Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensanrechnung aus verschenktem Kapital
Leitsatz (amtlich)
Überträgt eine Witwe ihr als Erbin des Beschädigten zugeflossenes Kapital unentgeltlich auf ihren Sohn - einen Stiefsohn des Beschädigten -, so geschieht dies auch dann ohne verständigen Grund, wenn damit unter Verzicht auf die Einrede der Verjährung Restlohnforderungen des Sohnes gegen den Beschädigten erfüllt werden sollten, die bereits 17 Jahre und mehr zurücklagen (Fortführung von BSG 1966-11-11 10 RV 270/64 = BSGE 25, 262; BSG 1974-03-27 10 RV 113/73 = SozR 3100 § 40a Nr 1 und BSG 1975-11-26 10 RV 125/75 = SozR 3660 § 1 Nr 3).
Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage des "verständigen" Grundes iS des BVG§33DV § 1 Abs 2 S 2.
Normenkette
BVG§33DV § 1 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1975-07-01; BVG§30Abs3u4DV § 12 Fassung: 1974-04-11
Verfahrensgang
SG Lüneburg (Entscheidung vom 07.04.1976; Aktenzeichen S 10 V 109/75) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. April 1976 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die 1916 geborene Klägerin bezieht als Witwe des am 5. November 1973 schädigungsunabhängig verstorbenen Fuhrunternehmers Erich L (L.) Witwenbeihilfe nebst Ausgleichsrente und Schadensausgleich. Von L. ererbte Grundstücke verkaufte sie zum 1. April 1974. Aus dem Verkaufserlös, den sie im übrigen zu Ablösung zweier Hypotheken, zur Tilgung anderer Schulden und zur Anschaffung von Einrichtungsgegenständen verwendete, zahlte sie ihrem 1934 geborenen Sohn, dem Schlosserhelfer Gerhard R (R.), einem Stiefsohn des L., 35.000,- DM mit der Begründung, R. habe früher im Geschäft des L. gearbeitet und dafür kein festes Gehalt, sondern nur Kleidung und Verpflegung bekommen. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1974 setzte das Versorgungsamt Heide die Bezüge der Klägerin ab 1. Januar 1974 vorläufig fest und berücksichtigte beim Bruttoeinkommen einen fiktiven Ertrag aus Kapitalvermögen (Zinssatz 6 vH), weil die Klägerin die Zahlung an R. ohne verständigen Grund bewirkt habe. Den Widerspruch der inzwischen nach Niedersachsen verzogenen Klägerin wies das Landesversorgungsamt Niedersachsen mit Bescheid vom 21. April 1975 zurück.
Während des Klageverfahrens setzte der Beklagte durch Bescheid vom 17. Oktober 1975 die Bezüge der Klägerin für 1974 endgültig und für 1975 vorläufig fest, wobei er von den an R. gezahlten 35.000,- DM 5,5 % Zinsen als fiktives Einkommen anrechnete. Die Klägerin, die sich nunmehr nur noch gegen diesen Bescheid wandte, überreichte dem Sozialgericht (SG) eine Aufstellung der von L. an R. von 1949 bis 1957 gezahlten Entgelte nebst Fotokopien von Aufrechnungsbescheinigungen und behauptete dazu, diese Beträge seien nicht voll ausgezahlt worden. Das SG Lüneburg hat durch Urteil vom 7. April 1976 den Bescheid vom 17. Oktober "1950" (richtig: 1975) abgeändert und den Beklagten verurteilt, an die Klägerin ab 1. April 1974 die einkommensabhängigen Versorgungsleistungen ohne Anrechnung der Zinseinkünfte von 5,5 vH aus dem Betrag von 35.000,- DM zu zahlen. Es hat der Klägerin geglaubt, daß L. die Entgelte an R. in der Zeit von 1949 bis 1957 nicht voll ausgezahlt habe, weil dies in Familienbetrieben so gebräuchlich gewesen sei. Deshalb habe die Klägerin dem R. aus verständigem Grund 35.000,- DM des ihr testamentarisch allein zustehenden Nachlaßerlöses geschenkt, obwohl sie infolge dieser Maßnahme weniger Bargeld aus der Erbschaft erhalten habe als R. und obgleich ihre finanzielle Zukunft keineswegs gesichert gewesen sei. Die moralische Verpflichtung, dem Sohn 35.000,- DM zukommen zu lassen, führe notwendigerweise zu einer Einkommensminderung in Form eines Zinsverlustes, für die der Beklagte nach Meinung der Kammer einzutreten habe.
Dem mit Zustimmung der Klägerin gestellten Antrag des Beklagten, die Sprungrevision gegen das am 3. Mai 1976 zugestellte Urteil zuzulassen, hat das SG mit Beschluß vom 2. Juni 1976 stattgegeben. Am 30. Juni 1976 hat der Beklagte die Revision eingelegt und begründet. Er macht geltend, das Urteil des SG weiche von Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) ab, in denen der unbestimmte Rechtsbegriff des verständigen Grundes in der Weise geklärt worden sei, daß eine Schenkung aus moralischen Gründen keine Verfügung über Vermögenswerte aus verständigem Grund darstelle.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. April 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. April 1976 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zugelassene Sprungrevision ist vom Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 161, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch sachlich begründet.
Zu Recht hat das SG angenommen, daß der Bescheid vom 17. Oktober 1975 allein Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist. Denn dieser Bescheid hat den Bescheid vom 22. Oktober 1974, in dem die einkommensabhängigen Leistungen für 1974 vorläufig festgestellt worden waren, durch seine endgültige Feststellung für diesen Zeitraum ersetzt (§ 96 Abs 1 SGG).
Zu Unrecht hat dagegen das SG den Beklagten für verpflichtet erachtet, die unter den Beteiligten umstrittenen fiktiven Zinserträge bei Berechnung der einkommensabhängigen Leistungen der Klägerin außer Ansatz zu lassen.
Maßgebend für die Berechnung des Schadensausgleichs ist die Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - (DVO § 30) idF vom 11. April 1974 (BGBl I 927), die am 1. Januar 1974 in Kraft getreten ist (vgl § 15 DVO § 30). Die Berechnung der Ausgleichsrente richtet sich nach der Verordnung zur Durchführung des § 33 BVG (DVO § 33) idF vom 9. November 1967 (BGBl I 1140), die durch die späteren Änderungen in den hier maßgebenden Punkten nicht berührt worden ist. Die vom Beklagten bei Berechnung der einkommensabhängigen Leistungen herangezogene Bestimmung des § 1 Abs 2 Satz 2 DVO § 33 regelt zwar unmittelbar nur die Ausgleichsrente; sie ist aber gemäß § 12 DVO § 30, der über § 14 DVO § 33 die Vorschriften der §§ 1 bis 12 DVO § 33 auf Witwen, Witwer und Waisen für entsprechend anwendbar erklärt, auch auf den Schadensausgleich anwendbar. Nach § 1 Abs 2 Satz 2 DVO § 33 ist die Ausgleichsrente dann, wenn der Schwerbeschädigte ohne verständigen Grund über Vermögenswerte in einer Weise verfügt hat, daß dadurch sein bei der Feststellung der Ausgleichsrente zu berücksichtigendes Einkommen gemindert wird, so festzustellen, als hätte er die Verfügung nicht getroffen. Das trifft hier auf die Klägerin als Witwe zu.
Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 27. März 1974 - 10 RV 113/73 - (SozR 3100 § 40 a Nr 1) ausgeführt hat, wird das Versorgungsrechtsverhältnis, soweit es sich um die Gewährung einkommensabhängiger Leistungen handelt, vom Grundsatz der Subsidiarität dieser Leistungen mit der Wirkung beherrscht, daß die Einkommenshilfen des Versorgungsrechts gegenüber der zumutbaren Verwertung eigener Einkommensquellen Nachrang haben. Dabei umfaßt die Verwertung eigener Einkommensquellen nicht nur den vorrangigen Einsatz fließender Einkünfte zum Lebensunterhalt, sondern auch die Verpflichtung, solche Einkommensquellen zu erschließen, bei denen das ohne besondere Aufwendungen mit Aussicht auf Erfolg möglich ist. Der Versorgungsberechtigte muß sich seine Einkommensquellen tunlichst erhalten und somit alles unterlassen, was zu ihren Beeinträchtigung führen würde. Die Klägerin hat hier durch Verschenken von 35.000,- DM des ihr aus der Verwertung ererbter Grundstücke zugeflossenen Vermögens über Vermögenswerte in einer Weise verfügt, daß dadurch ihr bei der Feststellung von einkommensabhängigen Leistungen zu berücksichtigendes Einkommen gemindert wird. Der ersatzlose Kapitalverlust könnte daher gemäß § 1 Abs 2 Satz 2 DVO § 33 bei der Berechnung jener Leistungen nur dann berücksichtigt werden, wenn die Klägerin die Schenkung "aus verständigem Grund" vorgenommen hätte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist ein Grund "verständig" im Sinne des BVG, wenn dabei nicht nur (einseitig) die plausiblen privaten, persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Interessen des Versorgungsberechtigten, sondern ebenso auch die im Zweck der einzelnen Versorgungsleistungen zum Ausdruck gekommenen objektiven Interessen der von der Versorgungsverwaltung vertretenen Allgemeinheit (des Staates) berücksichtigt werden (vgl BSGE 25, 262; Urteile vom 8. März 1966 - 10 RV 708/65 - in BVBl 1966, 119; vom 11. November 1966 - 10 RV 270/64 - in BVBl 1967, 89; vom 14. Oktober 1970 - 10 RV 336/68 - in BVBl 1971, 81 und vom 30. Januar 1969 - 8 RV 125/68 -). Die Klägerin war rechtlich nicht verpflichtet, R 35.000,- DM unentgeltlich zu überlassen. R. war nämlich als Stiefsohn des L. nicht dessen gesetzlicher Erbe (vgl § 1924 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -); eine Erbeinsetzung (§ 1937 BGB) oder ein Vermächtnis (§ 1939 BGB) lager wegen Mangels der hierfür erforderlichen Schriftform (§ 2247 BGB) nicht vor. Wegen Formmangels scheitert auch die Annahme eines Schuldversprechens des L. (§ 780 BGB) und eines Schenkungsversprechens (§ 518 BGB). Rückständige Lohnforderungen aus den Jahren 1949 bis 1957, die allein noch als Rechtsgrund der Leistung in Betracht kommen konnten, waren nach § 196 Nr 9 BGB spätestens am 31. Dezember 1959 in vollem Umfang verjährt. Die Einrede der Verjährung konnte die Klägerin gegenüber R. geltend machen, weil es sich um Verpflichtungen des L. handelte, die als Nachlaßverbindlichkeiten so auf die Klägerin übergegangen waren, wie sie in der Person der L. bestanden hatten (§§ 1922, 1967 BGB).
Grundlage der Schenkung war, wie die Klägerin vorgetragen hat, das Gefühl, moralisch zur Zahlung der 35.000,- DM an ihren Sohn verpflichtet und folglich an einer Verjährungseinrede gehindert zu sein, weil dieser von 1949 bis 1957 ohne ausreichende Bezahlung im Erwerbsgeschäft des L. mitgeholfen hatte. Der erkennende Senat hat aber schon in seinem Urteil vom 11. November 1966 (BSGE 25, 262, 267) Bedenken dagegen geäußert, moralische Verpflichtungen allgemein als verständigen Grund für einkommensmindernde Vermögensverfügungen gelten zu lassen. Er hat sodann im Urteil vom 27. März 1974 (SozR 3100 Nr 1 zu § 40 a BVG) mit näherer Begründung ausgeführt, daß unentgeltliche Zuwendungen der Mutter an ihren wirtschaftlich abgesicherten Sohn bei aller Anerkennung mütterlicher Hilfsbereitschaft nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen dürfen. Und schließlich hat der Senat im Urteil vom 26. November 1975 (SozR 3660 Nr 3 zu § 1 DVO § 33 BVG) auch eine Familientradition nicht als verständigen Grund unentgeltlicher Vermögensübertragung anerkannt und ein Eintretenmüssen der Allgemeinheit für die dem Beschädigten daraus entstandenen Einkommensverluste verneint. Gleiches muß hier gelten. Selbst wenn es moralisch zu billigen wäre, daß die Klägerin (unterstellte) Forderungen ihres Sohnes erfüllen wollte, die gegen dessen Stiefvater bestanden, aber schon seit mindestens 15 Jahren nicht geltend gemacht, jedenfalls aber nicht erfüllt und somit längst verjährt waren, dann darf dieses mütterlicher Fürsorge entspringende Verhalten doch nicht finanziell zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Denn gerade dadurch wurde es letztlich das ihm anhaftende Merkmal persönlicher Opferbereitschaft der Mutter gegenüber dem Sohn notwendigerweise einbüßen.
Ist schon aus diesem Grunde die unentgeltliche Überlassung der 35.000,- DM seitens der Klägerin an R. nicht aus verständigem Grunde in dem oben erläuterten Sinn erfolgt, so bedarf es keines näheren Eingehens mehr auf die Fragen, ob R. überhaupt rückständige Lohnansprüche in dieser Höhe haben konnte, ob es seinerseits moralisch vertretbar war, diese lange Jahre nicht verfolgten Ansprüche nunmehr wieder aufzugreifen, und ob nicht auf die finanzielle Situation der Klägerin Rücksicht zu nehmen gewesen wäre. Der Beklagte war jedenfalls berechtigt, bei Berechnung seiner einkommensabhängigen Leistungen an die Klägerin fiktive Zinserträge aus den dem R. geschenkten 35.000,- DM zu berücksichtigen. Der von ihm angenommene Zinssatz von 5,5 vH entspricht der im Jahre 1974 bei einem Sparbuch mit gesetzlicher Kündigungsfrist zu erzielenden Verzinsung. Eine solche gefahrlose Geldanlage war der Klägerin möglich und zumutbar. Für das Jahr 1975, für das die vom Einkommen abhängigen Versorgungsleistungen noch nicht endgültig festgestellt sind, und ebenso auch für die folgenden Jahre wird der Beklagte zu beachten haben, daß der Einsatz für Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist seit 1974 zurückgegangen ist.
Die Revision des Beklagten ist daher begründet und muß unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Klageabweisung führen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen