Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt eines Versicherungsfalles
Leitsatz (amtlich)
Gemäß AnVNG Art 2 § 49a Abs 1 (= ArVNG Art 2 § 51a Abs 1) für die Zeit von 1956 an nachentrichtete freiwillige Beiträge können nicht rentensteigernd auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit angerechnet werden, wenn im Zeitpunkt der Nachentrichtung der Versicherungsfall bereits eingetreten war.
Normenkette
AVG § 141 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1419 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 142 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1420 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 1 S. 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 1 S. 2 Fassung: 1972-10-16
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der dem Kläger für die Zeit ab März 1970 gewährten Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit streitig. Dabei geht es darum, ob die von ihm gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachentrichteten freiwilligen Beiträge rentensteigernd anzurechnen sind.
Der Kläger - seit 1947 selbständiger Kaufmann - stellte am 1. Juli 1969 Antrag auf Gewährung von Versichertenrente und wies gleichzeitig darauf hin, daß er für 1969 noch 6 Monatsbeiträge leisten werde. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag zunächst ab (Bescheid vom 20. November 1969). In dem deswegen zwischen den Beteiligten geführten Vorprozeß kam es in der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 1973 vor dem Landessozialgericht (LSG) zu einem Vergleich, bei dem die Beklagte vom Eintritt des Versicherungsfalles im Juli 1969 ausging und sich verpflichtete, dem Kläger - unter Berücksichtigung des in der Zeit vom 12. Februar bis 12. März 1970 durchgeführten Heilverfahrens - Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit vom 13. März 1970 an zu gewähren. Bereits vor Vergleichsabschluß hatte der Kläger im Dezember 1972 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) Antrag auf Pflichtversicherung gestellt und gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG freiwillige Beiträge für die Zeit von 1956 bis 1960 nachentrichtet.
In dem den Vergleich vom 17. Januar 1973 ausführenden Rentenbescheid berücksichtigte die Beklagte weder die freiwilligen Beiträge, die der Kläger 1970 für die Zeit von Januar bis Juni 1969 entrichtet hatte, noch die nachentrichteten freiwilligen Beiträge für die Zeit von 1956 bis 1960. Mit der gegen den Rentenbescheid vom 11. April 1973 gerichteten Klage begehrte der Kläger zunächst nur die rentensteigernde Anrechnung der für die Zeit von Januar bis Juni 1960 geleisteten Beiträge. Nachdem er insoweit durch einen weiteren, gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in das Klageverfahren einbezogenen Bescheid vom 11. April 1974 von der Beklagten klaglos gestellt worden war, beantragte der Kläger, bei der Berechnung der Rente auch die für die Jahre 1956 bis 1960 nachentrichteten Beiträge zu berücksichtigen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 30. August 1974).
Das LSG wies die Berufung des Klägers im wesentlichen mit folgender Begründung zurück: Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG lasse nur in bestimmten Fällen die Berücksichtigung nachentrichteter Beiträge bei einem bereits gezahlten Altersruhegeld zu. Diese Ausnahmeregelung könne nicht entsprechend auf andere Rentenarten ausgedehnt werden. Insoweit müsse es bei der in § 141 Abs. 1 AVG getroffenen allgemeinen Regelung verbleiben, wonach freiwillige Beiträge nach Eintritt der Berufsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes für Zeiten vorher nicht mehr entrichtet werden dürfen. Der Kläger könne den geltend gemachten Anspruch auch nicht darauf stützen, daß über die Berufsunfähigkeitsrente zum Zeitpunkt der Nachentrichtung der Beiträge noch nicht endgültig entschieden, vielmehr der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit erst infolge des später abgeschlossenen Vergleichs rückwirkend festgesetzt worden sei. Die nach § 190 AVG i. V. m. § 1444 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31. Dezember 1956 gültigen Fassung (= aF) zulässig gewesene Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität bei schwebenden Verfahren sei durch § 142 Abs. 2 AVG beseitigt worden. Auch wenn man mit dem Bundessozialgericht (BSG) insoweit eine Gesetzeslücke für den Fall annehmen wollte, daß von der wirksamen Nachentrichtung freiwilliger Beiträge während eines schwebenden Verfahrens die Erhaltung einer Anwartschaft abhänge (Hinweis auf BSG in SozR Nr. 11 zu Art. 2 § 42 ArVNG), könnten die nachentrichteten Beiträge des Klägers für den bereits eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit nicht als wirksam angesehen werden, weil der vorliegende Sachverhalt nicht die Erhaltung einer Anwartschaft betreffe (Urteil vom 4. Juni 1975).
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG durch das Berufungsgericht.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Schleswig vom 30. August 1974 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung der Bescheide vom 11. April 1973 und 11. April 1974 zu verpflichten, die Berufsunfähigkeitsrente unter zusätzlicher Berücksichtigung der für die Zeit von 1956 bis 1960 nachentrichteten Beiträge zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die vom Kläger gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG für die Zeit von 1956 bis 1960 nachentrichteten Beiträge nicht rentensteigernd auf die ihm gewährte Berufsunfähigkeitsrente angerechnet werden können, weil im Zeitpunkt der Nachentrichtung (Dezember 1972) der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit bereits eingetreten war (Juli 1969) und demzufolge § 141 Abs. 1 AVG die Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge für diesen Versicherungsfall ausschließt. Der Hinweis der Revision auf die durch Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG geschaffene Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung "abweichend von den Regelungen des § 140 des Angestelltenversicherungsgesetzes" vermag den geltend gemachten Anspruch schon deswegen nicht zu begründen, weil gerade aus diesem Wortlaut der Nachentrichtungsvorschrift nicht zu entnehmen ist, daß darüber hinaus auch eine Abweichung von der allgemeinen Regelung des § 141 Abs. 1 AVG gewollt sein soll.
Die gegenteilige Auffassung der Revision übersieht außerdem, daß der Nachentrichtung von Beiträgen nach Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit vom Gesetzgeber in den einzelnen Sondervorschriften unterschiedliche Bedeutung beigemessen worden ist. Die Anwendung der allgemeinen Regelung des § 141 Abs. 1 AVG ist sonach nur ausgeschlossen, wenn in einer Nachentrichtungsvorschrift ausdrücklich bestimmt ist, daß der Eintritt eines Versicherungsfalles vor einem festgelegten Stichtag der Nachentrichtung "nicht entgegensteht". So ist eine Nachentrichtung mit Wirkung auf einen bereits eingetretenen Versicherungsfall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bis zu einem bestimmten Stichtag zulässig nach Art. 2 § 46 Abs. 6 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - (= Art. 2 § 44 a Abs. 6 AnVNG), Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG (= Art. 2 § 50 AnVNG) und nach den §§ 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Eine vergleichsweise Regelung fehlt indes für die Beitragsnachentrichtungen nach Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG (= Art. 2 § 51 a Abs. 1 ArVNG). Dort ist in Satz 2 lediglich bestimmt, daß der Eintritt des Versicherungsfalles des Alters (§ 25 AVG) vor dem 1. Januar 1973 der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegensteht. Da eine Nachentrichtung nach Eintritt dieses Versicherungsfalles gemäß § 141 Abs. 1 AVG ohnehin nicht ausgeschlossen ist, hat Art. 2 § 49 a Abs. 1 Satz 2 AnVNG nur zur Folge, daß - abweichend von § 10 Abs. 2 a Satz 2 AVG - eine Nachentrichtung auch mit Wirkung auf ein bereits bindend bewilligtes Altersruhegeld bei Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 1. Januar 1973 zulässig ist (vgl. hierzu Verbandskommentar zur RVO, 14. Ergänzung, Anm. 12 zu § 1418/§ 140 AVG, S. 17). Für den hier vorliegenden Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit folgt aus den aufgezeigten unterschiedlichen Regelungen, daß die erst nach Eintritt dieses Versicherungsfalles nachentrichteten freiwilligen Beiträge - mangels einer ausdrücklichen, die Wirkung des § 141 Abs. 1 AVG ausschließenden Bestimmung - erst bei Eintritt eines weiteren Versicherungsfalles berücksichtigt werden können.
Das LSG hat auch zutreffend und von der Revision unbeanstandet angenommen, daß § 142 Abs. 2 AVG nicht zugunsten des Klägers Anwendung finden kann. Nach dieser Vorschrift werden Zeiträume, in denen - ua - ein Verfahren über einen Rentenanspruch schwebt, in die Nachentrichtungsfristen des § 140 AVG nicht eingerechnet. Diese Regelung ist jedoch für den hier vorliegenden Sachverhalt, daß der Eintritt des Versicherungsfalles in einem gerichtlichen Vergleich auf einen Zeitpunkt vor der Nachentrichtung der freiwilligen Beiträge festgelegt worden ist, ohne rechtliche Bedeutung, weil in § 142 Abs. 2 AVG nicht auf § 141 AVG Bezug genommen wird. Während nach § 1444 Abs. 2 RVO aF i. V. m. § 190 AVG aF bei schwebenden Rentenverfahren eine wirksame Nachentrichtung auch nach Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität bzw. der Berufsunfähigkeit noch zulässig war, enthält der die alten Vorschriften mit Wirkung vom 1. Januar 1957 ablösende § 142 Abs. 2 AVG eine derartige Ausnahmeregelung nicht. Wie das BSG bereits im Urteil vom 26. April 1963 (SozR Nr. 12 zu Art. 2 § 42 ArVNG) zu der mit § 142 Abs. 2 AVG inhaltsgleichen Vorschrift des § 1420 Abs. 2 RVO ausgeführt hat, wollte der Gesetzgeber mit § 1444 Abs. 2 RVO aF in erster Linie einem drohenden Anwartschaftsverlust begegnen. Es muß deshalb angenommen werden, daß er bei Erlaß der §§ 1420 Abs. 2 RVO, 142 Abs. 2 AVG die volle Übernahme des Inhalts des § 1444 Abs. 2 RVO aF - einschließlich der Bezugnahme auf § 1419 RVO bzw. § 141 AVG - für entbehrlich gehalten hat, weil nach dem ab 1. Januar 1957 gültigen neuen Recht eine Beitragsleistung zur Anwartschaftserhaltung grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist. Das BSG hat demgemäß die Regelung des § 1444 Abs. 2 RVO aF über den 31. Dezember 1956 hinaus lediglich bei der in Art. 2 § 42 ArVNG (= Art. 2 § 41 AnVNG) während einer Übergangszeit von fünf Jahren ausnahmsweise vorgeschriebenen Beitragsentrichtung zur Anwartschaftserhaltung für die Rentenberechnung nach altem Recht entsprechend angewandt (so BSG-Urteil vom 26. April 1963 aaO und auch BSG in SozR Nr. 11 zu Art. 2 § 42 ArVNG). Da im vorliegenden Fall die im Dezember 1972 nachentrichteten freiwilligen Beiträge nicht einer derartigen Anwartschaftserhaltung dienten, kommt die Ausfüllung der vom BSG in den beiden genannten Entscheidungen bejahten Gesetzeslücke hier nicht in Betracht. Eine darüber hinausgehende sinngemäße Anwendung der am 1. Januar 1957 außer Kraft getretenen Vorschrift des § 1444 RVO aF (vgl. Art. 3 §§ 2, 8 ArVNG) ist bereits im Hinblick auf den Wortlaut der §§ 1420 Abs. 2 RVO, 142 Abs. 2 AVG nicht gerechtfertigt.
Der Revision muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen