Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragszuschlag. Ort der Tätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung des Wegeunfalls vom Arbeitsunfall im Beitragszuschlagsverfahren nach § 725 Abs 2 S 2 RVO (Fortführung von BSG vom 23.5.1973 - 8/2 RU 68/70 = SozR Nr 3 zu § 725 RVO).
Orientierungssatz
Der Weg zum Ort der Tätigkeit iS von § 550 RVO endet im allgemeinen mit dem Durchschreiten des Werkstores, während auf den innerhalb des Werksgeländes liegenden Wegen als Betriebswegen nach § 548 RVO Versicherungsschutz besteht.
Normenkette
RVO § 725 Abs 2 S 2, § 548 Abs 1 S 1, § 550 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 04.11.1987; Aktenzeichen L 3 U 1131/86) |
SG Kassel (Entscheidung vom 24.06.1986; Aktenzeichen S 3 U 120/84) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe der Beitragszuschläge gemäß § 725 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), insbesondere, ob die Beklagte die Unfälle der Versicherten S. M. (M.) und A. L. (L.) als Arbeitsunfälle berücksichtigen durfte, oder ob diese als Wegeunfälle (§ 550 RVO) außer Ansatz bleiben mußten (§ 725 Abs 2 Satz 2 RVO).
Die Klägerin betreibt ein Gummi- und Kunststoffwerk und ist Mitglied der Beklagten. Diese setzte im Beitragsbescheid vom 18. April 1984 für das Jahr 1983 zum Normalbeitrag von 227.497,75 DM einen Zuschlag von 9 % (=20.474,79 DM) fest. Dabei berücksichtigte sie die Unfälle der M. und L. Diese hatten sich auf dem Werksgelände der Klägerin ereignet, das allseitig umzäunt ist und nur durch eine überwachte Pforte betreten werden kann. L. war am 9. Oktober 1981 um 5.55 Uhr (Arbeitsbeginn 6.OO Uhr) auf dem Weg von der Pforte zu ihrem Arbeitsplatz in der Stanzerei vor dem Fahrradständer in ein Loch im betonierten Boden geraten und zog sich dabei einen Knöchelbruch zu. M. war am 3. Februar 1982 um 5.45 Uhr (Arbeitsbeginn 6.00 Uhr) auf dem Weg zwischen der Pforte und der Technischen Gummi-Abteilung auf Glatteis ausgerutscht und verletzte sich dabei den linken Fuß. Die Beklagte wertete diese Unfälle als Arbeitsunfälle iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO, weil sie sich auf dem Werksgelände ereignet hätten. Demgegenüber vertrat die Klägerin den Standpunkt, es habe sich um Wegeunfälle iS von § 550 Abs 1 RVO (... "auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit" ...) gehandelt, die im Zuschlagsverfahren außer Ansatz zu bleiben hätten, so daß lediglich ein Zuschlag von 5 % gerechtfertigt sei. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1984; Urteil des Sozialgerichts -SG- Kassel vom 24. Juni 1986).
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 4. November 1987 zurückgewiesen. In seinen Gründen hat es im wesentlichen ausgeführt, M. und L. seien am Ort der Tätigkeit unmittelbar vor Arbeitsaufnahme auf Betriebswegen verunglückt, so daß es sich um Arbeitsunfälle iS von § 548 Abs 1 Satz 1 RVO gehandelt habe. Dem stehe nicht entgegen, daß sich die Unfälle noch vor Aufnahme der eigentlichen Arbeit ereignet hätten. Ebensowenig sei der "Ort der Tätigkeit", mit dessen Erreichen der Wegeunfallschutz nach § 550 Abs 1 RVO ende und derjenige nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO beginne, nur der Ort der tatsächlich verrichteten Tätigkeit. Dies sei vielmehr - auch bei räumlich ausgedehnten Betrieben - das gesamte Betriebsgelände, jedenfalls dann, wenn der Unternehmensbereich - wie hier - nach außen hin eindeutig abgegrenzt sei. Demgemäß ende bzw beginne der Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit mit dem Durchschreiten des Fabriktores bzw der Außentür der Arbeitsstätte. Diese Auffassung entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Abgrenzung des häuslichen Bereichs und enthalte eine klare und der Rechtssicherheit dienende Grenze. Demgegenüber komme es für die Unterscheidung zwischen Unfällen auf Betriebswegen und Wegeunfällen nicht auf das Mitwirken betriebstypischer Gefahren an. Schließlich ergäben sich auch aus der Zielsetzung des § 725 Abs 2 RVO keine abweichenden Gesichtspunkte.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe § 550 RVO im Rahmen des § 725 Abs 2 Satz 2 RVO unrichtig angewandt, indem es entscheidend auf das Durchschreiten des Werkstores abgestellt habe. Die Abgrenzung zwischen Arbeits- und Wegeunfall dürfe nicht formal nach der Umzäunung des Werksgeländes vorgenommen werden. Vor Aufnahme der geschuldeten Arbeit sei ein Unfall - nach Durchschreiten des Werkstores - nur dann ein Arbeitsunfall, wenn er durch betriebsspezifische Ursachen herbeigeführt worden sei. Beruhe der Unfall dagegen auf einer Gefahrensituation, die im normalen Straßenverkehr alltäglich sei, handele es sich auch bei Unfällen auf dem Werksgelände um Wegeunfälle, jedenfalls dann, wenn sie sich vor Arbeitsaufnahme ereigneten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. November 1987, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 24. Juni 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. April 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Zuschlag ohne Berücksichtigung der Unfälle M. und L. zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie ist mit dem LSG der Ansicht, daß der Weg nach dem Ort der Tätigkeit iS von § 550 RVO mit dem Durchschreiten des Werkstores ende. Wege innerhalb des Betriebsgeländes seien deshalb nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO geschützte Betriebswege. Hiervon könnten die Betriebswege vor Aufnahme der eigentlichen Arbeit nicht ausgenommen werden, weil sie im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zurückgelegt würden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Mit zutreffender Begründung hat das LSG entschieden, daß die Beklagte die Unfälle der M. und L. als Arbeitsunfälle im Zuschlagsverfahren berücksichtigen durfte.
Nach § 725 Abs 2 Satz 1 RVO haben die Berufsgenossenschaften (den Unternehmen) unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Arbeitsunfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen. Wegeunfälle (§ 550) bleiben außer Ansatz (Satz 2). Die sonach für die Auferlegung eines Beitragszuschlages maßgebliche Frage, ob es sich um Wegeunfälle handelt, ist unabhängig davon zu prüfen und zu entscheiden, ob der Unfallversicherungsträger gegenüber den Verletzten den Unfallversicherungsschutz aufgrund des § 548, des § 549, des § 550 RVO oder einer sonstigen Anspruchsnorm bejaht hat (vgl BSG SozR Nr 3 zu § 725 RVO).
Im vorliegenden Fall sind die Verletzten M. und L. bei ihren Unfällen nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO geschützt gewesen, weil sie sich zum jeweiligen Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg am Ort der Tätigkeit befanden; ihre Wege nach dem Ort der Tätigkeit iS von § 550 Abs 1 RVO waren bereits beendet.
Wegeunfall iS von § 550 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Auf Wegen am Ort der Tätigkeit besteht dagegen - sofern der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist - Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Für die Entscheidung des vorliegenden Falles ist deshalb maßgeblich auf den Begriff des "Ortes der Tätigkeit" abzustellen. Wie das BSG bereits in früheren Entscheidungen ausgeführt hat, kann die Grenzziehung zwischen dem in § 550 Abs 1 Satz 1 RVO verwendeten Begriff des Ortes der Tätigkeit und dem Ende des Weges zu diesem Ort in manchen Fällen schwierig sein (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 550 RVO; Nr 3 zu § 725 RVO; SozR 2200 § 548 Nr 63). Es hat den Ort der Tätigkeit bislang nicht abschließend definiert. Allerdings hat das BSG zu der hier streitigen Frage in seinem Urteil vom 18. Dezember 1969 (SozR Nr 6 zu § 550 RVO) bereits entschieden, daß ein Arbeitsplatz, der sich außerhalb des eigentlichen Werksgeländes befindet, nicht zur Arbeitsstätte iS des § 543 RVO aF (= § 550 Abs 1 RVO nF) gehört. Im übrigen hat es die Frage offen gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen in Unternehmen mit ausgedehntem Betriebsgelände für Beschäftigte, deren Arbeitsplatz innerhalb des Geländes auf einen bestimmten, begrenzten Raum beschränkt ist, ein darüber hinausgehender, unter Umständen das gesamte Betriebsgelände umfassender Bereich als Arbeitsstätte in Betracht kommt. In einer späteren Entscheidung vom 23. Mai 1973 (SozR Nr 3 zu § 725 RVO) hat es das Abgrenzungsproblem präzisiert und ausgeführt, ein Arbeitsunfall auf einem Betriebsweg liege jedenfalls dann nicht vor, wenn sich der Unfall auf einem öffentlich zugänglichen, nicht umzäunten Betriebsgelände ereigne, deren Straßen durch amtliche Verkehrszeichen gekennzeichnet seien.
Damit hat das BSG bereits zu erkennen gegeben, daß unter dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO nicht lediglich der konkrete Arbeitsplatz, sondern in der Regel das gesamte Werksgelände zu verstehen ist. Hierfür spricht vor allem, daß das BSG die Annahme eines Arbeitsunfalles iS von § 548 RVO nur wegen der "besonderen Umstände" des zugrundeliegenden Sachverhalts verneint hat, nämlich wegen des Fehlens einer Umzäunung und eines Einfahrtstores und der damit verbundenen Zugänglichkeit für den öffentlichen Verkehr. Ist das Werksgelände dagegen - wie im vorliegenden Fall - eingezäunt und nur durch Werkstore zu betreten, so handelt es sich bei dem gesamten eingezäunten Betriebsgelände um den Ort der Tätigkeit.
Diese Auffassung wird zu Recht auch in der Literatur vertreten (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 485n mwN; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, RdNr 3.1 zu § 550; Gitter in SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar Anm 3 Buchst a zu § 550). Der Weg zum Ort der Tätigkeit endet daher im allgemeinen mit dem Durchschreiten des Werkstores, während auf den innerhalb des Werksgeländes liegenden Wegen als Betriebswegen nach § 548 RVO Versicherungsschutz besteht (vgl Brackmann aaO; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens aaO). Das Durchschreiten des Werkstores bzw der Außentür der Arbeitsstätte als maßgebliches Abgrenzungskriterium anzusehen, ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gerechtfertigt. Entsprechend der im Rahmen des § 550 RVO zum häuslichen Bereich ergangenen Rechtsprechung, die auf das Durchschreiten der Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes abstellt, ohne die unterschiedlichen Verhältnisse am Wohnort zu berücksichtigen (vgl BSGE 2, 239, 243; 11, 156; 22, 240, 242; 37, 36, 37; 42, 293, 294; BSG Urteil vom 30. November 1982 - 2 RU 33/81 -; Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 17/83 vom 17. Februar 1983), ist auch bezüglich des anderen End- bzw Ausgangspunktes der Wegstrecke eine einheitliche, der Rechtssicherheit dienende klare Begrenzung erforderlich. Der Revision ist zwar zuzugeben, daß die zum häuslichen Bereich ergangene Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf die hier vorliegende Problematik übertragbar ist, weil in jenen Fällen der Versicherungsschutz als solcher fraglich sein kann, während im Rahmen des § 725 Abs 2 Satz 2 RVO lediglich Wegeunfälle von anderen Arbeitsunfällen abzugrenzen sind. Andererseits würde man aber auch hier zu sehr unterschiedlichen - und sachlich nicht gerechtfertigten - Ergebnissen gelangen, wenn man von Fall zu Fall auf die speziellen örtlichen und baulichen Verhältnisse der jeweiligen Betriebsstätte abstellen wollte (zB Groß- oder Kleinbetrieb, lange oder kurze Wege im Betriebsgelände, Arbeitsplätze im Freien oder in geschlossenen Räumen). Hinzu kommt, daß die Wege vom Werkstor zum Arbeitsplatz mit der versicherten Tätigkeit in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang stehen, während die Wege zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit auch durch Gründe bestimmt werden, die dem unversicherten persönlichen Lebensbereich - insbesondere der Wahl und Lage der Wohnung - zuzurechnen sind (vgl BSGE 25, 93, 95; SozR 2200 §548 Nr 63).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der besonderen Zweckrichtung des § 725 Abs 2 RVO, die darin besteht, durch eine finanzielle Be- und Entlastung auf eine verstärkte Unfallverhütung durch die Unternehmer hinzuwirken (vgl BSG SozR 2200 § 725 Nr 10). Einerseits haften dem Werksgelände nämlich häufig betriebseigentümliche Gefahren an - zB durch Schienen, Rohrleitungen, Transportanlagen uä -, auf deren Ausmaß der Unternehmer Einfluß nehmen kann. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang einwendet, die betriebliche Zuordnung eines auf dem Weg vom Werkstor zum Arbeitsplatz erlittenen Unfalls sei jedenfalls dann ungerechtfertigt, wenn dieser - wie hier - auf einer dem normalen Straßenverkehr vergleichbaren Gefahrensituation beruhe, so verkennt sie andererseits, daß es unfallversicherungsrechtlich grundsätzlich bedeutungslos ist, ob Unfälle auf Betriebswegen aus den speziellen Gefahren eines Betriebes resultieren; auch Gefahren des täglichen Lebens schließen Arbeitsunfälle nicht aus (vgl Brackmann aaO S 480n II, o).
Schließlich führt auch der Umstand, daß sich die Unfälle vor der Arbeitsaufnahme ereigneten, zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Das BSG hat Verrichtungen, die der Aufnahme der Betriebstätigkeit - wie hier - unmittelbar vorausgingen, nämlich stets als versichert angesehen, wenn sie der Vorbereitung dieser Tätigkeit dienten und deshalb damit in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang standen (vgl BSG SozR Nr 20 zu § 548 RVO; SozR 2200 § 539 Nr 63; so auch Brackmann aaO S 481a). Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten; denn das Aufsuchen der Arbeitsstelle nur wenige Minuten vor Schichtbeginn war mit der versicherten Tätigkeit untrennbar verbunden.
Die Revision der Klägerin war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen