Entscheidungsstichwort (Thema)

Erklärung der Beklagten zur künftigen Rentenanpassung gehört nicht zum Verfügungssatz des Bescheides

 

Leitsatz (redaktionell)

Die nach SGG § 77 eingetretene Bindungswirkung steht zwar der Herabsetzung der Rentenhöhe entgegen; aus der Bindungswirkung ergibt sich aber nicht, daß die Beklagte bei Berücksichtigung eines zusätzlichen Sachverhalts die Rente in jedem Fall erhöhen müßte. Dem Versicherungsträger ist es durch SGG § 77 nicht verwehrt, bei einer Neufeststellung nach AVG § 79 (= RVO § 1300) frühere Berechnungsfehler "aufzufangen".

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. September 1966 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 22. März 1966 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beklagte bewilligte der Klägerin durch Bescheid vom 26. Oktober 1955 Rente wegen Berufsunfähigkeit von Dezember 1954 an. Bei der Umstellung im Jahre 1957 wurde die Rente gemäß Art. 2 § 35 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) um einen Sonderzuschuß auf insgesamt 120,30 DM angehoben. Durch Bescheid vom 10. April 1958 erhöhte die Beklagte, weil die Klägerin das 65. Lebensjahr vollendete, die Rente auf Grund des Art. 2 § 37 Abs. 3 Satz 1 AnVNG um 2/13; sie errechnete die 2/13 aus dem Betrag von 120,30 DM, so daß die Rente danach 138,80 DM betrug. Die Rente wurde mehrfach den Änderungen der allgemeinen Bemessungsgrundlage angepaßt; im Jahre 1965 betrug sie nach der Anpassung auf Grund des 7. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) 206,30 DM.

Anfang 1965 beantragte die Klägerin, die Rente gemäß Art. 2 § 54 Abs. 1 AnVNG (aF) noch um einen Zuschlag von 10 % zu erhöhen und ihre Internierungszeit von 1945 bis 1948 als rentensteigernde Ersatzzeit anzurechnen. Die Beklagte ging auf das erste Begehren im Bescheid vom 4. Juni 1965 ein, stellte zugleich aber fest, daß bei der Anwendung des Art. 2 § 37 Abs. 3 Satz 1 AnVNG "laut dem BSG-Urteil vom 4. September 1958" (BSG 8, 118) nur die "Faktorenrente" (d. h. die nach Art. 2 § 31 errechnete geringere Umstellungsrente), nicht dagegen die "Sonderzuschußrente" um 2/13 erhöht werden dürfe, weshalb der Bescheid vom 10. April 1958 rechtswidrig gewesen sei. Die neue Rentenberechnung ergab ab 1. April 1958 geringere Beträge als bisher. Die Beklagte forderte die überzahlten Beträge nicht zurück; sie zahlte die Rente in der bisherigen Höhe weiter, behielt sich jedoch vor, sie in Zukunft erst anzupassen, wenn die wirklich zustehende Rente den Zahlbetrag übersteige.

Die Klägerin erhob Klage wegen der nicht angerechneten Internierungszeit. Durch Bescheid vom 30. November 1965 trug die Beklagte auch diesem Begehren Rechnung. Sie berechnete die Rente nochmals ab April 1961 neu und wandte für die vorhergehende Zeit Verjährung ein. Die Neuberechnung ergab wieder keine höheren Beträge. Die Beklagte erklärte daher: "Es verbleibt bei der bisherigen Rentenzahlung und zwar so lange, bis die neu berechnete Rente durch künftige Rentenanpassungen diesen Betrag übersteigt. Im übrigen wird auf den Bescheid vom 4. Juni 1965 verwiesen. Die Bescheide vom 26. Oktober 1965, 10. April 1958 und 4. Juni 1965 werden hiermit aufgehoben, und zwar ab 1. April 1961".

Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat entsprechend dem Antrag der Klägerin im Termin vom 22. März 1966 "die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 4. Juni 1965 und 30. November 1965 verurteilt, bei der Berechnung der Rente gegenüber dem bisherigen Zahlbetrag die durchgeführte Anwendung des Art. 2 § 54 AnVNG sowie die Anrechnung einer Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen". Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 16. September 1966 zurück. Nach der Ansicht des LSG durfte die Beklagte den Bescheid vom 10. April 1958 nicht in der Weise "berichtigen", daß sie die Rente auf den Besitzstand von 1965 "einfrieren" ließ; die Beklagte habe auf den Antrag der Klägerin die Rente vielmehr so neu feststellen müssen, "daß sie ab 1. April 1961 unter Zugrundelegung der umgestellten Rente (Altersruhegeld) nunmehr zusätzlich die Vorschrift des Art. 2 § 54 AnVNG und die Ersatzzeiten berücksichtigte". Von diesem Zahlbetrag müsse die Beklagte bei allen Rentenanpassungen ab April 1961 "jetzt und in Zukunft ausgehen".

Mit der zugelassenen Revision rügte die Beklagte eine Verletzung der §§ 54, 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).

Sie wies daraufhin, daß es sich bei der Rente der Klägerin um eine Rente handele, die auch seit dem 4. RAG noch "unter Zugrundelegung des bindenden Zahlbetrages anzupassen" sei (3. Rentengruppe). In dem während des Revisionsverfahrens erteilten Anpassungsbescheid vom 11. November 1966 nach dem 8. RAG erhöhte die Beklagte demzufolge die Rente, ausgehend vom letzten Zahlbetrag von 206,30 DM, für das Jahr 1966 auf 221,70 DM; bei der Anpassung nach dem 9. RAG im Bescheid vom 31. Januar 1967 ging sie dagegen in Anwendung des § 5 Abs. 1 Satz 3 dieses Gesetzes von dem für Januar 1967 ihrer Ansicht nach an sich zustehenden Betrag aus und errechnete danach für 1967 eine Rentenhöhe von 221,20 DM; für dieses Jahr zahlt sie jetzt den "besitzgeschützten" letzten Betrag von 221,70 DM weiter.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 153, 165 SGG).

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig. Auf sie ist nachzuprüfen, ob das vom LSG bestätigte Urteil des SG Bestand haben kann. Das ist zu verneinen. Die Revision der Beklagten ist deshalb auch begründet.

Mit dem LSG ist das Begehren der Klägerin dahin zu verstehen, daß es sich auf die Zeit ab April 1961 bezieht. Die so zeitlich begrenzte Klage hat sich ursprünglich gegen den Bescheid vom 4. Juni 1965 gerichtet. Dieser Bescheid ist jedoch im Laufe des Klageverfahrens für die Zeit ab April 1961 durch den Bescheid vom 30. November 1965 ersetzt worden. Das hat zur Folge, daß der neue Bescheid Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Nach § 96 SGG wird auch ein während des Klageverfahrens ergangener neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens, wenn er den angefochtenen Verwaltungsakt ändert oder ersetzt. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Bescheid vom 30. November 1965 ist ebenso ein Verwaltungsakt, wie es der Bescheid vom 4. Juni 1965 gewesen ist. In beiden Bescheiden hat die Beklagte über das Begehren der Klägerin auf Gewährung einer höheren Rente entschieden. Das Begehren hat sich nur auf § 79 AVG stützen können. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte die Rente auf Grund von § 79 AVG für die Zeit ab April 1961 nochmals in der bisherigen "besitzgeschützten" Höhe festgestellt oder ob sie in Wahrheit nur das Begehren auf eine höhere Rentenfeststellung abgelehnt hat (vgl. Urteil des BSG vom 10. Dezember 1964, SozR Nr. 1 zu § 93 RKG, letzter Absatz). Die Eigenschaft beider Bescheide als "Verwaltungsakt" ist so oder so zu bejahen.

Da der Bescheid vom 30. November 1965 den Bescheid vom 4. Juni 1965 für die Zeit ab April 1961 ersetzt hat, ist nur noch der Bescheid vom 30. November 1965 nun Gegenstand des Verfahrens. Dabei kann offenbleiben, ob eine Klage gegen diesen Bescheid an sich vorverfahrenspflichtig gewesen wäre; denn der Anwendung des § 96 SGG steht ein unterbliebenes Vorverfahren nicht entgegen (Urteil des BSG vom 30. Oktober 1962, SozR Nr. 16 zu § 96 SGG).

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist der Bescheid vom 30. November 1965 rechtmäßig. Die Klägerin kann nicht verlangen, daß ihre Rente ab April 1961 erhöht wird, weil noch die Internierungszeit anzurechnen und ein Zuschlag von 10 % nach Art. 2 § 54 Abs. 1 AnVNG aF zur Rente zu gewähren ist. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Unrecht verurteilt, beide Umstände zusätzlich "gegenüber dem bisherigen Zahlbetrag rentensteigernd zu berücksichtigen". Das ist schon deshalb bedenklich gewesen, weil sich aus den Entscheidungen der Vorinstanzen nicht ergibt, wie die Beklagte dieses Urteil vollziehen sollte. Das hätte näher verdeutlicht werden müssen, weil die Klägerin eine "Sonderzuschußrente" im Sinne von Art. 2 § 35 AnVNG erhält. Eine solche Rente ist nur zu gewähren, wenn die nach § 31 umgestellte Rente ("Faktorenrente") unter dem um 21,- DM erhöhten letzten Rentenbetrag nach altem Recht bleibt. Es bedarf deshalb zweier Rentenberechnungen, die im Ergebnis miteinander zu vergleichen sind. Dabei ist es von Bedeutung, daß der Zuschlag nach Art. 2 § 54 Abs. 1 AnVNG aF und die Internierungszeit sich bei beiden Rentenberechnungen nicht in gleicher Weise auswirken können, der Zuschlag käme überhaupt nur bei der "Faktorenrente" in Betracht (BSG 13, 83). Aber auch abgesehen von diesen Bedenken ist den Vorinstanzen nicht zu folgen. Das Urteil des LSG enthält trotz längerer Entscheidungsgründe keine Begründung, weshalb die Beklagte bei zusätzlicher Berücksichtigung der von der Klägerin angeführten Umstände die Rente unbedingt erhöhen müßte. Das SG hat das damit begründen wollen, daß der im Bescheid vom 10. April 1958 festgestellte Rentenbetrag "nicht sozusagen abstrakt", sondern "bezogen auf den seinerzeit zugrundegelegten Sachverhalt", also ohne Berücksichtigung von Sachbezügen und Internierungszeit, bindend geworden sei. Diese Erwägung ändert jedoch nichts daran, daß der Bescheid vom 10. April 1958 nur in der festgestellten Rentenhöhe bindend geworden ist. Die nach § 77 SGG eingetretene Bindungswirkung steht zwar der Herabsetzung der Rentenhöhe entgegen; aus der Bindungswirkung ergibt sich aber nicht, daß die Beklagte bei Berücksichtigung eines zusätzlichen Sachverhalts die Rente in jedem Fall erhöhen müßte. Wie der Senat bereits im Urteil vom 13. August 1965 (11/1 RA 366/62, "Die Angestelltenversicherung" 1965, S. 298) entschieden hat, ist es dem Versicherungsträger durch § 77 SGG nicht verwehrt, bei einer Neufeststellung nach § 79 AVG frühere Berechnungsfehler "aufzufangen". Der Versicherungsträger kann und muß bei der Überprüfung einer Rente im Rahmen des § 79 AVG die Rente richtig berechnen und sie dabei auch richtig anpassen; zu einer höheren Rentenfeststellung ist er nur genötigt, wenn die richtige Berechnung höhere Beträge ergibt, als sie bisher festgestellt worden sind. Da dies hier nicht der Fall ist, ist es richtig gewesen, daß die Beklagte in dem Bescheid vom 30. November 1965 es bei den bisherigen Rentenzahlbeträgen von April 1961 bis zum Erlaß dieses Bescheides belassen hat.

Mit der Frage, wie die Beklagte ab dem 8. RAG die Rente anzupassen hat, kann sich der Senat im vorliegenden Rechtsstreit nicht befassen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die vom SG ausgesprochene und vom LSG bestätigte "Änderung" des Bescheides vom 30. November 1965 überhaupt die Erklärung der Beklagten in diesem Bescheid über die künftige Rentenanpassung betroffen hat, wofür das Urteil des SG keinen Anhalt bietet.

Wie dem auch sei, der Bescheid vom 30. November 1965 hat jedenfalls insoweit nicht "geändert" werden dürfen, weil die Erklärung der Beklagten zur künftigen Rentenanpassung nicht zum "Verfügungssatz" des Bescheides vom 30. November 1965 gehört, so daß ihr keine Rechtswirkung zukommt. Die die Bezugnahme der Beklagten auf die einschlägige Erklärung im Bescheid vom 4. Juni 1965 klarstellt, hat die Beklagte sich lediglich "vorbehalten, die Rente in Zukunft erst anzupassen, wenn die richtig berechnete und richtig angepaßte Rente den derzeitigen zu hohen monatlichen Zahlbetrag übersteigt". Damit hat die Beklagte nicht im Vorgriff auf künftige, im Wortlaut noch unbekannte Rentenanpassungsgesetze vorab die Rentenhöhe für spätere Anpassungsjahre geregelt. Die Unsicherheit, die der Vorbehalt bei der Klägerin hinsichtlich der künftigen Rentenhöhe (Rentenanpassung) hervorrufen konnte, rechtfertigt es nicht, in dieser Erklärung einen zusätzlichen Verwaltungsakt zu sehen. Das schließt nicht aus, daß die Klägerin wegen der künftigen Rentenanpassungen möglicherweise Feststellungsklage hätte erheben können, wenn auch erst nach der Verkündung des oder der nächsten Anpassungsgesetze. Darauf braucht jedoch hier nicht eingegangen zu werden. Die Feststellungsklage kann jetzt jedenfalls nicht mehr erhoben werden, weil die B klagte inzwischen über die Rentenanpassungen nach den beiden mittlerweile erlassenen Anpassungsgesetzen, dem 8. und 9. RAG, durch besondere Bescheide entschieden hat, die nach § 171 Abs. 2 SGG mit der Klage beim SG angefochten gelten. Für eine Feststellungsklage fehlt damit das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klägerin hat die Möglichkeit, die Anpassung ihrer Rente nach den beiden Anpassungsgesetzen innerhalb der Klage beim SG nachprüfen zu lassen, wenn sie mit den Bescheiden nicht einverstanden ist. Dabei dürfte zu beachten sein, daß die Rente der Klägerin - was das LSG offenbar übersehen hat - sowohl vor als auch nach den Bescheiden vom 4. Juni 1965 und 30. November 1965 stets zur 3. Rentengruppe gehört hat, auf die die §§ 4 und 5 des 8. und 9. RAG Anwendung finden. Dementsprechend hat die Beklagte bei der Anpassung nach dem 8. RAG - im Gegensatz zu ihrem Anpassungsvorbehalt in den Bescheiden vom 4. Juni 1965 und 30. November 1965 - den letzten Zahlbetrag nach dem 7. RAG (206,30 DM) zum Anpassungsbetrag genommen, ohne ihn zu "berichtigen"; das hat sie erst bei der Anpassung nach dem 9. RAG auf Grund der nun nach § 5 Abs. 1 Satz 3 dieses Gesetzes gegebenen Berichtigungsmöglichkeit getan.

Die Urteile der Vorinstanzen sind nach alledem aufzuheben.

Die Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2291004

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