Leitsatz (amtlich)

1. Die Bewilligung einer von Bedürftigkeit abhängigen Sozialleistung ist auch dann von Anfang an rechtswidrig, wenn schon zwischen Antrag und Bewilligung eine andere Sozialleistung vorschußweise gezahlt worden ist.

2. Hat die Verwaltung einen rückwirkend abändernden Verwaltungsakt nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 ohne Verschuldensprüfung erlassen, verbietet sich seine Umdeutung in einen solchen nach § 45 SGB 10 jedenfalls dann, wenn die neue Rechtsgrundlage Verschulden des Begünstigten voraussetzt.

 

Normenkette

BVG § 48 Abs 1; BVG § 48 Abs 2 S 2; SGB 10 § 45 Abs 3 S 3, § 48 Abs 1 S 2 Nr 3, § 43 Abs 3; SGB 1 § 42 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 05.03.1985; Aktenzeichen L 4 V 94/84)

SG Speyer (Entscheidung vom 20.06.1984; Aktenzeichen S 10 V 284/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte die der Klägerin bewilligte Witwenbeihilfe von Anfang an zurückfordern kann (Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 19. Juli 1983 und Widerspruchsbescheid vom 2. November 1983).

Die Klägerin bezieht als Witwe des am 6. Dezember 1972 - nicht an Schädigungsfolgen - verstorbenen G.    G.   (G.) Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung, eine Werksrente vom ehemaligen Arbeitgeber des G. und eine Unfallrente, weil G. an einer Berufskrankheit gestorben ist. Als der Beklagte die Witwenbeihilfe bewilligte (Bescheid vom 3. November 1973) war ihm die Unfallrente, die erst mit Bescheid vom 28. Mai 1974 in Höhe von monatlich 1.019,40 DM bewilligt worden ist, auf die jedoch seit 29. August 1973 Vorschüsse nach § 42 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - vom 11. Dezember 1975 (BGBl I 3015) - SGB 1 - geleistet worden waren, unbekannt. Erst aus einem von der Klägerin im Jahre 1982 ausgefüllten Fragebogen zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen ergab sich, daß die Klägerin wegen der Höhe der Unfallrente nicht bedürftig iS von § 48 Bundesversorgungsgesetz (BVG) idF des 4. Anpassungsgesetzes-KOV vom 24. Juli 1972 (BGBl I 1284) war. Der Beklagte zog die Akten der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, Bezirksverwaltung Heidelberg (BG) bei und stellte die Zahlung der Witwenbeihilfe einstweilen ein. Der Bewilligungsbescheid wurde aufgehoben und der überzahlte Betrag in Höhe von insgesamt 30.445,-- DM, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl I 1469, 2218) - SGB 10 - iVm § 50 SGB 10, zurückgefordert.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Bescheide des Beklagten vollständig aufgehoben (Urteil vom 5. März 1985), weil der Beklagte die Jahresfrist des § 48 Abs 4 SGB 10 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 nicht eingehalten habe.

Der Beklagte hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung der §§ 45 und 48 SGB 10. Die Bewilligung der Witwenbeihilfe sei nachträglich durch Bewilligung der Unfallrente unrichtig geworden. Der Bescheid über die Witwenbeihilfe sei binnen Jahresfrist nach Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen aufgehoben worden, weil erst die Auskünfte der BG eine ausreichende Entscheidungsgrundlage abgegeben hätten.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat den angefochtenen Bescheid zu Recht aufgehoben; er ist rechtswidrig.

Der Beklagte konnte die Aufhebung seines Bescheids vom 30. November 1973 nicht auf § 48 SGB 10 stützen, obwohl der Bescheid der BG erst später, nämlich am 28. Mai 1974 erlassen worden ist. Denn der Bescheid der BG weist zugleich nach, daß sich die rechtserheblichen Verhältnisse schon vor dem Bewilligungsbescheid vom 30. November 1973 geändert hatten. Der Klägerin flossen vor Bewilligung der Witwenbeihilfe zwar noch nicht die regelmäßigen Leistungen aus der Unfallversicherung zu; sie verfügte jedoch seit 29. August 1973 bereits über Vorschußleistungen. Insgesamt waren der Klägerin innerhalb der letzten drei Monate vor Bewilligung der Witwenbeihilfe 11.500,-- DM überwiesen worden. Diese Einkünfte von durchschnittlich 1.000,-- DM monatlich seit Beginn der Witwenschaft waren schon bei Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 30. November 1973 zu berücksichtigen. Die Klägerin war nicht bedürftig iS von § 48 BVG.

Da der ursprünglich bewilligende Bescheid unrichtig war, hat sich die Aufhebung des Bescheides nicht nach § 48 SGB 10 zu richten, sondern nach § 45 SGB 10. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 1984 - 9a RV 40/83 - (BSGE 57, 274 = SozR 1300 § 48 Nr 11) bereits ausführlich abgehandelt. Er ist insoweit vom 5. Senat im Urteil vom 9. April 1987 - 5b RJ 36/86 - (BSGE 61, 278 = SozR 1300 § 45 Nr 29) bestätigt worden. Auf diese Entscheidungen wird Bezug genommen. § 48 SGB 10 behandelt die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung nur bei wesentlicher Änderung derjenigen Verhältnisse, die bei Erlaß des Bescheides bestanden haben. Die rechtserheblichen Verhältnisse müssen sich nach Erlaß des aufzuhebenden Bescheides geändert haben. Das gilt auch für § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB 10, der die Wirkung einer zulässigen Aufhebung allerdings bis auf die Antragstellung zurückbezieht. Das bedeutet jedoch nicht, daß jede rechtserhebliche Veränderung, die sich auf die Zeit zwischen Antragstellung und Bescheiderteilung auswirkt, eine solche nachträgliche Änderung iS von § 48 SGB 10 ist. Dazu ist weiterhin erforderlich, daß der aufzuhebende Verwaltungsakt jedenfalls im Zeitpunkt seines Erlasses zunächst rechtmäßig war, um die Anwendung von § 45 SGB 10 auszuschließen.

Im vorliegenden Fall war der Bescheid vom 30. November 1973 von Anfang an rechtswidrig. Denn § 48 Abs 2 BVG setzt nicht voraus, daß die Unfallrente durch Bescheid anerkannt ist. Allein das tatsächliche monatliche Bruttoeinkommen einer Witwe entscheidet darüber, ob sie bedürftig iS der Vorschrift ist, ob also ein Zahlbetrag verbleibt (§ 48 Abs 2 Satz 2 aE BVG). Da die maßgebliche Vorschrift des BVG auf die tatsächliche Situation abstellt, beurteilt sich auch die rechtserhebliche Änderung iS des § 48 SGB 10 nach dem tatsächlichen Umfang und der tatsächlichen Höhe des Bruttoeinkommens und nicht nach der Rechtsqualität der Zahlungen. Vorschüsse iS von § 42 SGB 1 und Rentenzahlungen nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgrund eines Bewilligungsbescheides stehen einander gleich, soweit sie - wie hier - tatsächlich die Bedürftigkeit ausschließen.

Die Revision ist auch nicht iS des Hilfsantrages begründet. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 45 SGB 10 vorliegen, kommt nicht in Betracht. Das ist zwar dann geboten, wenn der Verwaltungsakt zugleich auf beide Normen gestützt wird (so in SozR 1300 § 45 Nr 29), die gerichtliche Nachprüfung der Instanzgerichte sich jedoch nur auf eine der beiden Normen beschränkt, oder jedenfalls dann zulässig, wenn sich tatbestandlich der Prüfungsrahmen nicht ändert (so wohl in SozR 1300 § 48 Nr 11). Im vorliegenden Fall ist der zu berücksichtigende Sachverhalt schon allein deshalb verändert, weil die Vorschußzahlung im angefochtenen Bescheid übersehen worden ist. Es handelt sich auch nicht um einen Tatbestand, bei dem die Voraussetzungen in § 48 und §45 SGB 10 große Ähnlichkeiten aufweisen und lediglich hinsichtlich des Zeitpunktes der maßgeblichen Veränderung der Verhältnisse differieren: So behandelt § 45 SGB 10 ua den ursprünglich unrichtigen Verwaltungsakt, der auf falschen Angaben beruht und den Adressaten eines solchen Verwaltungsaktes, der die Fehlerhaftigkeit erkennt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkennt. § 48 SGB 10 regelt den Fall des nachträglich unrichtigen Verwaltungsaktes, der durch Unterlassen rechtserheblicher Mitteilungen fehlerhaft wird und auch den Empfänger eines solchen nachträglich unrichtig gewordenen Verwaltungsakts, der wiederum die Fehlerhaftigkeit erkennt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkennt. Insoweit ergänzen beide Vorschriften einander; in beiden Fällen bedarf es für die Aufhebung des Verwaltungsaktes des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit beim Betroffenen.

Im vorliegenden Fall scheitert die Umdeutung nach § 43 SGB 10 daran, daß zwar die beiden Normen, §§ 45 und 48 SGB 10, der Beseitigung rechtswidriger Verwaltungsakte dienen, jedoch hinsichtlich der Fristen und des geprüften Sachverhaltes vollständig voneinander verschieden sind. Im vorliegenden Fall ist der angefochtene Verwaltungsakt auf die Haftungsvorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB 10 gestützt; dies weist die maßgebliche Begründung (§ 35 SGB 10) aus. Diese Norm ermöglicht eine rückwirkende Aufhebung ohne jede Rücksicht auf mitwirkendes Verschulden des Begünstigten, insbesondere ohne jede Rücksicht auf seine Kenntnis von der Überzahlung. Da die Aufhebung erst nach Ablauf von zwei Jahren seit Bekanntgabe des fehlerhaften Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung ausgesprochen worden ist, kennt aber § 45 SGB 10 keine Aufhebung ohne Prüfung von Verschulden mehr. Die 10-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB 10, die im vorliegenden Fall noch knapp eingehalten ist, setzt kumulativ voraus, daß der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig und unvollständig gemacht hat und daß er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (vgl zur Begründung eingehend BSG SozR 1300 § 45 Nr 17). Ein auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB 10 gestützter Verwaltungsakt, der von jeder Verschuldensprüfung abgesehen hat, kann nicht mehr in einem solchen nach § 45 SGB 10 umgedeutet werden, weil diese Vorschrift in doppelter Hinsicht Verschuldensprüfungen voraussetzt, sofern seit Bekanntgabe des ursprünglich rechtswidrigen Verwaltungsakts zwei Jahre vergangen sind.

Im übrigen scheitert die Umdeutung auch an § 43 Abs 3 SGB 10, weil eine gesetzlich gebundene Entscheidung nicht in eine Ermessensentscheidung nach § 45 SGB 10 umgedeutet werden kann. Die Norm ist bisher einhellig als Ermessensnorm angesehen worden (vgl BSGE 55, 250; 59, 157; SozR 1300 § 48 Nr 11; § 45 Nrn 12, 28, 29). Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung, wie sie der Senat in BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24 gesehen hat, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647156

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