Leitsatz (redaktionell)
1. Der Beschluß des GrS des BSG vom 1976-12-10 GS 2/75 = BSGE 43, 75 ist grundsätzlich nur auf solche Personen anzuwenden, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten können. Nicht anzuwenden ist dagegen der Beschluß auf Personen, die zwar aus gesundheitlichen Gründen in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sind und bestimmte Tätigkeiten nicht mehr verrichten können, aber noch zu einer anderen Vollzeittätigkeit fähig sind.
2. Ausnahmen von diesem Grundsatz können allenfalls für die Vollzeittätigkeiten in Betracht kommen, die von Tarifverträgen erfaßt sind, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn ein Versicherter zwar noch Vollzeittätigkeiten unter solchen Bedingungen verrichten kann, er aber aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze dieser Art von seiner Wohnung aus aufzusuchen. Solange einem Betroffenen noch durch Tarifverträge erfaßte Vollzeittätigkeiten zugemutet werden können, ist es ohne wesentliche Bedeutung für die Beurteilung von BU und EU, ob der Betroffene für diese Tätigkeit einen offenen Arbeitsplatz findet. Dieses Risiko trägt die ArblV und nicht die RV.
Normenkette
GAL § 2 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1965-09-14, § 40 Abs. 1 S. 1 Buchst. a Fassung: 1965-09-14, § 41 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1969-07-29; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.05.1976; Aktenzeichen L 10 J 430/75) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 27.11.1974; Aktenzeichen S 4 J 94/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 1976 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der am 17. Oktober 1976 geborene Kläger ist gelernter Schlosser und war in diesem Beruf zuletzt als Maschinenschlosser bei einer Straßenbaufirma bis zum 21. Juli 1973 versicherungspflichtig tätig. Seitdem ist er arbeitslos bzw. arbeitsunfähig krank.
Am 27. Juli 1973 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Zahlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, weil er sich wegen Gicht und Knie- und Rückenbeschwerden nicht mehr in der Lage fühle, seinen erlernten Beruf weiter auszuüben. Mit Bescheid vom 11. Februar 1974 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit der Begründung ab, er sei noch nicht berufsunfähig.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 20. Februar 1974 Klage beim Sozialgericht (SG) Hildesheim. Dieses hat mit Urteil vom 27. November 1974 die Klage abgewiesen. Auf die dagegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 26. Mai 1976 das Urteil des SG und den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1. August 1973 bis 27. Oktober 1975 Übergangsgeld und vom 26. November 1975 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger genieße Berufsschutz als Maschinenschlosser und könne in diesem Beruf aus krankheitsbedingten Gründen nicht mehr erwerbstätig sein. In Betracht kämen für ihn allenfalls noch Kontrollarbeiten in der Baumaschinenindustrie oder der sonstigen Metallindustrie, denen er aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen fachlich gewachsen sein müßte. Derartige Arbeitsplätze seien aber im Erwerbsleben fast ausschließlich Betriebsangehörigen vorbehalten, wie dem Senat aus einer Reihe von Firmenauskünften in anderen Verfahren bekannt sei, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen seien. Mit qualifizierten Kontrollarbeiten betrauten Industrieunternehmen langjährige Mitarbeiter, um gerade deren spezifische Betriebserfahrungen auszunutzen und andererseits deren sozialen Erwartungen zu entsprechen. Arbeitsplätze, an denen Facharbeiterberufen vergleichbare Anforderungen gestellt würden, ständen daher dem freien Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, wie der Senat in mehreren Urteilen bereits eingehend dargelegt habe, auf die Bezug genommen werde, da die Beklagte an diesem Verfahren auch beteiligt gewesen sei. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der von ihr eingelegten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 32 und 128 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision gegen das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts zurückzuweisen.
Der Kläger hält das Berufungsurteil für richtig.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Der erkennende Senat hat bereits mehrfach entschieden, daß bei Prüfung einer Berufsunfähigkeit i.S. des § 1246 Abs. 2 RVO oder einer Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO davon auszugehen ist, daß es grundsätzlich für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl Arbeitsplätze - seien sie offen oder besetzt - jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind. Man kann davon ausgehen, daß die Tarifvertragsparteien nur solche Tätigkeiten in die Tarifverträge aufnehmen, bei denen dies der Fall ist. Ohne wesentliche Bedeutung ist es, ob der Versicherte für diese Tätigkeiten einen offenen Arbeitsplatz findet oder ob dies nicht der Fall ist, denn das Risiko, einen offenen Arbeitsplatz zu finden, trägt die Arbeitslosenversicherung und nicht die Rentenversicherung. Auf Vollzeittätigkeiten kann daher die Rechtsprechung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden. Für Teilzeitarbeitskräfte liegen die Verhältnisse deshalb anders, weil die Tarifvertragsparteien beim Abschluß von Tarifverträgen nur Vollzeittätigkeiten und nicht Teilzeittätigkeiten in ihrem Blickfeld haben. Bei Teilzeitarbeitskräften kann also nicht unterstellt werden, daß es für die von Tarifverträgen erfaßten Tätigkeiten Arbeitsplätze in hinreichender Zahl gibt. Für Vollzeittätigkeiten, die von Tarifverträgen erfaßt sind, könnten Ausnahmen allenfalls dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn ein Versicherter zwar noch Vollzeittätigkeiten unter solchen Bedingungen verrichten kann, er aber aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze dieser Art von seiner Wohnung aus aufzusuchen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - und SozR Nrn. 86 und 108 zu § 1246 RVO). Es ist deshalb nicht statthaft, daß das LSG alle attraktiven Montier- und Kontrollarbeiten von der Verweisung ausschließt, weil sie im Erwerbsleben angeblich fast ausschließlich eigenen Betriebsangehörigen vorbehalten sind. Da das Urteil des LSG auf dieser unrichtigen Ausschließung einer großen Gruppe von Tätigkeiten für die Verweisung beruht, mußte es aufgehoben werden. Der Senat konnte aber nicht abschließend über die Sache entscheiden, weil es hierfür an den notwendigen Tatsachenfeststellungen fehlt.
Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger den Facharbeiterberuf des Maschinenschlossers aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen, so daß von diesem Beruf bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit i.S. des § 1246 Abs. 2 RVO als bisherigem Beruf (Hauptberuf) auszugehen ist. Voraussetzung jeder Verweisung ist, daß der Versicherte die Verweisungstätigkeit nach seinem Gesundheitszustand und nach seinen beruflichen Fähigkeiten verrichten kann. Für das letztere gilt, daß grundsätzlich keine Verweisung auf Tätigkeiten erfolgen kann, die eine Ausbildung oder eine betriebliche Einweisung und Einarbeitung von mehr als drei Monaten erfordern, solange die Einweisung und Einarbeitung noch nicht abgeschlossen ist (vgl. hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1976 - 5 RJ 86/73 - und SozR Nr. 40 zu § 45 Reichsknappschaftsgesetz - RKG- und SozR Nr. 54 zu § 1246 RVO). Etwas anderes kann gelten, wenn es sich um eine mit dem bisherigen Beruf (Hauptberuf) des Versicherten verwandte Tätigkeit handelt oder wenn der Versicherte eine solche Tätigkeit schon früher einmal verrichtet hat. Auch dann, wenn dem Versicherten eine solche Tätigkeit mit im wesentlichen voller Entlohnung angeboten wird oder wenn er sie mit dieser Entlohnung ausübt, ist eine Verweisung auf solche Tätigkeiten möglich, die eine längere Einweisungs- und Einarbeitungszeit als drei Monate erfordern.
Zur Breite der Zumutbarkeit einer Verweisung auf Tätigkeiten, die der Kläger nach seinem Gesundheitszustand und seinen beruflichen Fähigkeiten noch verrichten kann, wird das LSG die einschlägige Rechtsprechung des BSG zu beachten haben. Als Facharbeiter kann der Kläger auf alle Lehr- und Anlernberufe (Ausbildungsberufe) verwiesen werden, aber auch auf solche gehobenen ungelernten Tätigkeiten, die wegen ihrer betrieblichen Bedeutung angelernten Tätigkeiten gleichstehen (SozR 2200 § 1246 Nrn. 4 und 11). Für eine Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten sind konkrete Feststellungen erforderlich, allgemeine Behauptungen genügen hierfür nicht. Ein wichtiges Indiz für die Beurteilung, ob es sich um eine gehobene ungelernte Tätigkeit mit einer entsprechenden betrieblichen Bedeutung handelt, ist in der Regel ihre tarifliche Einstufung (SozR Nr. 80 zu § 1246 RVO). Ein Facharbeiter wird daher in der Regel nur auf solche ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden können, die tariflich wie Anlerntätigkeiten eingestuft sind. Bei der Prüfung, welche Tarifverträge des betreffenden Tarifbezirks für die Ermittlung der betrieblichen Bedeutung bestimmter Tätigkeiten heranzuziehen sind, ist zunächst in dem für den bisherigen Beruf (Hauptberuf) des Versicherten maßgebenden Tarifvertrag nachzuforschen. Gegebenenfalls sind aber auch andere Tarifverträge desselben Tarifbezirks zu berücksichtigen, wobei vor anging zu versuchen ist, dem bisherigen Beruf verwandte Tätigkeiten aufzufinden. Zu beachten ist aber, daß es Tätigkeiten gibt, die nicht wegen ihrer betrieblichen Bedeutung, sondern aus anderen Gründen, beispielsweise weil es sich um Akkordarbeiten oder um Mangelberufe handelt oder weil diese Tätigkeiten mit besonderen Erschwernissen und Belastungen (z.B. schmutzige Arbeit, Nachtarbeit) verbunden sind, begünstigt sind. Die Verwaltungen und die Gerichte können sich im übrigen auf die Heranziehung derjenigen Tarifverträge beschränken, die für den betreffenden Tarifbezirk wegen der großen Zahl der von ihr erfaßten Arbeitnehmer repräsentativ sind. Außer Betracht müssen bei der Prüfung, ob ungelernte Arbeiten in ihrer betrieblichen Bedeutung Ausbildungsberufen gleichstehen, solche Tarifverträge bleiben, die nach ihrer Struktur, insbesondere nach der allgemeinen Lohnhöhe in Vergleich mit dem für den bisherigen Beruf maßgebenden Tarifvertrag so wesentlich abweichen, daß sie nicht mehr als vergleichbar angesehen werden können. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Ecklohn bzw. der - jeweils niedrigste - Facharbeiterlohn gegenüber dem entsprechenden Tariflohn des für den Hauptberuf maßgebenden Tarifvertrages mehr als 20% niedriger ist. Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit hat jedoch die Frage, welche erhebliche Lohneinbuße ein Versicherter im Einzelfall in Kauf zu nehmen hat, keine Bedeutung.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen