Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 1992 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob und in welcher Höhe die Klägerin für bei ihr beschäftigt gewesene dänische Arbeitnehmer Gesamtsozialversicherungsbeiträge zu zahlen hat.
Die Klägerin beschäftigte in ihrem Einzelhandelsbetrieb dänische Grenzgänger, die nach dem früheren deutsch-dänischen Sozialversicherungsabkommen nicht der deutschen Sozialversicherung unterlagen. Als nach dem Beitritt Dänemarks zur Europäischen Gemeinschaft am 1. April 1973 die EWG-Verordnung Nr. 1408/71 an die Stelle dieses zweiseitigen Abkommens trat, einigten sich die zuständigen Behörden beider Staaten darüber, daß auf die genannten Beschäftigten ab 1. Januar 1982 ausnahmslos die deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit anzuwenden seien. Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) unterrichtete die Klägerin hierüber und forderte sie mehrfach vergebens auf, ihre dänischen Beschäftigten bei ihr anzumelden und ihr die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Mit Bescheid vom 30. April 1985 und Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 1985 forderte sie von der Klägerin – im Wege der Schätzung – für die Jahre 1982, 1983 und 1984 Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 349.745,76 DM nebst Säumniszuschlägen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 20. August 1985 abgewiesen. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) haben die Beteiligten auf Vorschlag des Gerichts in der mündlichen Verhandlung am 20. Juni 1989 zur Beendigung des Rechtsstreits einen Vergleich geschlossen, wonach ua die Beklagte unter bestimmten, im einzelnen festgelegten Vorgaben einen Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die Jahre 1982, 1983 und 1984 neu zu errechnen hat und die Klägerin zur Zahlung des errechneten Betrages innerhalb eines Monats nach Empfang der Berechnung verpflichtet wird.
Mit einem am 28. August 1991 beim LSG eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin geltend gemacht, der genannte Vergleich sei nichtig, und die Fortführung des Verfahrens beantragt. In dem in der mündlichen Verhandlung am 9. Juni 1992 verkündeten Urteil hat das LSG festgestellt, der Rechtsstreit sei durch gerichtlichen Vergleich vom 20. Juni 1989 erledigt. Das von den Richtern unterschriebene Urteil ist am 18. März 1993 zur Geschäftsstelle gegeben und dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 24. März 1993 zugestellt worden.
Mit der Revision macht die Klägerin in erster Linie geltend, das Urteil des LSG enthalte keine Entscheidungsgründe, weil es weitaus später als binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sei. Im übrigen rügt sie eine Verletzung des § 28f des Sozialgesetzbuchs – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV), des § 226 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), des § 57 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) und des § 175 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG vom 9. Juni 1992 und das Urteil des SG vom 1. Dezember 1987 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. April 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Juli 1985 aufzuheben.
Die Beklagte und Beigeladenen stellen keinen Antrag und sehen von einer Stellungnahme ab.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung begründet. Denn das Urteil des LSG ist nicht mit Gründen versehen.
Nach § 134 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) soll ein bei der Verkündung noch nicht schriftlich niedergelegtes Urteil binnen drei Tagen nach der Verkündung in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben werden. § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 SGG), enthält die unwiderlegliche Vermutung, daß eine Entscheidung stets auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. Dann liegt ein unbedingter oder absoluter Revisionsgrund vor. Zwar ist ein solcher nicht schon dann anzunehmen, wenn die Drei-Tages-Frist des § 134 Satz 2 SGG überschritten ist. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat aber mit Beschluß vom 27. April 1993 (GmS-OGB 1/92 – ZIP 1993, 1341) einheitlich für alle Gerichtsbarkeiten entschieden, daß es einen absoluten Revisionsgrund darstellt, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe eines bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßten Urteils nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Auf eine diesbezügliche Rüge muß das Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden. Das gilt auch für Urteile, die bereits vor dem Beschluß des Gemeinsamen Senats verkündet waren. Denn auch der Gemeinsame Senat hat die von ihm entwickelten Grundsätze ohne Vorbehalt auf ein im Januar 1990 verkündetes Urteil angewandt. Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes stehen diesem Ergebnis nicht entgegen. Denn selbst wenn der Beschluß des Gemeinsamen Senats im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (≪BSG≫ SozR 3-1750 § 551 Nrn 2 und 3 mwN) wie eine Änderung des Prozeßrechts zu behandeln sein sollte, liegen die Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem Grundsatz der sofortigen Geltung von Prozeßrechtsänderungen nicht vor. Die Erwartung der Beteiligten, aufgrund des LSG-Urteils eine sachliche Klärung der streitigen Rechtsfrage durch das Revisionsgericht zu erreichen, ist nämlich keine verfahrensrechtliche Position, die in ihrer Schutzwürdigkeit materiell-rechtlichen Gewährleistungen vergleichbar ist (vgl BVerfGE 63, 343, 359; anders für die Zulässigkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels BVerfG NJW 1993, 1123).
Zwischen der Verkündung des Urteils des LSG am 9. Juni 1992 und der Übergabe des unterschriebenen Urteils an die Geschäftsstelle am 18. März 1993 liegen mehr als neun Monate. Die Überschreitung der Fünf-Monats-Frist ist von der Klägerin innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gerügt worden. Die Rechtsverletzung führt daher zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung, ohne daß der Senat die durch die Revision aufgeworfenen Rechtsfragen in der Sache zu prüfen hat. Auch für den Fall, daß der Rechtsstreit vom Revisionsgericht in der Sache entschieden werden könnte, ist eine Ausnahme vom Gebot der Zurückverweisung vom Gemeinsamen Senat nicht erwogen worden und auch nach der Rechtsprechung des BSG nicht zulässig; § 170 Abs 1 Satz 2 SGG gilt nicht bei absoluten Revisionsgründen (BSGE 63, 43, 45 = SozR 2200 § 368a Nr 21 mwN).
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen