahres in § 25 Abs 5 AVG durch einen späteren Zeitpunkt ersetzen. Damit kann er zugleich festlegen, daß der spätere Zeitpunkt außerdem für die Erfüllung der anderen Anspruchsvoraussetzungen des Altersruhegeldes maßgebend ist, sofern das Gesetz deren Erfüllung an sich mit der Vollendung des 65. Lebensjahres verlangt. Der Bestimmung kommt aber auch Wirkung außerhalb der in § 25 AVG genannten Anspruchsvoraussetzungen des Altersruhegeldes zu. Das LSG hat Art 2 § 9a Abs 2 AnVNG zu Recht dahin verstanden, daß die im Gesetzeswortlaut ohne Festlegung des maßgebenden Zeitpunktes geforderte Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit vor dem Eintritt des Versicherungsfalles erfolgt sein muß; ohne entgegenstehende Bestimmung des Versicherten wäre für den Anspruch auf Altersruhegeld nach § 25 Abs 5 AVG Versicherungsfall der Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres; insoweit kann der Versicherte durch abweichende Bestimmung nach § 25 Abs 6 AVG den Versicherungsfall "verlegen" oder "verschieben" mit der Folge, daß sich dies auch auf Berechnungsvorschriften des Altersruhegeldes auswirkt.
Der erkennende Senat schließt sich dabei der vom 12. Senat in BSGE 37, 257 vertretenen Auffassung an, daß eine Bestimmung nach § 25 Abs 6 AVG noch nach dem Erlaß des Bescheides über das Altersruhegeld bis zu dem Eintritt der Bindungswirkung dieses Bescheides getroffen werden kann. Hat freilich der Versicherte einen nach der Vollendung des 65. Lebensjahres liegenden Zeitpunkt wirksam als den Zeitpunkt bestimmt, der beim Altersruhegeld in seinem Falle maßgebend sein soll, dann sind die für die Beurteilung des erhobenen Anspruchs in Betracht kommenden Normen mit dieser Modifikation und nur mit ihr anwendbar. Es ist demnach nicht zulässig, wie es das LSG getan hat, die Auswirkungen der Bestimmung einer besonderen Bescheiderteilung des Versicherungsträgers zuzuweisen, und die Rechtmäßigkeit des bereits erteilten Bescheides weiterhin nach der Sach- und Rechtslage vor der Bestimmung zu beurteilen; auch ein ursprünglich rechtmäßiger Bescheid kann nämlich, wenn der Versicherte rechtzeitig später eine Bestimmung nach § 25 Abs 6 AVG trifft, rechtswidrig werden.
Das an diesem Rechtsfehler leidende Urteil läßt sich vom Senat nicht aus anderen Gründen bestätigen; der Senat kann nicht aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen abschließend in der Sache entscheiden.
Dem Urteil des LSG kann nämlich schon nicht mit der erforderlichen Klarheit (vgl BSGE aaO S 259) entnommen werden, ob der Versicherte - was festzustellen Sache der Tatsacheninstanzen ist - den 31. Dezember 1973 als den für das Altersruhegeld in seinem Falle maßgebenden Zeitpunkt bestimmt hat und wenn ja, ob dies mit oder ohne Vorbehalt geschehen ist. Das LSG spricht lediglich von einem "Antrag" auf Verschiebung des Versicherungsfalles (der erwähnte "ausdrückliche Antrag" in der Verhandlung vom 8. September 1976 findet sich in der dortigen Niederschrift nicht); dem scheint die Vorstellung einer erst von der Beklagten zu bewirkenden Rechtsfolge zugrunde zu liegen. Die Bestimmung nach § 25 Abs 6 AVG ist jedoch kein "Antrag", dem der Versicherungsträger gegebenenfalls zu "entsprechen" hätte; sie ist, wie der 12. Senat klargestellt hat, eine einseitige Willenserklärung, die der Versicherte dem Versicherungsträger gegenüber abgibt und allein mit dieser Abgabe ihre Wirkungen entfaltet. Das schließt nicht aus, in Antragsform gekleidete Erklärungen des Versicherten, wenn dies von ihm wirklich so gewollt ist, als eine Bestimmung iS des § 25 Abs 6 AVG zu deuten; das Urteil des LSG läßt jedoch nicht erkennen, daß es den "Antrag" des Versicherten tatsächlich so gedeutet hat bzw hat deuten wollen, zumal es eine Entscheidung des Versicherungsträgers über den "Antrag" für erforderlich hielt. Mindestens bleibt offen, ob eine angenommene Bestimmung einen Vorbehalt einschloß, etwa dahingehend, daß sie nur gelte, wenn sie die gewünschte Rentenerhöhung zur Folge habe.
Unter diesen Umständen ist der Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das nach der Zurückverweisung zusätzlich den im Revisionsverfahren ergangenen Bescheid vom 16. August 1977 als Gegenstand seines Verfahrens zu behandeln hat (vgl BSG 9, 78, 79). Das LSG wird dabei zunächst festzustellen haben, ob der Kläger eine Bestimmung nach § 25 Abs 6 getroffen hat, wenn ja, mit welchem Inhalt, oder ob er sie nun trifft. Die Beklagte hat ursprünglich wohl eine auf den 30. April 1973 gerichtete Bestimmung des Versicherten unterstellt, da sie sonst den Eintritt des Versicherungsfalles nicht für diesen Tag hätte annehmen können, der beim Kläger lange nach dem in § 25 Abs 5 AVG genannten Tatbestandsmerkmal der Vollendung des 65. Lebensjahres liegt. Hätte der Kläger tatsächlich eine solche Bestimmung früher getroffen, wäre möglicherweise zu fragen, ob er sie bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Rentenbescheides noch ändern dürfte. Der 12. Senat will die Änderung nur bei Anfechtbarkeit der früheren Bestimmung nach den §§ 119 ff BGB zugestehen (BSGE aaO S 260). Demgegenüber finden sich in der Literatur Stimmen für eine freie Abänderbarkeit (Verbandskomm., 15. Ergänzung, Anm. 15 zu § 1248 RVO); dazu neigt auch der erkennende Senat. Denn der Gesetzgeber hat dem Versicherten das Bestimmungsrecht eingeräumt, um ihm die Möglichkeit zu geben, "durch Entrichtung weiterer Beiträge die Wartezeit zu erfüllen oder die Höhe seines Altersruhegeldes zu verbessern" (BT-Drucks IV/2572, S 24 zu Nr 6); das spricht gegen ein einengendes Verständnis des Bestimmungsrechtes, bei dessen Handhabung der Versicherte vielfach kaum zuverlässig die damit verbundenen Vor- und Nachteile abzuwägen vermag. Im Hinblick hierauf hält der Senat es auch für zulässig, die Bestimmung mit dem Vorbehalt bestimmter dadurch eintretender Rechtsfolgen zu verbinden; es handelt sich insoweit um eine sog uneigentliche Bedingung (vgl Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen bürgerlichen Rechts, 4. Aufl, S 433 f, 438; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl, 2. Halbbd, S 1186, 1192), die mit dem Sinn und Zweck des § 25 Abs 6 AVG vereinbar ist; einem solchen Vorbehalt kann das an sich schutzwürdige Interesse des Versicherungsträgers, möglichst von Vergleichsberechnungen verschont zu werden, nicht entgegenstehen, da der Versicherte, wie schon erwähnt, bei der Bestimmung des § 25 Abs 6 ohne einen derartigen Vorbehalt nicht selten überfordert wäre. Erst wenn das LSG danach Klarheit über den vom Kläger, gegebenenfalls hilfsweise, bestimmten maßgebenden Zeitpunkt gewonnen hat, läßt sich auf dieser Grundlage prüfen, ob der Kläger die Anrechnung der geltend gemachten Ersatz- und Ausfallzeiten mit einem Rentenbeginn zum 1. Januar 1974 erreichen kann.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen