Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung auf Teilbereiche
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob ein Versicherter auf eine tariflich erfaßte Tätigkeit auch dann verwiesen werden kann, wenn er nur in Teilbereichen dieser Tätigkeit arbeiten kann.
Leitsatz (redaktionell)
Stellt eine in einem Tarifvertrag aufgeführte Tätigkeit, die durch diesen Tarifvertrag einheitlich behandelt, also nicht nach bestimmten Merkmalen unterteilt ist, je nach der Eigenart der jeweiligen Arbeitsplätze unterschiedliche Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit, so läßt sich die Frage nicht generell beantworten, ob die Verweisung auf diese Tätigkeit ausgeschlossen ist, wenn der Versicherte sie nicht an allen, sondern nur an bestimmten Arbeitsplätzen verrichten kann; bietet sich nach den in dem Tarifbezirk vorherrschenden betrieblichen Verhältnissen die Unterteilung einer solchen Tätigkeit an, so kann eine Verweisung auf diese Tätigkeit auch dann erfolgen, wenn der Versicherte nur in einem betrieblichen Teilbereich diese Tätigkeit verrichten kann. Das kann nur dann nicht gelten, wenn dieser betriebliche Teilbereich nur so wenige Arbeitsplätze aufweist, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fallen.
Normenkette
RKG § 45 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-05-21, Abs. 2 Fassung: 1957-05-21
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.04.1976; Aktenzeichen L 2 Kn 105/74) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 25.03.1974; Aktenzeichen S 9 Kn 27/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. April 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs 1 Nr 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zusteht.
Der Kläger hat die Tätigkeit eines Hauers im Jahre 1973 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen und ist danach zunächst als Bandwärter und seit dem 28. Oktober 1973 als Maschinenwärter unter Tage eingesetzt worden.
Die Beklagte lehnte den am 16. Mai 1972 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 1. Dezember 1972 ab, weil der Kläger weder berufsunfähig nach § 46 Abs 2 RKG noch vermindert bergmännisch berufsfähig nach § 45 Abs 2 RKG sei. Der auf die Bergmannsrente beschränkte Widerspruch und die Klage hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. April 1976 auf die Berufung des Klägers das Urteil des Sozialgerichts (SG) abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juni 1972 an die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei vermindert bergmännisch berufsfähig. Er könne keine Tätigkeiten in knappschaftlichen Betrieben verrichten, auf die er nach § 45 Abs 2 RKG verwiesen werden könne. Für die Tätigkeiten eines Förderaufsehers 2, Blindschachtmaschinisten, Lokomotivfahrers, Heildieners, Berufskraftfahrers, Grubenrettungsgerätewartes, Maschinisten 1 und 2, Probenehmers 2, Rangierers 1, Laboratoriumshelfers und Anschlägers 2 fehlten ihm die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Auch auf die Aufstiegsstellen eines Platz-, Gleisbau- und Magazinvorarbeiters sowie Ersten Kauenwärters könne der Kläger ebenfalls nicht verwiesen werden. Die Tätigkeiten eines Hängebankarbeiters 2, Aufbereitungsarbeiters, Sägearbeiters, Hauptpförtners, Elektrokarrenfahrers, Kantinenarbeiters, Anschlägers 1, Maschinenwärters, Magazinarbeiters, Klaubers, Probenehmers 1, Küchenhilfskraft, Verwiegers 1 und 2, Maschinisten 1, angelernten Handwerkers, Lampenwärters und Stellwerkswärters würden nicht von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet. Die Tätigkeiten eines Streckenreparaturarbeiters, Bandaufsehers, Wettermeßhelfers, Anschlägers 1 und 2, Verlade- und Versandarbeiters, Schrottplatzarbeiters, Gleisbauarbeiters und Oberfeuerwehrmannes könne der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht verrichten. Zwar sei der Kläger gesundheitlich nicht gehindert, von den Tätigkeiten eines Streckenreparaturarbeiters die Arbeiten beim Nachziehen von Verbindungs- und Ankerschrauben auszuführen. Gleichwohl könne der Kläger darauf nicht verwiesen werden, weil für eine Verweisung nur solche Tätigkeiten in Betracht kämen, bei denen der Versicherte alle vorkommenden Arbeiten ausführen könne. Deshalb komme auch die Tätigkeit eines Bandaufsehers nicht in Betracht, weil der Kläger sie nur an Bandanlagen in großräumigen Grubenbauen verrichten könne.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, der Kläger sei nicht vermindert bergmännisch berufsfähig. Zwar könne er auch auf die Tätigkeit eines Streckenreparaturarbeiters nicht verwiesen werden, weil sie nach der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Tätigkeit eines Hauers nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sei. Die Fähigkeit des Klägers, als Bandaufseher in großräumigen Grubenbauen zu arbeiten, genüge aber für eine Verweisung auf diese Tätigkeit. In Betracht komme insbesondere ein Einsatz als Bandaufseher in der Hauptförderstrecke.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Die Feststellungen des LSG lassen nicht erkennen, welche Hauertätigkeit der Kläger nach dem 1. Juni 1971 verrichtet hat. Diese Feststellung wäre nur dann entbehrlich, wenn der Kläger ohne Rücksicht auf die Art der von ihm verrichteten Hauertätigkeit vermindert bergmännisch berufsfähig wäre, wenn er also auch auf die Tätigkeit eines Bandaufsehers nicht verwiesen werden könnte. Aber zur Beantwortung dieser Frage reichen die festgestellten Tatsachen nicht aus.
Der erkennende Senat hat zu § 45 Abs 1 Nr 2 RKG bereits entschieden, daß trotz der fortbestehenden qualitativen Einheitlichkeit des Hauerberufs für die Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit zu unterscheiden ist, welcher der drei Lohngruppen 09, 10 oder 11 die nach dem 1. Juni 1971 verrichtete Hauertätigkeit zuzuordnen ist (vgl SozR 2600 Nr 13 zu § 45). Das muß auch für die Prüfung gelten, ob eine Verweisungstätigkeit der Hauertätigkeit iS des § 45 Abs 2 RKG im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist. Der Begriff der "bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit" ist in § 45 Abs 1 Nr 2 RKG kein anderer als in § 45 Abs 2 RKG. Auch der in beiden Vorschriften verwendete Begriff der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit läßt es nicht zu, bei § 45 Abs 2 RKG einen anderen Ausgangspunkt für den Wertvergleich zu nehmen als bei § 45 Abs 1 Nr 2 RKG. Der Umstand, daß bei § 45 Abs 2 im Gegensatz zu § 45 Abs 1 Nr 2 RKG genügt, daß die Vergleichstätigkeit "im wesentlichen" wirtschaftlich gleichwertig ist, hat nur Einfluß auf den Grad der erforderlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit, nicht aber auf den Ausgangspunkt dieser Wertprüfung. Geht man von der Tätigkeit eines Hauers nach der Lohngruppe 11 aus, so ist der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig. Ihm wesentlich wirtschaftlich gleichwertig wären nur noch die Tätigkeiten der Lohngruppen 10 und 09, weil die Lohndifferenz weniger als 12,5 vH beträgt. Dagegen sind die Tätigkeiten der Lohngruppen 08 und niedriger mit einer Lohndifferenz von wesentlich mehr als 12,5 vH nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig (vgl Urt. des erkennenden Senats vom 30. März 1977 - 5 RKn 13/76 -). Da der Kläger nach den unangegriffenen und damit für den Senat gem. § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG die Tätigkeiten der Lohngruppen 10 und 09 nicht mehr verrichten kann, wäre er vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er nach dem 1. Juni 1971 Hauer nach der Lohngruppe 11 gewesen wäre. Geht man dagegen mit der Beklagten von der Tätigkeit eines Hauers nach der Lohngruppe 10 aus, so ist die in der Lohngruppe 06 enthaltene Tätigkeit eines Streckenreparaturarbeiters zwar nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, weil die Lohndifferenz wesentlich mehr als 12,5 vH beträgt, was auch von der Beklagten nicht mehr bestritten wird, doch kommt die Tätigkeit eines Bandaufsehers nach der Lohngruppe 07 für eine Verweisung in Betracht, weil die Lohndifferenz seit dem 1. Juli 1972 unter 12,5 vH liegt. Da es sich hierbei auch um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt, kann der Kläger auf sie verwiesen werden, wenn er zu ihrer Ausübung gesundheitlich in der Lage ist. Das LSG hat jedoch unangegriffen und damit für den Senat bindend festgestellt, daß der Kläger die Tätigkeit eines Bandaufsehers lediglich in großräumigen Grubenbauen verrichten kann. Ob diese Einschränkung die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Bandaufsehers ausschließt, läßt sich nicht ohne weitere Tatsachenfeststellungen entscheiden.
Stellt eine in einem Tarifvertrag aufgeführte Tätigkeit, die durch diesen Tarifvertrag einheitlich behandelt, also nicht nach bestimmten Merkmalen unterteilt ist, je nach der Eigenart der jeweiligen Arbeitsplätze unterschiedliche Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit, so läßt sich die Frage nicht generell beantworten, ob die Verweisung auf diese Tätigkeit ausgeschlossen ist, wenn der Versicherte sie nicht an allen, sondern nur an bestimmten Arbeitsplätzen verrichten kann. Bietet sich nach den in dem Tarifbezirk vorherrschenden betrieblichen Verhältnissen die Unterteilung einer solchen Tätigkeit an, so kann eine Verweisung auf diese Tätigkeit auch dann erfolgen, wenn der Versicherte nur in einem betrieblichen Teilbereich diese Tätigkeit verrichten kann. Das kann nur dann nicht gelten, wenn dieser betriebliche Teilbereich nur so wenige Arbeitsplätze aufweist, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fallen. Die Annahme des LSG, eine Verweisung komme nicht in Betracht, wenn der Versicherte nicht auch an anderen Stellen als in großräumigen Grubenbauen als Bandaufseher arbeiten könne, ist daher rechtsirrig. Das LSG wird die hiernach noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Zwar besteht bei Vollzeitbeschäftigungen, die im Tarifvertrag erfaßt sind, grundsätzlich kein Anlaß, Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze zu treffen (vgl BSG in SozR Nr 108 zu § 1246 RVO; Urt. des erkennenden Senats vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 -), doch kann diese Zahl in der hier zu treffenden Entscheidung von Bedeutung sein.
Es besteht also Anlaß, die Frage zu prüfen, ob die dem Gesundheitszustand des Versicherten entsprechenden Arbeitsplätze in dem betreffenden Teilbereich nur in so geringer Zahl vorhanden sind, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fallen (vgl hierzu BSGE 5, 84, 86; SozR 2600 Nr 1 zu § 46).
Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen