Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachkunde. Sachverständiger
Orientierungssatz
1. Die Unterlassung der Zuziehung eines Sachverständigen begründet dann einen Verstoß gegen § 128 SGG, wenn die Gründe des angefochtenen Urteils nicht erkennen lassen, daß das Gericht über die zur Entscheidung der streitigen Fachfrage erforderliche Sachkunde verfügt.
2. Bei der Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und ihrer Tuberkuloseerkrankung handelt es sich nicht nur um die Anwendung des rechtlichen Ursachenbegriffs auf einen ermittelten Sachverhalt, sondern zugleich auch um die Feststellung des Ursachenzusammenhangs im naturwissenschaftlich-medizinischen Sinne. Insoweit gehört diese Frage somit der medizinischen Fachwissenschaft an und kann daher nur von einem ärztlichen Sachverständigen beantwortet werden.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 25.09.1956) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. September 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die im Jahre 1910 geborene Klägerin leidet an einer Lungentuberkulose (L-Tbc.). Sie begehrt die Anerkennung dieses Leidens als Berufskrankheit (BK.) mit der Begründung, daß es durch ihre berufliche Beschäftigung im Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld verursacht worden sei.
In diesen Krankenhaus war die Klägerin, die in der Krankenpflege seit 1930 arbeitet, als Schwester vom Roten Kreuz tätig, und zwar in der Zeit vom 18. bis 30. Juli 1945 als Pflegerin in einer Tbc.-Baracke und seitdem als Stationsschwester auf der Männerstation der chirurgischen Abteilung. Im März 1946 ergab eine Röntgendurchleuchtung der Klägerin noch keinen tuberkulösen Befund der Lunge; erst die 1948 und 1952 aufgenommenen Röntgenbilder zeigten tuberkulöse Veränderungen. Anfang November 1953 meldete sich die Klägerin mit Beschwerden in der linken Brustseite krank. Die Röntgenuntersuchungen ergaben eine progrediente, infiltrative, vorwiegend linksseitige L-Tbc. und Residuen einer rechtsseitigen Rippenfellentzündung. Vom 17. bis 29. Oktober 1953 hatte die Klägerin einen an unerkannter offener L-Tbc. kranken Patienten gepflegt. In dem von der Beklagten eingeholten, auf Grund der Akten und insbesondere der Röntgenaufnahmen erstatteten Gutachten der 2. Tuberkuloseklinik Köln-Merheim (Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. J... und Stationsarzt Dr. B...) wird das Vorliegen einer BK. verneint, weil die L-Tbc. der Klägerin durch ihre berufliche Beschäftigung im Krankenhaus weder entstanden noch verschlimmert worden sei. Auf Grund dieses Gutachtens, dem sich der zuständige Landesgewerbearzt anschloß, hat die Beklagte die Entschädigungsansprüche der Klägerin durch Bescheid vom 24. September 1954 mit der Begründung abgelehnt, daß die Tbc.-Erkrankung der Klägerin nicht mit ihrer Berufstätigkeit ursächlich zusammenhänge.
Mit ihrer Klage hiergegen hat die Klägerin unter Bezugnahme auf eine Bescheinigung des Chefarztes der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses Dr. H... geltend gemacht, sie habe bei ihrer Pflegetätigkeit auf der chirurgischen Abteilung laufend Tbc.-Kranke. zu betreuen gehabt, so daß sie dadurch in erhöhtem Maße der Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Das Sozialgericht (SG.) hat Dr. H... über die Tätigkeit der Klägerin im Krankenhaus als Zeugen vernommen; er hat im wesentlichen folgendes bekundet: Die Klägerin habe auf ihrer 42 Betten zählenden Station, auf der vorwiegend Schwer- und Schwerstkranke aufgenommen worden seien, einen sehr starken Krankendurchgang zu bewältigen gehabt. Unter diesen Kranken seien besonders in den ersten Jahren nach dem Kriegsende häufig solche mit offener L-Tbc. - in der chirurgischen Abteilung monatlich wenigstens einer - herausgefunden worden. Nach 1948 sei die Zahl dieser Fälle auf etwa drei bis fünf jährlich zurückgegangen. Außerdem habe die Klägerin mit einem an offener Tbc. leidenden Arzt, zuletzt als ihrem Oberarzt, ohne Wissen von dessen Krankheit zusammengearbeitet.
Das SG. hat die Klage durch Urteil vom 2. Februar 1956 abgewiesen. Es ist der Ansicht des Lungenfacharztes Dr. J... gefolgt und hat dem Umstand, daß in den ersten Jahren nach dem Kriegsende häufig Tbc.-Fälle auch auf der chirurgischen Abteilung vorgekommen seien, keine entscheidende Bedeutung beigemessen. Eine Infektion durch den tuberkulosekranken Oberarzt der chirurgischen Männerstation hält es für rechtlich unerheblich
Die Berufung der Klägerin hiergegen hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Beklagte verurteilt, die L-Tbc. der Klägerin als BK. zu entschädigen. Es hat entgegen der Auffassung des SG. auf Grund der Aussage des Zeugen Dr. H... angenommen, die Klägerin sei in wesentlich höherem Maße als sonstige Personen der Ansteckungsgefahr bei ihrer beruflichen Tätigkeit ausgesetzt gewesen und habe sich die L-Tbc. bei ihrer Pflegetätigkeit zugezogen. Die Revision ist nicht zugelassen.
Gegen dieses der Beklagten am 5. Oktober 1956 zugestellte Urteil hat sie am 23. Oktober 1956 Revision eingelegt und diese am 15. November 1956 begründet. Die Revision rügt, das LSG. habe die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten. Sie trägt vor: Das Berufungsgericht habe auf Grund einer insoweit lückenhaften Aussage des Zeugen Dr. H... angenommen, daß die Klägerin in den Jahren 1946 bis 1948 bei ihrer beruflichen Tätigkeit einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Außerdem habe es das Vorliegen einer zu entschädigenden BK. ohne die erforderliche Anhörung eines weiteren ärztlichen Sachverständigen bejaht. Die Zuziehung eines Sachverständigen sei deshalb besonders geboten gewesen, weil das LSG. im Gegensatz zur Auffassung des von der Beklagten eingeholten fachärztlichen Gutachtens nicht eine schicksalsmäßige schubweise Fortentwicklung einer früheren, in der Kindheit durchgemachten tuberkulösen Erkrankung (Rippenfellentzündung), sondern eine berufsbedingte Neuansteckung angenommen habe. Über dieses Gutachten habe sich das LSG. hinweggesetzt, ohne über die zur Beurteilung der medizinischen Zusammenhangsfrage erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen zu verfügen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfahrensweise für fehlerfrei; das LSG. habe sich seine Überzeugung in freier richterlicher Würdigung der erhobenen Beweise gebildet und die dafür maßgebenden Gründe in seiner Entscheidung erschöpfend dargelegt
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch statthaft (§ 162 Abs. 1 SGG). Die Beklagte hat ordnungsmäßig und zum Teil mit Erfolg das Vorliegen eines wesentlichen Mangels im Verfahren der Vorinstanz gerügt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 SGG; BSG. 1 S. 150).
Unbegründet ist die Rüge der Revision insoweit, als die Beklagte beanstandet, das LSG. habe unter Verletzung des § 128 SGG festgestellt, daß die Klägerin bei ihrer beruflichen Beschäftigung in den Jahren 1946 bis 1948 einer das normale Maß des täglichen Lebens übersteigenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen sei. Zu dieser Feststellung ist das LSG. gelangt, weil es auf Grund der Aussage des Zeugen Dr. H... angenommen hat, daß zur damaligen Zeit auch auf der von der Klägerin als Stationsschwester betreuten Männerstation im Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld häufig an offener Tbc. erkrankte Patienten aufgenommen worden seien. Hieraus hat das Berufungsgericht gefolgert, daß die Klägerin vor ihrer Tbc.-Erkrankung in erheblichem Umfange mit ansteckungsfähigen Patienten in Berührung gekommen sei. Damit hat es die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten. Allerdings trifft zu, daß der Zeuge Dr. H... keine Einzelheiten bekundet hat, wie die Namen und die genaue Zahl der auf der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses, insbesondere der Station der Klägerin aufgenommenen Kranken, die an zunächst unerkannter offener Tbc. litten. Dieser Umstand rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, daß das LSG. sein Recht auf freie Beweiswürdigung in ungesetzlicher Weise ausgeübt habe; denn Dr. H... hat die in den ersten Jahren nach dem Kriege infolge der damals noch ungeordneten Behandlungsverhältnisse im Krankenhaus bestehende erhöhte Ansteckungsgefahr für das Pflegepersonal immerhin so eingehend geschildert, daß das LSG. aus den Bekundungen dieses Zeugen ohne Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften auf eine damals auch für die Klägerin mit ihrer Pflegetätigkeit verbundene besondere Ansteckungsgefahr schließen durfte.
Dagegen rügt die Revision mit Recht, § 128 SGG sei dadurch verletzt worden, daß das LSG. unterlassen habe, ein weiteres fachärztliches Gutachten einzuholen. Das LSG. hatte die Frage zu beurteilen, ob die berufliche Gefährdung der Klägerin zu ihrer im Jahre 1948 röntgenologisch erstmals festgestellten Erkrankung an L-Tbc. geführt hat. Diese Frage hätte das Berufungsgericht nach Lage der Sache nicht entscheiden dürfen, ohne noch das Gutachten eines lungenfachärztlichen Sachverständigen einzuholen. Es steht zwar im pflichtmäßigen Ermessen des Gerichts, ob es einen Sachverständigen hören will. Davon kann es absehen, wenn es sich für genügend sachkundig hält und deshalb glaubt, die Hilfe eines Sachverständigen entbehren zu können. Die Unterlassung der Zuziehung eines Sachverständigen begründet jedoch dann einen Verstoß gegen § 128 SGG, wenn die Gründe des angefochtenen Urteils nicht erkennen lassen, daß das Gericht über die zur Entscheidung der streitigen Fachfrage erforderliche Sachkunde verfügte (Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 567, § 120 II 2a; Wieczorek, Zivilprozeßordnung, Band II Teil 1, S. 390 Anm. C III c 4 zu § 286; Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, Urteil v. 14.4.1954, ZPO § 286 [E] Nr. 6). Dieser Fall ist hier gegeben. Bei der von LSG. zu entscheidenden Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und ihrer Tbc.-Erkrankung handelt es sich nicht nur um die Anwendung des rechtlichen Ursachenbegriffs auf einen ermittelten Sachverhalt, sondern zugleich auch um die Feststellung des Ursachenzusammenhangs im naturwissenschaftlich -medizinischen Sinne. Insoweit gehört diese Frage somit der medizinischen Fachwissenschaft an. Ihre Beurteilung erfordert eine besondere Sachkenntnis und kann daher nur von einem ärztlichen Sachverständigen beantwortet werden, der eine solche Kenntnis auf dem Gebiete der Tbc.-Erkrankungen hat. Daß sich das LSG. die erforderliche Sachkunde für die Beurteilung der medizinischen Zusammenhangsfrage im vorliegenden Fall hätte zutrauen dürfen, ist in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht dargelegt. Dadurch, daß es gleichwohl über diese Frage ohne die Hilfe eines Sachverständigen entschieden hat, hat es die gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und somit § 128 Abs. 1 SGG verletzt. Der hierdurch begründete wesentliche Verfahrensmangel rechtfertigt die Statthaftigkeit der Revision. Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf der unrichtigen Anwendung des Verfahrensrechts (§§ 128, 153, 162 Abs. 2 SGG). Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG. zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es zur Beurteilung der medizinischen Zusammenhangsfrage nach dem von ihm festgestellten Sachverhalt einen ärztlichen Sachverständigen für Lungenkrankheiten herangezogen hätte.
Die Entscheidung hängt davon ab, ob sich die Klägerin die Tbc.-Erkrankung bei ihrer Schwesterntätigkeit in den ersten Jahren nach dem Krieg zugezogen hat. Diese Frage bedarf der erneuten tatsächlichen Klärung. Das Bundessozialgericht konnte daher nicht selbst in der Sache entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.
Die vom LSG. offen gelassene Frage, ob auch eine Gefährdung der Klägerin durch tuberkulosekranke Ärzte des Krankenhauses rechtlich bedeutsam sein würde, konnte im Revisionsverfahren aus prozessualen Gründen nicht entschieden werden (vgl. BGHZ. 3 S. 321 [326], 6 S. 76 [79]).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG. in seinem abschließenden Urteil zu entscheiden haben.
Fundstellen