Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung, in welchem Ausmaß es geeignete Teilzeitarbeitsplätze für einen in der Leistungsfähigkeit geminderten Versicherten gibt, ist auch dann entbehrlich, wenn der Versicherte es unterläßt, sich um die Vermittlung eines Arbeitsplatzes durch das zuständige Arbeitsamt zu bemühen, obwohl dieses dazu in der Lage wäre (Fortführung zu BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167, 185 = SozR Nr 79 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Februar 1972 aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zusteht.
Die Beklagte lehnte es ab, dem am 19. März 1926 geborenen Kläger, der nach seiner Gesellenprüfung als Anstreicher von 1948 bis Ende 1970 versicherungspflichtig tätig gewesen war, die beantragte Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Bescheid vom 26. Oktober 1970). Das Sozialgericht (SG) sprach dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. April 1970 zu (Urteil vom 16. August 1971). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 2. Februar 1972).
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Es rügt eine Verletzung des § 1246 RVO.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Februar 1972 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 16. August 1971 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Bei seiner Entscheidung, der Kläger sei nicht berufsunfähig, ist das LSG davon ausgegangen, dieser könne nach ärztlicher Beurteilung noch leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung täglich etwa sechs Stunden verrichten; in seinem Beruf sei er bei einer großen Anzahl von Arbeiten, für die ein Besteigen von Leitern und Gerüsten nicht erforderlich sei, nicht wesentlich behindert. Nach den im Verfahren eingeholten Auskünften des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie im Regierungsbezirk K und der Kreishandwerkerschaft für den rheinisch-bergischen Kreis bestehe "jedenfalls im Bereich der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie im Regierungsbezirk K" für einen "Industrieanstreicher" auf dem Arbeitsmarkt ein erheblicher Bedarf; hier würden in vielen Industriebetrieben für den Kläger in Betracht kommende Tätigkeiten als Schilder-, Gegenstands- oder Werkstattmaler benötigt; die Nachfrage nach solchen Tätigkeiten sei größer als das Angebot. Wenn dies die Auskünfte auch nicht ausdrücklich bestätigten, sei ihnen doch zu entnehmen, daß das Verhältnis der Zahl der für den Kläger in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen wesentlich günstiger sei als 75:100, wie dies der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Beschluß vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSG 30, 167, 184) fordere. Das Berufungsgericht hat es für unschädlich erachtet, daß sich die von ihm berücksichtigten Auskünfte über das Vorhandensein von Arbeitsplätzen nicht auf das Gebiet der gesamten Bundesrepublik, sondern nur auf den Regierungsbezirk K beziehen. Das LSG möchte den Beschluß des Großen Senats des BSG so auslegen, daß es erst dann auf die Feststellung der erwähnten Verhältniszahl für das gesamte Bundesgebiet ankomme, wenn in der "näheren Umgebung" des Versicherten keine Arbeitsplätze vorhanden seien; der Arbeitsplatz könne sich "auch gerade lediglich z. B. im Wohngebiet des Versicherten befinden".
Wenngleich es bereits in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft ist, ob die vom Berufungsgericht herangezogenen Auskünfte mit hinreichender Sicherheit ergeben, daß der Kläger im Regierungsbezirk K einen ihm gemäßen Arbeitsplatz als Anstreicher erhalten und einnehmen kann, kann dies auf sich beruhen. So sehr der Gedankengang des LSG, die an sich gebotene Feststellung des Zahlenverhältnisses von 75:100 in bestimmten Fällen in Fortführung der Rechtsprechung des Großen Senats des BSG für entbehrlich zu erklären, im Grundsatz Beachtung verdient, hat es doch zu Unrecht von der Feststellung des grundsätzlich maßgebenden Zahlenverhältnisses 75:100 für das gesamte Bundesgebiet abgesehen und sich auf eine solche für den Regierungsbezirk K beschränkt, wobei im übrigen seine Feststellungen nicht eindeutig sind, spricht es doch auch von der "näheren Umgebung" sowie vom "Wohngebiet" des Versicherten, was nicht mit der Ausdehnung eines Regierungsbezirks gleichzusetzen ist.
Indes liegt die Lösung in folgendem:
Der Große Senat des BSG hat die sonst erforderliche Feststellung, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, d. h. ob das Verhältnis der im Verweisungsgebiet der gesamten Bundesrepublik Deutschland vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75:100, oder nicht (BSG 30, 167, 184), in zwei Fällen für entbehrlich erklärt. Zum einen: Der Versicherte hat einen entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich und nicht nur vorübergehend inne. Zum anderen: Der Versicherte lehnt es ohne triftigen Grund ab, einen ihm angebotenen oder sonstwie bekanntgewordenen, im Rahmen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zumutbaren Arbeitsplatz einzunehmen (aaO, 185). Vornehmlich an das Letztere ist anzuknüpfen. Ebensowenig wie es hingenommen werden kann, daß ein Versicherter ohne triftigen Grund einen ihm angebotenen oder bekanntgewordenen zumutbaren Arbeitsplatz ausschlägt und so den Tatbestand der Berufsunfähigkeit herbeizuführen trachtet, kann es gebilligt werden, daß ein Versicherter sich erst gar nicht bei dem für ihn zuständigen Arbeitsamt darum bemüht, daß ihm dieses einen ihm zumutbaren Arbeitsplatz in seinem Beruf vermittelt, obschon es dazu in der Lage gewesen wäre. Von einem Versicherten muß, bevor er um die Rente nachsucht, erwartet werden, daß er seine Arbeitskraft, sei diese auch eingeschränkt, tatsächlich einsetzt und, soweit dies zur Zeit nicht der Fall ist, um dies zu erreichen, zumindest die Dienste des zuständigen Arbeitsamtes mit dem Ziel einer entsprechenden Arbeitsvermittlung in Anspruch nimmt. Unterläßt der Versicherte dies aber, kann für ihn der Arbeitsmarkt dann nicht als verschlossen gelten, wenn bei gehöriger Bemühung ihm vom zuständigen Arbeitsamt ein entsprechender und zumutbarer Arbeitsplatz hätte vermittelt werden können. Diesen Gedanken hat der 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. Mai 1973 - 5 RJ 287/72 -, ohne daß er dort entscheidungserheblich gewesen wäre, anklingen lassen. Hier wird er jedoch ausdrücklich zur Grundlage der Entscheidung des Falles gemacht. Falls somit eine Auskunft des für den Wohnort des Klägers zuständigen Arbeitsamtes ergibt, daß der Kläger im streitigen Zeitraum auf einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz hätte vermittelt werden können, sind weitere, das sonst örtlich maßgebliche Verweisungsgebiet des gesamten Bundesgebiets betreffende Ermittlungen entbehrlich.
Ob und wie diese Grundsätze im Falle des Klägers anzuwenden sind, wird das Berufungsgericht nunmehr zu prüfen und zu entscheiden haben. Deshalb ist das auf einer anderen Rechtsansicht aufbauende Urteil des LSG mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Sollten die neuen Feststellungen ergeben, daß bei Anwendung der genannten Grundsätze der Arbeitsmarkt für den Kläger in seinem Beruf als Anstreicher (Industrieanstreicher) ganz oder zeitweise verschlossen gewesen ist - die während des Revisionsverfahrens vom Kläger neu mitgeteilte, vom Revisionsgericht jedoch nicht zu berücksichtigende Tatsache der zwischenzeitlichen Arbeitsaufnahme, falls diese vom LSG festgestellt werden kann, spricht allerdings dafür, daß die Klage dann jedenfalls vom Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme ab unbegründet ist -, müßte das Berufungsgericht des weiteren noch folgendes prüfen: Obschon der Kläger seinem Herkommen nach Facharbeiter ist, kann er auf bestimmte Tätigkeiten außerhalb seines bisherigen Berufs zumutbar verwiesen werden. Es sind dies solche, bei denen eine besondere Ausbildung nicht erforderlich ist, vielmehr regelmäßig eine Einweisung am Arbeitsplatz genügt, die aber - und dies ist dann entscheidend - dem Versicherten technisches Verständnis, Konzentrationsvermögen, Reaktions- und Übersichtsfähigkeit, Ausdauer, Verantwortung und Zuverlässigkeit abverlangen (SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen