Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verurteilung zur rückwirkenden Leistung
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verwaltung zur Gewährung einer im Zugunstenwege bewilligten Leistung rückwirkend für die Zeit vor der Antragstellung verurteilt werden darf.
Leitsatz (redaktionell)
1. Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörde, ob und ggf für welchen Zeitraum sie einem Zugunstenbescheid Rückwirkung beilegen will. Sie handelt nicht von vornherein ermessensfehlerhaft, wenn sie für die Vergangenheit an der Bindung des früheren - unrichtigen - Bescheides festhält.
2. Den Gerichten ist es deshalb verwehrt, die Verwaltung - die hinsichtlich einer eventuellen Rückwirkung der Neuregelung eine Ermessensentscheidung noch nicht getroffen hat und auch nicht hat treffen können, weil sie die Erteilung eines Zugunstenbescheides abgelehnt hat - zur Leistungsgewährung für einen Zeitraum (hier: 4 Jahre) vor Stellung des Zugunstenantrages zu verurteilen. Dies gilt selbst dann, wenn die frühere Entscheidung sich als von Anfang an offensichtlich unzutreffend herausstellt und die Berufung auf die Bindungswirkung des Betroffenen gegenüber außerdem eine dem Gerechtigkeitsempfinden widerstreitende Härte wäre.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 4 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 27.11.1975; Aktenzeichen L 2 V 55/73) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 28.02.1973; Aktenzeichen S 6 V 88/72) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. November 1975 aufgehoben, soweit der Beklagte zur Gewährung von Berufsschadenausgleich auch für die Zeit vom 1. November 1967 bis zum 31. Oktober 1971 verurteilt worden ist.
Insoweit wird der Beklagte verpflichtet, dem Kläger über diesen Zeitraum einen neuen Bescheid zu erteilen. Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten verurteilen durfte, dem Kläger rückwirkend für die Zeit vor der Antragstellung Berufsschadensausgleich im Zugunstenwege zu gewähren.
Der im Jahre 1910 geborene Kläger, der aufgrund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ua wegen Verlustes des rechten Oberarms Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH bezieht, hat nach bestandener Reifeprüfung das Schriftsetzerhandwerk erlernt. Nach zweijährigem Besuch der Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker legte er am 18. Januar 1936 die Meisterprüfung im Schriftsetzer- und Buchdruckerhandwerk ab. Er arbeitete zunächst unselbständig und übernahm nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1938 dessen Druckereibetrieb in Stettin. Nach Wehrdienst, Verwundung und Entlassung aus der Wehrmacht am 15. Mai 1943 leitete er wieder sein Unternehmen, das ihm durch den Ausgang des Krieges verlorenging. Vom 1. Dezember 1945 bis zum 14. August 1946 nahm er an einem Lehrgang zur Ausbildung von Neulehrern teil und war nach Bestehen der Abschlußprüfung bis zu seiner Flucht im Jahre 1948 als Lehrer in G tätig. Im Bundesgebiet war er seit dem 1. April 1948 zunächst als nebenberufliche und anschließend als vollbeschäftigte Lehrkraft im Angestelltenverhältnis an der Gewerbeschule L tätig; er erhielt zuletzt Bezüge nach der Vergütungsgruppe Vb TO.A. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund eines vor dem Landesarbeitsgericht Kiel abgeschlossenen Vergleichs am 28. Februar 1961. Danach arbeitete der Kläger nur noch einmal drei Monate lang als Betriebsrechner. Ab 1. Juni 1970 wurde ihm vorgezogenes Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung bewilligt.
Sein Antrag vom 5. Februar 1964 auf Gewährung von Berufsschadensausgleich war im Verwaltungsverfahren erfolglos (Bescheid des Versorgungsamtes - VersorgA - Lübeck vom 6. Januar 1966; Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA - Schleswig-Holstein vom 3. November 1967). Das Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck vom 17. September 1969, durch welches dem Kläger für die Zeit ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung des Endgrundgehaltes der Besoldungsgruppe A 11 des Bundesbesoldungsgesetzes BBesG) als Durchschnittseinkommen zugesprochen worden war, wurde auf die Berufung des Beklagten durch Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 18. Februar 1971 aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil ein schädigungsbedingter Einkommensverlust nicht festgestellt werden könne; als selbständiger Inhaber eines kleinen Druckereibetriebes hätte der Kläger ein weit geringeres Einkommen erzielt als in seiner Stellung als Gewerbelehrer, deren Verlust nicht auf die Schädigungsfolgen zurückzuführen sei. Die Revision des Klägers wurde durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Juni 1971 als unzulässig verworfen.
Am 25. November 1971 beantragte der Kläger erneut die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs. Das VersorgA sah hierin einen Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides und lehnte ihn durch Mitteilung vom 12. Januar 1972 ab. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid des LVersorgA vom 11. Juli 1972; Urteil des SG Lübeck vom 28. Februar 1973). Auf die Berufung des Klägers hat das LSG durch Urteil vom 27. November 1975 unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1967 Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 11 BBesG zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Ablehnung eines Zugunstenbescheides sei ermessenswidrig, weil der Bescheid vom 6. Januar 1966 unrichtig gewesen sei. Da jede andere Ermessensentscheidung einen Ermessensfehler darstellen würde, habe es (das LSG) sich nicht darauf zu beschränken brauchen, die ermessenswidrigen Bescheide aufzuheben, sondern selbst dem Kläger die begehrte Leistung zusprechen können. Nach dessen Schulbildung, Ausbildung und beruflicher Entwicklung sei anzunehmen, daß er ohne den als Schädigungsfolge anerkannten Verlust des rechten Oberarms heute wahrscheinlich als selbständiger Buchdruckermeister tätig wäre. Dieser selbständigen Tätigkeit habe seine Stellung als technische Lehrkraft an der Gewerbeschule L, die mit der eines beamteten Gewerbelehrers weder wirtschaftlich noch sozial vergleichbar gewesen sei, nicht entsprochen. Ihm stehe daher ein Berufsschadensausgleich zu, dessen Berechnung nach § 5 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 und 4 BVG das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 11 BBesG als Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt werden müsse. Der Berufsschadensausgleich sei dem Kläger entsprechend seinem Berufungsantrag ab 1. November 1967 zuzuerkennen. Zwar habe er den Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides erst im November 1971 gestellt. Es erscheine jedoch geboten, dem neuen Bescheid eine vierjährige Rückwirkung beizulegen. Diese Entscheidung hätte auch der Beklagte ohne Ermessensfehler nicht anders treffen können, weil dem Kläger, der es nicht zu vertreten habe, daß sein im Jahre 1964 gestellter Antrag erfolglos geblieben sei, ohne Rückwirkung diese Versorgungsleistung für fast acht Jahre entgehe. Er beziehe seit März 1961 kein Arbeitseinkommen mehr, und es sei nicht ersichtlich, daß andere Stellen auf die Nachzahlung Ersatzanspruch erheben würden.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Auf die Beschwerde des Beklagten hat der Senat durch Beschluß vom 11. August 1976 die Revision insoweit zugelassen, als der Beklagte zur Gewährung von Berufsschadensausgleich "ab 1. November 1967" verurteilt worden ist.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 40 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG). Es müsse dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörde überlassen bleiben, von welchem Zeitpunkt ab eine Zugunstenregelung eintreten solle. Im vorliegenden Fall habe er - der Beklagte - sein Ermessen hinsichtlich einer über den Antragsmonat hinaus zurückwirkenden Zuerkennung des Anspruchs auf Berufsschadensausgleich noch nicht ausgeübt und insoweit weder die Grenzen seines Ermessens überschreiten noch von dem Ermessen einen zweckwidrigen Gebrauch machen können. Das LSG habe bei der Verurteilung zu einer rückwirkenden Leistung den Grundsatz der Gewaltenteilung und die Grenzen des § 40 Abs 1 VerwVG nicht beachtet. Daß in der Vergangenheit eine unrichtige Entscheidung ergangen sei, sei denknotwendig immer die Voraussetzung dafür, daß nunmehr überhaupt die Gewährung von Versorgungsleistungen in Betracht komme. Da der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber dem Prinzip der Rechtssicherheit für die Vergangenheit kein Vorrang einzuräumen sei, höben sich materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Argumente für die zu treffende Entscheidung wegen ihrer Gleichwertigkeit gleichsam auf. Es müsse daher nach anderen Kriterien für eine sachgerechte Entscheidung der Frage der Rückwirkung gesucht werden. Bei grobem Verschulden an der unrichtigen Entscheidung sei er - der Beklagte - grundsätzlich bereit, dem Zugunstenbescheid Rückwirkung auch über einen Zeitraum von vier Jahren hinaus beizulegen. Bei leichteren Verstößen komme im allgemeinen eine Rückwirkung von vier Jahren in Betracht. Könne der Versorgungsverwaltung der Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung nicht gemacht werden, so habe eine Rückwirkung für die Zeit vor der Antragstellung zu unterbleiben. Danach komme hier eine rückwirkende Gewährung von Leistungen nicht in Betracht, weil selbst das LSG in seinem rechtskräftigen Urteil vom 18. Februar 1971 das Vorliegen eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes verneint und damit die ablehnende Entscheidung der Verwaltung bestätigt habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. November 1975 insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als es die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs für die Zeit vom 1. November 1967 bis zum 31. Oktober 1971 betrifft,
hilfsweise: den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, daß allein schon die Existenz des § 40 VerwVG den Vorrang der materiellen Gerechtigkeit beweise. Die Frage der Rückwirkung sei daher an Grundsätzen der Gerechtigkeit und nicht am Ausmaß des Verschuldens der Versorgungsverwaltung auszurichten. Im übrigen werde ihm - dem Kläger - durch grobe Pflichtversäumnisse des Beklagten seit 1967 die Zahlung des Berufsschadensausgleichs vorenthalten. Schon nach dem Urteil des SG vom 17. September 1969 hätte eine ernsthafte Prüfung der ablehnenden Haltung des LVersorgA einsetzen müssen. Statt dessen hätten die Juristen des Beklagten nicht verhindert, daß ein in Namen des LVersorgA abgegebener Berufungsschriftsatz Verwirrung geschaffen habe und das SLG irrtümlich dieser Argumentation gefolgt sei. Trotz des obsiegenden Urteils hätte der Beklagte den allein der wahren Rechtslage entsprechenden Zugunstenbescheid erlassen müssen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch nachträgliche Zulassung statthafte Revision ist zulässig und insoweit begründet, als der Beklagte sich gegen seine Verurteilung zur Gewährung von Berufsschadensausgleich auch für die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. Oktober 1971 wendet. Insoweit ist er lediglich zur Erteilung eines neuen Bescheids verpflichtet.
Mit seiner Berufung gegen das Urteil des SG vom 28. Februar 1973, durch welches seine Klage auf Erteilung eines Zugunstenbescheides abgewiesen worden ist, hat der Kläger in Einschränkung seines ursprünglichen Klageantrages nur noch beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ab 1. November 1967 Berufsschadensausgleich zu gewähren. Damit steht rechtskräftig fest, daß dem Kläger diese Versorgungsleistung - auch im Zugunstenwege - für die Zeit vor dem 1. November 1967 nicht zusteht. Andererseits hat der Beklagte entsprechend der Zulassung durch den Beschluß des Senats vom 11. August 1976 Revision nur insoweit eingelegt, als er zur Gewährung des Berufsschadensausgleichs für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum verurteilt worden ist. Damit ist seine Verurteilung zur Gewährung der Leistung ab 1. November 1971 ebenfalls rechtskräftig geworden. Im Revisionsverfahren geht es somit nur noch um die Frage, ob der Beklagte zur Gewährung von Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. Oktober 1971 verpflichtet ist und insoweit zur Leistung hat verurteilt werden dürfen. Dies hat das LSG zu Unrecht für zulässig gehalten.
Das LSG hat seine Entscheidung auf § 40 Abs 1 VerwVG gestützt. Danach kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Wie das BSG in ständiger Rechtsprechung ausgeführt hat, räumt diese Vorschrift der Verwaltung ein Ermessen vor allem in zwei Richtungen ein, nämlich dahin, "ob", und darüber, "von wann an" sie einen früher ergangenen, bindend gewordenen Bescheid zugunsten des Berechtigten abändern will. Stellt sich jedoch heraus, daß der frühere Bescheid unrichtig ist, so hat die Verwaltung kein Ermessen in der Richtung mehr, "ob" sie einen neuen Bescheid zugunsten des Berechtigten erteilen will; sie ist dann vielmehr hierzu verpflichtet und ihr Ermessen auf die Entscheidung der Frage verengt, ob und inwieweit sie dem neuen Bescheid Rückwirkung beilegen will (vgl BSGE 19, 12 = SozR VerwVG § 40 Nr 6; BSGE 26, 146 = SozR VerwVG § 40 Nr 10; BSGE 29, 278 = SozR VerwVG § 40 Nr 12; BSGE 36, 21 = SozR BVG § 30 Nr 66; BSG BVBl 1969, 85; BSG KOV 1970, 61, jeweils mit weiteren Nachweisen; BSG SozR 3100 § 30 Nr 8; vgl nunmehr auch Urteil des Senats vom 22. September 1977 - 10 RV 15/77 -).
Das LSG hat auf den Zugunstenantrag des Klägers vom November 1971 den Beklagten verurteilt, dem Kläger Berufsschadensausgleich zu gewähren und diese Leistung bereits ab 1. November 1967 zu zahlen. Es ist damit bei der Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der Leistung dem Grunde nach im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG geblieben und ihr auch insoweit gefolgt, als es sich dadurch, daß die frühere Ablehnung in einem gerichtlichen Verfahren bestätigt worden ist, nicht an dem Erlaß einer neuen Sachentscheidung gehindert gesehen hat (vgl BSG SozR 1500 § 141 Nr 2; ferner BSG SozR 3900 § 40 Nr 2 und 3).
Soweit es hingegen den Beklagten zur Gewährung von Berufsschadensausgleich für einen vor der Antragstellung im Verwaltungsverfahren liegenden Zeitraum verurteilt hat, ist es von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Das BSG hat stets betont, daß es im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörde liegt, ob überhaupt und gegebenenfalls für welchen Zeitraum sie einem Zugunstenbescheid Rückwirkung beilegen wolle. Die Ausführungen des Klägers in seiner Revisionserwiderung sind nicht geeignet, den erkennenden Senat zur Aufgabe dieser Rechtsprechung zu veranlassen. Zu der Argumentation des Klägers, der in § 40 Abs 1 VerwVG zum Ausdruck kommende Vorrang der Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit zwinge dazu, jedem Zugunstenbescheid Rückwirkung beizulegen, hat der erkennende Senat vor allem in seinem Urteil vom 14. März 1967 (BSGE 26, 146 = SozR VerwVG § 40 Nr 10) ausführlich Stellung genommen und darin (aaO, S 149 ff) betont, daß bei festgestellter Unrichtigkeit eines früheren Bescheides die Verwaltung zwar dem Grundsatz der Gerechtigkeit Vorrang gegenüber dem Grundsatz der Rechtssicherheit einräumen müsse. Das bedeute aber nicht, daß sie die Neuregelung auch zeitlich rückwirkend an die Stelle der unrichtigen Entscheidung setzen müsse. Der Wortlaut des § 40 Abs 1 VerwVG schränke weder das Recht der Verwaltungsbehörde ein, frei darüber zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die Neuregelung eintreten solle, noch werde dadurch die Verwaltungsbehörde verpflichtet, von einem bestimmten Zeitpunkt an die günstige Regelung zu treffen. Auch der Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung, der in Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG) normiert sei und daher Verfassungsrang habe (vgl neuerdings BVerfGE 30, 392 und in NJW 1977, 1053), besage nicht, daß die Verwaltung allein die materiell-rechtlichen Gesetze zu beachten und damit ausschließlich den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zu verwirklichen habe. Vielmehr bedeute er, daß die Verwaltung alle Gesetze einschließlich derjenigen zu wahren habe, welche die Bindungswirkung von Verwaltungsakten und die Rechtskraft von Urteilen betreffen (§ 24 VerwVG; §§ 77, 141 SGG). An der hieraus gezogenen Schlußfolgerung, daß die Verwaltung nicht von vornherein ermessensfehlerhaft handele, wenn sie für die Vergangenheit dem Prinzip der Rechtssicherheit den Vorrang gegenüber dem der materiellen Gerechtigkeit einräume, hält der erkennende Senat fest (vgl auch BSGE 40, 120 = SozR 3100 § 30 Nr 8). Das muß um so mehr gelten, als in neueren Gesetzen (vgl Art I § 40 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs, Allgemeiner Teil - SGB 1 - vom 11. Dezember 1975, BGBl I S 3015; § 89 Abs 3 BVG in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungs- und des Bundesversorgungsgesetzes - - HStruktG-AFG - vom 18. Dezember 1975, BGBl I S 3113; § 19 des Sozialgesetzbuchs, Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB 4 - vom 23. Dezember 1976, BGBl I S 3845) auch der Gesetzgeber von dem Grundgedanken ausgegangen ist, daß Ermessensleistungen im allgemeinen nicht rückwirkend zu gewähren sind.
Im vorliegenden Fall hat, wie der Beklagte zutreffend hervorhebt, die Verwaltung eine Ermessensentscheidung hinsichtlich einer eventuellen Rückwirkung der Neuregelung noch gar nicht getroffen und nicht treffen können, weil sie die Gewährung von Berufsschadensausgleich im Zugunstenwege bereits dem Grunde nach abgelehnt hat. Durch die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Berufsschadensausgleich auch für einen Zeitraum von vier Jahren vor der Antragstellung hat das LSG sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung gesetzt. Das ist dem Gericht verwehrt (vgl BSGE 2, 148; 7, 49; 9, 239; 15, 161), weil es kein eigenes Ermessen auszuüben, sondern nur die Ermessensentscheidung der Verwaltung zu überprüfen hat. Etwas anderes kann auch dem Urteil des BSG vom 4. Februar 1976 (BSG SozR 3900 § 40 Nr 5) nicht entnommen werden. Danach ist die Rückwirkung einer Zugunstenregelung dann nicht auf vier Kalenderjahre zu begrenzen, wenn die frühere Entscheidung sich als von Anfang an offensichtlich unzutreffend herausstellt und zur Kenntnis der Fehlerhaftigkeit dieser Entscheidung besondere Umstände hinzutreten, welche die Berufung der Behörde auf die Bindungswirkung gegenüber dem Betroffenen als eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte erscheinen lassen. Selbst unter dieser Voraussetzung kann jedoch das Gericht nicht als befugt angesehen werden, ohne eine vorhergegangene Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die Frage der Rückwirkung des Zugunstenbescheides und ihrer Dauer zu befinden. Vielmehr ist auch im Urteil vom 4. Februar 1976 kein Zweifel daran gelassen worden, daß es zunächst der Verwaltung obliegt, über eine Rückwirkung zu entscheiden, wobei der Zeitraum von vier Jahren keine absolute Grenze sein darf.
Ob das Gericht die Verwaltung dann, wenn jeder andere Zeitpunkt einen Ermessensfehlgebrauch darstellt, dazu verurteilen darf, der Neuregelung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Rückwirkung beizulegen (vgl Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 54, Anm 2 f, S. 185/6), kann dahingestellt bleiben. Denn die vom LSG dafür gegebene Begründung, daß im vorliegenden Fall die Zahlung des Berufsschadensausgleichs schon vier Jahre vor dem Antragsmonat beginnen müsse, spricht nicht eindeutig für diesen als den einzigen Zeitpunkt und ist zudem in mancherlei Hinsicht rechtlich unzutreffend. Das gilt zunächst insoweit, als es nach Ansicht des LSG der Kläger nicht zu vertreten hat, daß er aufgrund seines im Jahre 1964 gestellten Antrags keinen Berufsschadensausgleich bekommen hat. Die Revision des Klägers im ersten Verfahren ist durch Beschluß des BSG vom 9. Juni 1971 deshalb als unzulässig verworfen worden, weil der Kläger die Revisionsbegründungsfrist versäumt hatte. Daß das BSG somit nicht in der Sache hat entscheiden und das Urteil des LSG möglicherweise hat berichtigen können, hat insoweit an dem verfahrensfehlerhaften Verhalten des Klägers gelegen. Ebensowenig kann das Erfordernis einer Rückwirkung allein damit begründet werden, daß dem Berechtigten in der Vergangenheit ihm zustehende Leistungen entgangen sind. Dies ist eine Folge der Unrichtigkeit des Bescheides, die ihrerseits Voraussetzung dafür ist, daß überhaupt ein Zugunstenbescheid erteilt werden muß (vgl BSG SozR 3900 § 40 Nr 5). Würde hiermit auch die rückwirkende Gewährung begründet werden können, so müßte diese bei jedem Zugunstenbescheid ausgesprochen werden - ein Ergebnis, das mit dem oben beschriebenen Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren ist. Auch der Umstand, daß der Kläger seit 1961 in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, zwingt nicht dazu, eine Rückwirkung von vier Jahren als die einzige Möglichkeit einer fehlerfreien Entscheidung anzunehmen. Das BSG hat zwar wiederholt ausgesprochen, daß die Verwaltung sich mit einer auf vier Jahre bemessenen Neuordnung des Versorgungsrechtsverhältnisses begnügen darf, wenn auf eine bedrängte wirtschaftliche Lage des Betroffenen Rücksicht zu nehmen ist (vgl BSGE 26, 146 = SozR VerwVG § 40 Nr 10; BSG BVBl 1970, 128, 130 f). Damit ist aber nicht gesagt, daß sich die Verwaltung stets an jene vier Jahre halten müsse, eine solche Frist also die einzige ermessensfehlerfreie Gestaltung sei und deswegen ein Gericht insoweit eine Verurteilung der Verwaltung aussprechen dürfe. Daß schließlich - was der Beklagte bestreitet - Erstattungsansprüche anderer Stellen nicht zu erwarten seien, ist - wie der Kläger zutreffend hervorhebt - eine Frage, die erst dann gestellt werden kann, wenn eine Rückwirkung bereits ausgesprochen worden ist; sie kann also nicht als Begründung hierfür dienen.
Auch die vom Kläger im Revisionsverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte, soweit sie überhaupt substantiiert sind, zwingen nicht dazu, die Rückwirkung von vier Jahren als die einzig denkbare Möglichkeit einer fehlerfreien Ermessensentscheidung anzusehen. Daß die Verwaltung das dem Kläger günstige Urteil des SG Lübeck vom 17. September 1969 nicht zum Anlaß eines Zugunstenbescheides hat nehmen müssen, folgt bereits aus § 154 Abs 2 SGG. Danach bewirkt in der Kriegsopferversorgung die Berufung eines Landes Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlaß des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Diesem Ziel des § 154 Abs 2 SGG würde ein rückwirkender Zugunstenbescheid zuwiderlaufen. Die Verwaltung kann auch nicht dazu verpflichtet sein, von dem ihr - wie jedem anderen durch ein Urteil beschwerten Beteiligten - zustehenden Recht der Einlegung eines Rechtsmittels keinen Gebrauch zu machen, um dem Beschädigten einen Zugunstenbescheid erteilen zu können. Die anderen vom Kläger vorgetragenen Gründe liegen neben der Sache. Der "jüngere Angestellte" und "unerfahrene Verfahrensvertreter", der den Berufungsschriftsatz abgefaßt hat, ist ausweislich des Protokolls der öffentlichen Verhandlung vor dem LSG vom 18. Februar 1971 ein Regierungsrat gewesen. Immerhin haben die von ihm vorgetragenen, angeblich "völlig abwegigen Argumente" bewirkt, daß das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen hat. Wenn sich der Beklagte an dieses Urteil gehalten hat, so kann ihm dies im Rahmen der Frage, ob und inwieweit dem Zugunstenbescheid Rückwirkung beizulegen ist, nicht zum Nachteil angelastet werden.
Die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. Oktober 1971 kann nach alledem keinen Bestand haben. Andererseits kommt aus denselben Erwägungen auch eine Abweisung der Klage entsprechend dem Hauptantrag der Revision nicht in Betracht. Vielmehr wird der Beklagte zunächst die bisher noch nicht getroffene Ermessensentscheidung nachzuholen haben, ob und gegebenenfalls für welchen Zeitraum vor dem 1. November 1971 er dem Kläger rückwirkend Berufsschadensausgleich im Zugunstenwege gewähren will. Die Verpflichtung hierzu (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) hat der Senat selbst aussprechen können (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG), so daß für die vom Beklagten hilfsweise beantragte Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht keine Veranlassung bestanden hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen